Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (11. Kammer) - 11 B 51/21

Tenor

Der Antrag wird abgelehnt.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auf 5.000,00 € festgesetzt.

Gründe

I.

1

Der Antragsteller wendet sich gegen eine ihm drohende Abschiebung im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes.

2

Er ist ukrainischer Staatsangehöriger und reiste am 16.12.1995 erstmals in die Bundesrepublik Deutschland ein. Er erhielt am 02.10.1998 eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Im Sommer 1999 erlangte er seinen Hauptschulabschluss und begann eine Tischlerlehre, die er jedoch wegen einer Erkrankung an Hepatitis abbrach. Im Laufe seines Aufenthaltes im Bundesgebiet trat er wiederholt strafrechtlich in Erscheinung, insbesondere im Bereich der Betäubungsmittel- und Beschaffungskriminalität. Seit dem 27.11.2019 befindet er sich in Strafhaft.

3

Mit Ordnungsverfügung vom 03.03.2020 wies die Antragsgegnerin den Antragsteller aus der Bundesrepublik Deutschland aus (Ziffer 1) und erließ ein auf sieben Jahre befristetes Einreise- und Aufenthaltsverbot nach § 11 Abs. 2 Satz 1 AufenthG (Ziffer 2). Die Abschiebung in die Ukraine oder in einen anderen Staat, in den er einreisen darf oder der zu seiner Rückübernahme verpflichtet ist, wurde angedroht (Ziffer 3). Es wurde mitgeteilt, dass die Abschiebung direkt aus der Haft erfolgen wird und dass er, sofern er vor der Abschiebung entlassen werde, verpflichtet ist, das Bundesgebiet innerhalb von sieben Tagen zu verlassen (Ziffer 4). Für den Fall der Entlassung aus der Haft wurde der Aufenthalt nach Ablauf der Ausreisefrist räumlich auf den Bereich der Hansestadt Lübeck beschränkt (Ziffer 5). Zur Begründung verwies die Antragsgegnerin auf die wegen der strafrechtlichen Verurteilungen überwiegenden Ausweisungsinteressen. Dabei stellte sie insbesondere auf drei Verurteilungen ab, in denen der Antragsteller zu mehr als einem Jahr Freiheitsstrafe verurteilt worden war. In Folge der Ausweisung sei der Aufenthaltstitel erloschen und der Antragsteller zur Ausreise verpflichtet. Zudem sei eine Überwachung seiner Ausreise erforderlich, da er sich auf richterliche Anordnung in Haft befinde. Einer Fristsetzung bedürfe es nicht, da die Abschiebung aus der Haft heraus stattfinde. Die Abschiebung werde mindestens eine Woche vorher angekündigt. Die räumliche Beschränkung sei für den Fall der vorzeitigen Haftentlassung angeordnet und diene dem Zweck, dass der Antragsteller für sie erreichbar sei, damit sie Maßnahmen zur zwangsweisen Durchsetzung der Ausreisepflicht vollziehen könne.

4

Gegen diese Ordnungsverfügung legte der Antragsteller am 03.04.2020 Widerspruch ein, da seine Bleibeinteressen die Ausweisungsinteressen überwiegen würden.

5

Mit Widerspruchsbescheid vom 11.11.2020 wies die Antragsgegnerin den Widerspruch zurück. Zur Begründung stützte sie sich im Wesentlichen darauf, dass eine positive Prognose für den Antragsteller nicht gestellt werden könne. Über die Ausweisung hinaus bestünden keine Bedenken gegen die Ordnungsverfügung, solche seien auch nicht geltend gemacht.

6

Hiergegen erhob der Antragsteller am 17.12.2020 Klage (Az.: 11 A 272/20) und stellte einen Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz (Az.: 11 B 111/20). Der Antrag, gerichtet auf die Anordnung der aufschiebenden Wirkung bzgl. Ziffern 3-5 des Bescheides, wurde durch Beschluss der Kammer vom 25.03.2021 abgelehnt. Die hiergegen eingelegte Beschwerde (Az.: 4 MB 17/21) wurde vom Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom 04.05.2021 unanfechtbar zurückgewiesen. Die Klage ist im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch anhängig.

7

Am 09.04.2021 gab die Justizvollzugsanstalt eine neue Stellungnahme zur Sozial- und Legalprognose des Antragstellers ab. Der Antragsteller wolle nach seiner Haftentlassung zu seiner Mutter zurückkehren. Sein vorheriges Vorhaben, nach Berlin zu ziehen und dort eine Therapie zu absolvieren, verfolge er derzeit nicht mehr. Den letzten Kontakt zur Suchtberatung habe er am 28.08.2020 gehabt. Es lägen keine Anzeichen für eine wirtschaftliche oder soziale Integration vor. Es könne daher nicht ausgeschlossen werden, dass der Antragsteller erneut straffällig werde.

8

Mit Bescheid vom 15.04.2021 ordnete die Antragsgegnerin die sofortige Vollziehung der Ausweisung (Ziff. 1) der Ordnungsverfügung vom 03.03.2020 an. Dies begründete sie damit, dass die neue Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt die Wahrscheinlichkeit enorm erhöhe, dass der Antragsteller wieder straffällig werde. Er habe alle Absichten, die eine Veränderung in seinem Leben hätten bewirken können, aufgegeben. Ohne Therapie würde er seine Drogensucht nicht überwinden können. Er habe keine sozialen Kontakte und eine Rückkehr in sein altes Umfeld sei zu erwarten. Es sei daher mit Straftaten zur Finanzierung der Drogensucht und des Lebensunterhalts zu rechnen.

9

Am 10.06.2021 hat der Antragsteller um Eilrechtsschutz nachgesucht. Er begründet seinen Antrag im Wesentlichen damit, dass zwei der entscheidenden Verurteilungen im Hinblick auf das Ausweisungsinteresse bereits verbraucht seien, da sie bereits mehr als 12 Jahre und mehr als 8 Jahre zurücklägen. Auch bei der dritten Verurteilung sei er nicht zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt worden, sondern nur zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten. Der höhere Strafrahmen ergäbe sich aus einer Gesamtstrafenbildung mit einer vorherigen Verurteilung. Sein Bleibeinteresse überwiege das Ausweisungsinteresse, da seine ganze Familie in Deutschland lebe, keine Verbindungen in die Ukraine bestünden, er die Straftaten nur aufgrund seiner Abhängigkeit begangen habe und diese jetzt im Rahmen einer Therapie aufgearbeitet werden solle. Die Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt vom 09.04.2021 sei nicht geeignet, seine Therapiewilligkeit zu beurteilen. Wegen der Corona-Pandemie sei ein Kontakt zur Drogenberatung nicht möglich gewesen. Auch sei zu berücksichtigen, dass er viele Erkrankungen aufweise. Er habe Hepatitis, Leberfibrose und eine Tumorerkrankung.

10

Der Antragsteller beantragt,

11

die aufschiebende Wirkung der Klage vom 16.12.2020 anzuordnen.

12

Die Antragsgegnerin beantragt,

13

den Antrag abzulehnen.

14

Zur Begründung führt sie aus, der Antragsteller habe nur das vorgetragen, was er auch schon in seinem vorherigen Antrag (Az.: 11 B 111/20) und der Beschwerde (Az.: 4 MB 17/21) vorgetragen habe. Im Übrigen verweist sie auf ihr Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren.

15

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge verwiesen.

II.

16

Der Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes ist teilweise zulässig aber unbegründet.

17

Soweit sich der Antragsteller gegen die Ausweisungsverfügung in Ziff. 1 der Ordnungsverfügung vom 03.03.2020 wendet, ist der Antrag als Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO auszulegen (§§ 88, 122 Abs. 1 VwGO) und damit statthaft, da die zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung noch anhängige Klage in der Hauptsache gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO wegen der Anordnung der sofortigen Vollziehung vom 15.04.2021 keine aufschiebende Wirkung gegen die Ausweisungsverfügung hat.

18

Bezüglich der Ziff. 2 der Ordnungsverfügung vom 03.03.2020 ist ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO statthaft, da gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 AufenthG die aufschiebende Wirkung einer Klage gegen die Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 AufenthG entfällt. Entsprechendes gilt auch bezüglich des Einreise- und Aufenthaltsverbots selbst, da die Regelung des § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 AufenthG sonst leerlaufen würde (BeckOK AuslR/Maor AufenthG § 11 Rn. 69).

19

Soweit der Antragsteller die Anordnung der aufschiebenden Wirkung bezüglich der Ziffern 3 bis 5 der Ordnungsverfügung vom 03.03.2020 begehrt, ist der Antrag wegen entgegenstehender Rechtskraft gemäß § 121 VwGO unzulässig. Über den identischen Streitgegenstand ist bereits durch Beschluss vom 25.03.2021 (Az.: 11 B 111/20) entschieden worden und die Entscheidung ist seit dem 04.05.2021 auch rechtskräftig.

20

Allerdings ist der Antrag unbegründet. Die in der Anordnung der sofortigen Vollziehung vom 15.04.2021 enthaltene Begründung zur sofortigen Vollziehung genügt in formeller Hinsicht den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Hiernach ist in den Fällen der Anordnung der sofortigen Vollziehung im Sinne von § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO das besondere Interesse der Behörde an der sofortigen Vollziehung schriftlich zu begründen. Dem Erfordernis einer schriftlichen Begründung ist nicht bereits genügt, wenn überhaupt eine Begründung gegeben wird. Es bedarf vielmehr einer schlüssigen, konkreten und substantiierten Darlegung der wesentlichen Erwägungen, warum aus Sicht der Behörde gerade im vorliegenden Einzelfall ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung gegeben ist und das Interesse des Betroffenen am Bestehen der aufschiebenden Wirkung ausnahmsweise zurückzutreten hat (BVerwG, Beschluss vom 18. September 2001 – 1 DB 26.01 –, juris Rn. 6). Die zuständige Antragsgegnerin ist der gesetzlichen Verpflichtung, die Anordnung der sofortigen Vollziehung zu begründen, in ausreichendem Maße nachgekommen. Ihre Ausführung, weshalb eine sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse geboten ist, erschöpft sich nicht in formelhaften Ausführungen oder einem Verweis auf den Wortlaut des § 80 Abs. 3 VwGO. Ein hinreichender Einzelfallbezug sowie die Darlegung der Dringlichkeit sind gegeben, da in der Begründung konkret auf die erhöhte Gefahr der Begehung weiterer Straftaten durch den Antragsteller abgestellt wird.

21

Die in Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotene Interessenabwägung ist in erster Linie an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache auszurichten. Sie fällt regelmäßig zugunsten der Behörde aus, wenn der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig ist und ein besonderes Interesse an seiner sofortigen Vollziehung besteht oder der Sofortvollzug gesetzlich angeordnet ist. Dagegen ist dem Aussetzungsantrag stattzugeben, wenn der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist, da an der sofortigen Vollziehung eines solchen Verwaltungsakts kein öffentliches Interesse bestehen kann. Lässt die im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotene summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage eine abschließende Beurteilung der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts nicht zu, so hat das Gericht eine eigenständige, von den Erfolgsaussichten unabhängige Abwägung der widerstreitenden Interessen vorzunehmen (vgl. Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 02.03.2016 – 1 B 1375/15 –, juris Rn. 9; Oberverwaltungsgericht Schleswig, Beschluss vom 06.08.1991 – 4 M 109/91 –, SchlHA 1991, 220).

22

Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache ist die Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Eilentscheidung (vgl. Beschluss der Kammer vom 26.11.2019 – 11 B 129/19 –, juris Rn. 19; Schleswig-Holsteinisches Oberverwaltungsgericht, Beschlüsse vom 16.01.2020 – 4 MB 98/19 –, juris Rn. 10 und vom 03.07.2018 – 1 MB 7/18 –, n.v.; Schenke in: Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung, 25. Auflage 2019, § 80 Rn. 147, m.w.N.; a.A.: Schoch in: Schoch/Schneider, Verwaltungsgerichtsordnung: VwGO, Werkstand: 39. EL Juli 2020, § 80 Rn. 413 ff., m.w.N.). Da es sich bei der Entscheidung im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO um eine eigene Ermessensentscheidung des Gerichts handelt und nicht etwa um eine reine Rechtmäßigkeitskontrolle, ist maßgebend auf diesen Zeitpunkt abzustellen.

23

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist die Ausweisungsverfügung offensichtlich rechtmäßig. Gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer ausgewiesen, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die freiheitliche demokratische Grundordnung oder sonstige erhebliche Interessen der Bundesrepublik Deutschland gefährdet, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt.

24

Durch seine Straffälligkeit und die darauffolgenden Verurteilungen hat der Antragsteller den gesetzlich geregelten Fall eines besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresses gemäß § 54 Abs. 1 Nr. 1a lit. d AufenthG verwirklicht. Danach wiegt das Ausweisungsinteresse im Sinne vom § 53 Abs. 1 AufenthG besonders schwer, wenn der Ausländer rechtskräftig zu einer Freiheits- oder Jugendstrafe von mindestens einem Jahr wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten gegen das Eigentum verurteilt worden ist, sofern das Gesetz für die Straftat eine im Mindestmaß erhöhte Freiheitsstrafe vorsieht oder die Straftaten serienmäßig begangen wurden. Dabei bedarf es stets der Feststellung, dass die vom Ausländer ausgehende Gefahr im maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt fortbesteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 22. Februar 2017 – 1 C 3.16 –, juris Rn. 26). Dabei ist eine gerichtlich voll überprüfbare Prognose zu treffen. Bei der Prüfung, ob Wiederholungsgefahr besteht, ist maßgeblich abzustellen auf die Gesamtpersönlichkeit des Täters, das abgeurteilte Verhalten, Art und Ausmaß der möglichen Schäden und die Persönlichkeitsentwicklung nach der Straftat bis zum maßgeblichen Zeitpunkt (Neidhardt in: HTK-AuslR / § 53 AufenthG / Abs. 1 (Spezialprävention), Stand: 19.05.2019, Rn. 9). Eine Bindungswirkung der Feststellungen und Beurteilungen der Strafgerichte besteht nicht. Sie stellen bei der ausländerrechtlichen Prognose jedoch ein wesentliches Indiz dar, insbesondere Entscheidungen über die Aussetzung der Vollstreckung der Strafe zur Bewährung nach § 56 ff. StGB (BVerwG, Urteil vom 15. Januar 2013 – 1 C 10.12 –, juris Rn. 18).

25

Gemessen an diesen Maßstäben ist eine Wiederholungsgefahr vorliegend zu bejahen.

26

Die drei Verurteilungen, auf die der Bescheid vom 03.03.2020 Bezug nimmt, sind alle geeignet, ein besonders schweres Ausweisungsinteresse zu begründen.

27

Am 19.01.2009 wurde der Antragsteller durch das Amtsgericht A-Stadt wegen eines besonders schweren Falles des Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und drei Monaten verurteilt (Az.: 711 Js 25174/08 91 Ls 29/08). Mit Urteil vom 04.04.2013 hat das Amtsgericht A. den Antragsteller u.a. wegen schweren räuberischen Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und fünf Monaten verurteilt (Az.: 779 Js 4874/12 54 Ls 15/12). Soweit der Antragsteller die Meinung vertritt, dass die beiden Verurteilungen aufgrund der bereits verstrichenen Zeit von mehr als 12 Jahren bzw. mehr als acht Jahren im Hinblick auf das Ausweisungsinteresse verbraucht seien, folgt die Kammer dieser Auffassung nicht. Grundsätzlich kann zwar der „Verbrauch“ eines Ausweisungsgrundes eintreten, wenn ein Tatbestand durch die Behörde geschaffen wird, aufgrund dessen der Ausländer erwarten kann, dass ihm das Verbleiben im Bundesgebiet erlaubt wird. Das kann etwa der Fall sein, wenn die Ausländerbehörde dem Betroffenen in voller Kenntnis vom Vorliegen der Voraussetzungen für eine Ausweisung den weiteren Aufenthalt im Wege der vorbehaltlosen Erteilung bzw. Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis ermöglicht (Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 19. Januar 2017 – 18 A 2540/16 –, juris Rn. 4). Ein solcher Fall ist hier jedoch nicht gegeben. Die Antragsgegnerin hat nie einen Vertrauenstatbestand geschaffen, den sie durch die Ausweisungsverfügung verletzt haben könnte. Die unbefristete Aufenthaltserlaubnis des Antragstellers wurde ihm bereits am 02.10.1998 erteilt. Die Antragsgegnerin verwarnte den Antragsteller am 19.08.2005 ausdrücklich und wies ihn darauf hin, dass er bei weiterer Straffälligkeit aus dem Bundesgebiet ausgewiesen werden würde. Zwar erfolgte eine Ausweisung letztendlich erst durch Ordnungsverfügung vom 03.03.2020, es liegen jedoch keine weiteren Umstände vor, die darauf schließen lassen, dass die Antragsgegnerin das Verhalten des Antragstellers toleriert hätte. Zwar sind bei der gerichtlich einzuschätzenden Zukunftsprognose Verurteilungen, die bereits länger in der Vergangenheit liegen, möglicherweise weniger aussagekräftig als aktuelle Verurteilungen. Vollständig verbraucht sind sie jedoch nicht, da auch aus vergangenem Verhalten, insbesondere bei wiederholten und fortgesetzten Tatbegehungen, ein Schluss auf zukünftige Verhaltensmuster gezogen werden kann.

28

Außerdem hat das Amtsgericht A-Stadt den Antragsteller am 16.04.2019 wegen eines besonders schweren Falles des Diebstahls zu einer Freiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten verurteilt (Az.: 68 Ds 711 Js 24871/18 (301/18)). Der Kläger macht in Bezug auf diese Verurteilung geltend, dass er in diesem Urteil nur zu einer Freiheitsstrafe von sieben Monaten verurteilt worden sei, sich der höhere Strafrahmen aus einer nachträglichen Gesamtstrafenbildung ergebe. Hierbei gilt der Grundsatz, dass das Mindestmaß von einem Jahr Freiheits- oder Jugendstrafe wegen mehrerer vorsätzlicher Taten auch durch eine nachträgliche Bildung der Gesamtstrafe erreicht werden kann. Voraussetzung ist aber stets, dass die Teilstrafen sich auf Taten beziehen, die von § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG erfasst werden (vgl. VG München, Urteil vom 25. Oktober 2018 – M 12 K 18.36 –, juris Rn. 57; Zeitler in: HTK-AuslR / § 54 AufenthG / Abs. 1 Nr. 1a, Stand: 16.01.2020, Rn. 10). Die einbezogene Strafe aus dem Urteil des Amtsgerichts A-Stadt vom 01.06.2018 in Höhe von vier Monaten Freiheitsstrafe bezieht sich auf eine Tat, die als Diebstahl mit Waffen gemäß § 244 Abs. 1 Nr. 1a StGB bestraft wurde. Damit wurde eine Tat einbezogen, die den Tatbestand des § 54 Abs. 1 Nr.1a lit. d) AufenthG erfüllt. Die Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und zwei Monaten ist somit entgegen der Auffassung des Antragstellers im Rahmen des § 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG zu berücksichtigen.

29

Die Wiederholungsgefahr ergibt sich insbesondere aus dem Vorleben des Antragstellers. Das Amtsgericht A-Stadt führte insofern in seinem Urteil vom 16.04.2019 im Rahmen der Frage der Strafaussetzung zur Bewährung aus, dass nicht zu erwarten sei, dass der Antragsteller sich die Verurteilung zur Warnung dienen lässt und auch künftig keine Straftaten mehr begehen wird. Den Antragsteller würden Diebstahlstaten aufgrund seiner Betäubungsmittelabhängigkeit bereits seit vielen Jahren begleiten. Die Freiheitsstrafen, die bereits in der Vergangenheit vollstreckt worden sind, hätten an dem strafrechtlichen Vorleben des Antragstellers, sowie an der Frequenz der verübten Straftaten nichts geändert. Darüber hinaus sei nicht absehbar, dass der Antragsteller Herr seiner Betäubungsmittelabhängigkeit werden wird, da er bereits eine hohe Anzahl an Entgiftungen versucht habe, die aber alle keine mittel- oder langfristigen Erfolge zu verzeichnen gehabt hätten. Diese Erwägungen des Amtsgericht A-Stadt stellen ein wesentliches Indiz für die Bewertung der Zukunftsprognose dar, da sie sich auf den letzten Stand beziehen, zu dem der Antragsteller noch nicht in Haft war. Zusätzlich gibt die Justizvollzugsanstalt in ihrer Stellungnahme vom 09.04.2021 zu bedenken, dass der Antragsteller seine Pläne, nach Haftentlassung nach Berlin zu ziehen und dort eine Therapie zu absolvieren, aufgegeben habe. Stattdessen habe er noch keine Pläne für den Zeitraum nach seiner Haftentlassung und wolle sich spontan etwas einfallen lassen. Diese Stellungnahme ist auch hinreichend aktuell, so dass sie als Hilfsmittel der Zukunftsprognose herangezogen werden kann. Soweit der Antragsteller vorträgt, dass er aufgrund der Corona-Pandemie keine Möglichkeit gehabt hätte, die Drogenberatung zu kontaktieren, kann dieses Vorbringen die Kammer nicht überzeugen. Aus der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt ergibt sich, dass der Antragsteller zuletzt am 28.08.2020 Kontakt zur Suchtberatung gehabt habe. Zu diesem Zeitpunkt war die Corona-Pandemie bereits im vollem Gange und es erscheint nicht glaubhaft, dass ein Kontakt seitdem nicht mehr möglich gewesen sei. Daher wird bezweifelt, dass der Antragsteller derzeit ernsthaft auf der Suche nach einem Therapieplatz ist. Vor dem Hintergrund seiner Betäubungsmittelabhängigkeit erscheint ein Rückfall in vorherige Verhaltensweisen daher wahrscheinlich. Dass der Antragsteller aufgrund gesundheitlicher Probleme keiner Erwerbstätigkeit nachgehen kann, steigert nur noch die Gefahr, dass er wieder rückfällig wird. Dies führt nämlich dazu, dass der Antragsteller über kein Einkommen verfügt, das seine Drogensucht finanziell decken könnte.

30

Weiterhin besteht ein schweres Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 1 AufenthG. Hiernach wiegt das Ausweisungsinteresse schwer, wenn der Ausländer wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten verurteilt worden ist. Der Antragsteller wurde am 04.08.2004, 29.06.2005 und am 16.04.2019 jeweils vom Amtsgericht A-Stadt zu einer Freiheitsstrafe von über sechs Monaten verurteilt. Auch diese Verurteilungen begründen aus den vorangehenden Gründen eine Wiederholungsgefahr.

31

Außerdem liegt ein schweres Ausweisungsinteresse gemäß § 54 Abs. 2 Nr. 4 AufenthG vor. Dieses ist gegeben, wenn der Ausländer Heroin, Kokain oder ein vergleichbar gefährliches Betäubungsmittel verbraucht und nicht zu einer erforderlichen seiner Rehabilitation dienenden Behandlung bereit ist oder sich ihr entzieht. Der Antragsteller leidet unter einer langjährigen Heroinabhängigkeit und brach im Zusammenhang mit einer stationären Behandlungsmaßnahme in der xy-Klink M. die Behandlung ab. Ob er derzeit zu einer entsprechenden Behandlung bereit ist, wird bezweifelt (s.o.).

32

Zuletzt ist auch ein schweres Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 2 Nr. 9 AufenthG gegeben. Danach wiegt das Ausweisungsinteresse schwer, wenn der Ausländer einen nicht nur vereinzelten oder geringfügigen Verstoß gegen Rechtsvorschriften begangen hat. Vorsätzliche Straftaten sind in der Regel nicht als geringfügig anzusehen (BeckOK AuslR/Fleuß AufenthG § 54 Rn. 325). Die Antragsgegnerin stellt hier zu Recht auf weitere Verurteilungen ab, die mit weniger als sechs Monaten Freiheitsstrafe bestraft wurden. Die Erwägungen aus dem Bescheid vom 03.03.2020 sind nicht zu beanstanden und werden auch vom Antragsteller nicht angegriffen.

33

Es liegt ein besonders schweres Bleibeinteresse gemäß § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vor. Danach wiegt das Bleibeinteresse besonders schwer, wenn der Ausländer eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufgehalten hat. Die dem Antragsteller am 02.10.1998 erteilte unbefristete Aufenthaltserlaubnis gilt gemäß § 101 Abs. 1 Satz 2 AufenthG als Niederlassungserlaubnis fort. Da er sich weiterhin seit mehr als fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, ist der Tatbestand erfüllt. Andere normierte besondere Bleibeinteressen gemäß § 55 AufenthG sind nicht ersichtlich. Bei der Abwägung nach § 53 Abs. 1 AufenthG sind auch die persönlichen Bindungen des Antragstellers im Bundesgebiet zu berücksichtigen, § 53 Abs. 2 AufenthG. Die gesamte Familie des Antragstellers lebt seinen eigenen Angaben nach in Deutschland. Dazu würden seine Mutter, sein Bruder und seine Verlobte zählen. Von seiner Mutter hat der Antragsteller bereits in der Vergangenheit mehrere Jahre lang weit entfernt gewohnt. Darüber hinaus ist eine besondere Beziehung zu seiner Mutter oder seinem Bruder nicht ersichtlich. Dennoch sind die Bindungen des Antragstellers, insbesondere auch zu seiner Verlobten zu berücksichtigen. Außerdem sind bei der Abwägung auch die Bindungen des Antragstellers zu seinem Herkunftsland einzubeziehen, § 53 Abs. 2 AufenthG. Dazu trägt der Antragsteller vor, dass er keinerlei Bindungen in die Ukraine habe. Er sei das letzte Mal im Mai 2012 in der Ukraine gewesen.

34

Unter Einbeziehung des Ausweisungsinteresses, des Bleibeinteresses und der Bindungen des Antragstellers in die Bundesrepublik Deutschland sowie in die Ukraine überwiegt das Ausweisungsinteresse bei einer vorzunehmenden Abwägung gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG. Zwar wiegt das Bleibeinteresse des Antragstellers aufgrund seines langjährigen rechtmäßigen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland besonders schwer. Auch eine Trennung von seiner Familie in Deutschland sowie von seiner Verlobten ist zu berücksichtigen. Dennoch ist das Ausweisungsinteresse im Fall des Antragstellers derart groß, dass die vorgenannten Interessen des Antragstellers deutlich überwogen werden. Der Antragsteller ist derartig häufig strafrechtlich in Erscheinung getreten, dass die öffentliche Sicherheit und Ordnung der Bundesrepublik Deutschland erheblich gefährdet sind. Die Auskunft aus dem Bundeszentralregister vom 06.08.2019 weist 13 Eintragungen aus, wobei die letzte Verurteilung aus dem Jahre 2019 noch nicht aufgeführt ist. Dabei ist deutlich zu erkennen, dass die verübten Straftaten mit den Jahren an Intensität zugenommen haben. Während die ersten Verurteilungen noch wegen einfacher Diebstähle festgestellt wurden, wurde der Antragsteller ab 2018 jeweils wegen Diebstahls mit Waffen oder besonderes schweren Diebstahls verurteilt. Es blieb auch nicht bei Bagatellstraftaten, da er in drei Urteilen mit über einem Jahr Freiheitsstrafe bestraft wurde. Soweit der Antragsteller eine Besserung in Aussicht stellt, kann er die entscheidende Kammer damit nicht überzeugen. Zwar sind die verübten Straftaten der Beschaffungskriminalität zuzuordnen und dienen in erster Linie dazu, die Betäubungsmittelabhängigkeit des Antragstellers zu finanzieren. Da der Antragsteller jedoch keine ernsthaften Bemühungen anstrengt, um sich von seiner Abhängigkeit zu befreien, ist auch in der Zukunft nach Haftentlassung mit weiteren Straftaten zu rechnen. Dahinter muss das Bleibeinteresse des Antragstellers zurücktreten. Eine Niederlassungserlaubnis berechtigt nicht zum Begehen von Straftaten. Da der Antragsteller erst mit 13 Jahren in die Bundesrepublik Deutschland gekommen ist, ist davon auszugehen, dass er die ukrainische Sprache beherrscht und sich in der Ukraine zurechtfinden wird. Möglicherweise gelingt es dem Antragsteller sogar, in der Ukraine einen Neuanfang zu bestreiten, der ihn aus den gewohnten Strukturen in geordnete Lebensverhältnisse bringt.

35

Ferner besteht ein besonderes Vollziehungsinteresse der Antragsgegnerin gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO. Für die Anordnung der sofortigen Vollziehung müssen besondere Gründe dafür sprechen, dass der Verwaltungsakt sofort und nicht erst nach Eintritt der Bestands- und Rechtskraft verwirklicht, umgesetzt oder vollzogen wird. Der Rechtsschutzanspruch des Bürgers ist dabei umso stärker und darf umso weniger zurückstehen, je schwerwiegender die ihm auferlegte Belastung ist und je mehr die Maßnahmen der Verwaltung Unabänderliches bewirken (BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. September 1995 – 2 BvR 1179/95 –, juris Rn. 42). Die Ausweisung ist in jedem Falle eine sehr schwerwiegende Maßnahme, die tief in die Rechte des Betroffenen eingreift. Die Antragsgegnerin befürchtet aufgrund der Stellungnahme der Justizvollzugsanstalt vom 09.04.2021, dass der Antragsteller nach seiner Haftentlassung weitere Straftaten verüben wird. Da der Antragsteller weiterhin betäubungsmittelabhängig ist und er keine ernsthaften Bemühungen anstellt, einer Therapie nachzugehen, ist die Prognose der Antragsgegnerin nachvollziehbar. Um weitere Straftaten in der Zeit zwischen seiner Haftentlassung und einer gerichtlichen Entscheidung über die Rechtmäßigkeit der Ordnungsverfügung vom 03.03.2020 vorzubeugen, konnte die Antragsgegnerin die sofortige Vollziehung anordnen. Das besondere Vollziehungsinteresse ergibt sich aus der Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung, die von dem Antragsteller ausgeht. Ermessensfehler sind daher nicht ersichtlich.

36

Das Einreise- und Aufenthaltsverbot aus Ziff. 2 des Bescheides vom 03.03.2020 ist offensichtlich rechtmäßig. Rechtsgrundlage für das Verbot ist § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Danach ist gegen einen Ausländer, der ausgewiesen worden ist, ein Einreise- und Aufenthaltsverbot zu erlassen. Da die Ausweisungsverfügung rechtswirksam ist, steht es nicht im Ermessen der Antragsgegnerin das Einreise- und Aufenthaltsverbot zu verfügen. Es handelt sich vielmehr um eine gebundene Entscheidung, die nicht durch das Gericht zu beanstanden ist.

37

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über den Streitwert ergibt sich aus §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG.


Verwandte Urteile

Keine verwandten Inhalte vorhanden.

Referenzen