Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (11. Kammer) - 11 B 62/21

Tenor

Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers im Verfahren 11 A 209/21 gegen Ziffer 1 des Bescheides vom 03.06.2021 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16.06.2021 wird angeordnet.

Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsgegner.

Der Streitwert wird auf 5.000,- € festgesetzt.

Gründe

I.

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Der Antragsteller ist afghanischer Staatsangehöriger und reiste im März 2015 erstmalig in das Bundesgebiet ein. Der von ihm gestellte Asylantrag wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 02.06.2017 abgelehnt. Der Antragsteller wurde zur Ausreise aufgefordert, ihm wurde die Abschiebung nach Afghanistan angedroht. Der Antragsteller erhob Klage (14 A 620/17), die mit Urteil vom 30.04.2019 abgewiesen wurde. Der Antragsteller erhielt in der Folgezeit eine Duldung, da er nicht über einen Pass verfügt. Er wurde wiederholt aufgefordert, eine Tazkira (afghanischer Staatsbürgerschaftsnachweis) und einen Pass zu beantragen. Nachweise über Bemühungen des Antragstellers, diese Unterlagen zu beschaffen, wurden zunächst nicht vorgelegt.

2

Mit Bescheid vom 03.06.2021 erging u.a. die Verpflichtung zur ausschließlichen Wohnsitznahme in der Ausreiseeinrichtung für vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer (Landesunterkunft) in Boostedt ab dem 14.06.2021 (Ziffer 1 des Bescheides). In der Begründung hieß es u.a., der Antragsteller habe einen Nachweis von Bemühungen zur Beschaffung von Passersatzpapieren nicht vorgelegt. Es seien keinerlei Bemühungen zur Passersatzpapierbeschaffung zu erkennen.

3

Der Antragsteller legte am 10.06.2021 Widerspruch ein, der mit Widerspruchsbescheid vom 16.06.2021 zurückgewiesen wurde. Trotz regelmäßiger Aufforderung, an der Beschaffung von Passersatzpapieren mitzuwirken, habe der Antragsteller erstmals mit der Widerspruchsbegründung vorgetragen, eigene Anstrengungen unternommen zu haben. Das Land Schleswig-Holstein habe in der Landesunterkunft Fachwissen zur Rückkehrberatung und Passersatzbeschaffung an einem Ort gebündelt. Es sei damit zu rechnen, dass eine Beschaffung von dort aus einfacher und schneller erfolgen könne.

4

Der Antragsteller hat am 01.07.2021 Klage erhoben (11 A 209/21) und einen Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes gestellt. Zur Begründung trägt er u.a. vor, es sei falsch, dass er sich nicht um Passersatzpapiere bemüht habe. Er habe wiederholt online eine Tazkira beantragt, jedoch keine Antwort erhalten. Für die Wohnsitzauflage in der Landesunterkunft müsse die Ausreise in absehbarer Zeit realisierbar sein. Seines Wissens würden in Schleswig-Holstein lediglich Identitätsverweigerer, Straftäter und Gefährder nach Afghanistan abgeschoben. Er gehöre zu keiner der genannten Gruppen. Daher gehe er nicht davon aus, dass eine Abschiebung nach Afghanistan in absehbarer Zeit tatsächlich möglich sei. Der Antragsteller legt im weiteren Verfahren eine Bestätigung der Botschaft Afghanistans in Berlin vom 05.07.2021 vor, in welcher bestätigt wird, dass der Antragsteller eine Tazkira beantragt hat, die Voraussetzung für die Ausstellung eines afghanischen Reisepasses sei. Die Beschaffung einer Tazkira aus Afghanistan und schließlich die Ausstellung eines afghanischen Reisepasses könne unter den gegebenen Umständen acht oder mehr Monate dauern.

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Der Antragsteller beantragt,

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die aufschiebende Wirkung seiner Klage festzustellen

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und ihm Prozesskostenhilfe zu gewähren.

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Der Antragsgegner beantragt,

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den Antrag abzulehnen.

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Zur Begründung trägt der Antragsgegner u.a. vor, dass mit der Verpflichtung zur Wohnsitznahme in der Landesunterkunft die freiwilligen Ausreisemöglichkeiten mit dem Antragsteller geklärt werden sollten. Für eine freiwillige Ausreise würde ein Transitpass für eine Rückkehr von der Botschaft Afghanistans kurzfristig ausgestellt werden können. Damit werde deutlich, dass die Aufforderung zur Wohnsitznahme in Boostedt berechtigt sei. Die Unterbringung in einer zentralen Gemeinschaftsunterkunft ermögliche eine intensive, auf eine Lebensperspektive außerhalb des Bundesgebiets gerichtete psychosoziale Betreuung. Sie stelle gegenüber der Abschiebungshaft ein milderes Mittel dar. Die intensive Betreuung solle zur Förderung der Bereitschaft zur freiwilligen Ausreise oder zur notwendigen Mitwirkung bei der Beschaffung von Heimreisedokumenten beitragen.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Parteien wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

II.

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Das Gericht versteht den Antrag des Antragstellers unter Berücksichtigung der Begründung

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dahingehend, dass Streitgegenstand hier nur die Ziffer 1 des angefochtenen Bescheids des Antragsgegners vom 03.06.2021 sein soll, die zulasten des Antragstellers eine Wohnsitzverpflichtung in der Landesunterkunft für ausreisepflichtige Ausländer (LukA) verfügt. Dass Gegenstand dieses Eilverfahrens auch die weiteren Verfügungspunkte in dem angefochtenen Bescheid sein sollen (Meldeauflage, Untersagung Erwerbstätigkeit, Zwangsmittelandrohung) ergibt sich aus dem nach §§ 122 Abs. 1, 88 VwGO auslegungsfähigen Begehren des Antragstellers nicht.

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Der so verstandene Antrag ist zulässig und begründet.

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Der Antrag ist hinsichtlich der verfügten Anordnung, den Wohnsitz in der Ausreiseeinrichtung für vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer zu nehmen (Ziffer 1 des Bescheids), nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO statthaft als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Denn gemäß § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG haben Widerspruch und Klage gegen die Auflage nach § 61 Abs. 1e AufenthG, in einer Ausreiseeinrichtung Wohnung zu nehmen, keine aufschiebende Wirkung.

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Der Antrag ist auch begründet.

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Die Entscheidung über einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ergeht aufgrund einer Interessenabwägung. In diese Abwägung ist die Erfolgsaussicht des eingelegten Rechtsbehelfs dann maßgeblich einzubeziehen, wenn sie in der einen oder anderen Richtung offensichtlich ist. An der Vollziehung eines offensichtlich rechtswidrigen Bescheides besteht kein öffentliches Interesse. Ist der Bescheid hingegen offensichtlich rechtmäßig, ist ein Aussetzungsantrag in den Fällen des gesetzlich angeordneten Sofortvollzugs regelmäßig abzulehnen – eine Abwägungsentscheidung ist insoweit regelmäßig durch den Gesetzgeber bereits getroffen worden.

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Gemessen daran überwiegt das private Aussetzungsinteresse das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung, da die streitgegenständliche Anordnung zur Wohnsitznahme des Antragsgegners als offensichtlich rechtswidrig anzusehen ist und den Antragsteller in seinen Rechten verletzt.

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Rechtsgrundlage für die Anordnung, in der Ausreiseeinrichtung für vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer Wohnung zu nehmen, ist § 61 Abs. 1e AufenthG. Nach dieser Vorschrift können über die gesetzlich angeordnete räumliche Beschränkung eines vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländers nach § 61 Abs. 1 Satz 1 AufenthG hinaus weitere Bedingungen und Auflagen angeordnet werden (vgl. auch zur gleichlautenden Vorgängerregelung § 61 Abs. 1 Satz 2 AufenthG a.F., BT-Drucks. 15/420, S. 92). Insbesondere ergibt sich die Möglichkeit einer solchen Anordnung auch aus § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG.

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Hat das Land – wie hier, durch die Errichtung der Ausreiseeinrichtung in Boostedt – von der entsprechenden Ermächtigung gemäß § 61 Abs. 2 Satz 1 AufenthG Gebrauch gemacht, steht der Erlass einer Auflage gegenüber einem vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländer, dort Wohnung zu nehmen, im pflichtgemäßen Ermessen der Behörde.

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Im Rahmen der Ermessensausübung sind die in § 61 Abs. 2 Satz 2 AufenthG normierten Zwecke zu berücksichtigen. Danach soll in den Ausreiseeinrichtungen durch Betreuung und Beratung die Bereitschaft zur freiwilligen Ausreise gefördert und die Erreichbarkeit für Behörden und Gerichte sowie die Durchführung der Ausreise gesichert werden. Nach der Gesetzesbegründung zu § 61 Abs. 1 Satz 2 a.F. ermöglicht die Unterbringung in einer solchen Einrichtung eine intensivere, auf eine Lebensperspektive außerhalb des Bundesgebiets gerichtete psycho-soziale Betreuung. Sie stellt gegenüber der Abschiebehaft ein milderes Mittel dar. Die intensive Betreuung soll zur Förderung der Bereitschaft zur freiwilligen Ausreise oder zur notwendigen Mitwirkung bei der Beschaffung von Heimreisedokumenten beitragen. Darüber hinaus ist die gezielte Beratung über die bestehenden Programme zur Förderung der freiwilligen Rückkehr möglich (BT-Drucks. 15/420, S. 92).

22

Ausweislich des Erlasses des Ministeriums für Inneres, ländliche Räume und Integration vom 29.12.2016 „Unterbringung von vollziehbar Ausreisepflichtigen in der Landesunterkunft für Ausreisepflichtige“ müssen die aufzunehmenden Personen vollziehbar ausreisepflichtig sein (§ 58 Abs. 1 und 2 AufenthG) und dem Grunde nach Anspruch auf Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz haben. Des Weiteren muss die Durchsetzbarkeit der Ausreisepflicht der aufzunehmenden Personen in absehbarer Zeit realisierbar sein. Dies ist der Fall, wenn das Landesamt für Ausländerangelegenheiten prognostiziert, dass Maßnahmen zur Ausreisevorbereitung umgehend eingeleitet werden können. Nicht aufgenommen werden Personen aus Staaten, in die nicht oder nicht in absehbarer Zeit zurückgeführt werden kann sowie Personen, bei denen aus gesundheitlichen Gründen eine Unterbringung in der Landesunterkunft für Ausreisepflichtige nicht möglich ist.

23

Es muss demnach ein sinnvoller Bezug zu den Verfahrenszwecken vorliegen, eine Auflage, die vorrangig Sanktionscharakter hat, ist unzulässig (OVG Magdeburg, Beschl. vom 11.03.2013 – 2 M 168/12 –, Rn. 6, juris; ebenso OVG Schleswig, Beschluss vom 21.12. 2017 – 4 MB 93/17 –, Rn. 7, juris). Dementsprechend müssen die Maßnahmen in Anbetracht des konkreten Einzelfalls erfolgversprechend sein. Ebenso darf die Anordnung (auf Dauer) nicht auf eine bloße Willensbeugung hinauslaufen (OVG Schleswig, Beschluss vom 22.03.2019 – 4 MB 16/19, Rn. 19, juris).

24

Gemessen an diesen Maßstäben erweist sich die Anordnung, in der Ausreiseeinrichtung für vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer Wohnung zu nehmen, als rechtswidrig, da ermessensfehlerhaft.

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Ein gerichtlich überprüfbarer Ermessensfehler im Sinne des § 114 Satz 1 VwGO liegt insbesondere dann vor, wenn die Behörde die gesetzlichen Grenzen ihres Ermessens überschreitet. Die Behörde überschreitet ihr Ermessen u.a. dann, wenn ein Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit vorliegt.

26

Die Anordnung in Ziffer 1 ist unverhältnismäßig, da sie sich im konkreten Fall des Antragstellers als nicht erforderlich erweist. Erforderlich ist die Maßnahme, wenn ein milderes Mittel zur Zweckerreichung nicht gegeben ist. Diese Voraussetzung liegt hier – unter Berücksichtigung des in diesem konkreten Fall zu fördernden Zwecks – nicht vor.

27

Der Antragsteller hat zwischenzeitlich nachgewiesen, dass er bei der afghanischen Botschaft eine Tazkira beantragt und damit den ersten Schritt zur Beschaffung eines Passpapieres gemacht hat. Eine schnellere Beschaffung der für eine Ausreise erforderlichen Papiere wäre nur durch die Beschaffung eines Transitpasses zur Rückkehr nach Afghanistan möglich. Nach der im vorliegenden Verwaltungsvorgang befindlichen Auskunft des Landesamtes für Zuwanderung und Flüchtlinge vom 12.07.2021 an den Antragsgegner wird für die freiwillige Ausreise ein Transitpass zur einmaligen Ausreise nach Afghanistan durch die Botschaft in Berlin ausgestellt. Dafür müsse der Betroffene persönlich in der Botschaft von Afghanistan vorsprechen, eine Vorführung des Betroffenen durch das Landesamt sei möglich. Mit einer Ausstellung innerhalb von ca. drei Wochen nach Antragstellung sei zu rechnen. Weder die persönliche Vorsprache bei der Botschaft, zu der der Antragsteller durch den Antragsgegner verpflichtet werden könnte, noch die Vorführung durch das Landesamt erfordern die Verpflichtung zur Wohnsitznahme in der Landesunterkunft (vgl. Beschluss der Kammer vom 24.06.2019 – 11 B 85/19 -). Soweit der Antragsgegner auf eine in der Landesunterkunft mögliche Beratung zur freiwilligen Ausreise abstellt, macht diese allein ebenfalls die Wohnsitzauflage nicht erforderlich. Eine derartige Beratung kann auch im Rahmen von Einzelvorsprachen, welche der Antragsgegner anordnen kann, erfolgen (vgl. Beschluss der Kammer vom 24.06.2019 – 11 B 85/19 -).

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über den Streitwert auf §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 GKG.


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