Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (1. Kammer) - 1 B 10002/21
Tenor
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes wird abgelehnt.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Streitwert wird auf 5.000 € festgesetzt.
Gründe
I.
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Der Antragsteller begehrt die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen die Rücknahme einer Niederlassungserlaubnis und der Anordnung zur Rückgabe der entsprechenden Bescheinigung sowie die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen eine Abschiebungsandrohung und die Anordnung und Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots.
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Der im Jahre 1958 geborene Antragsteller ist armenischer Staatsangehöriger. Er reiste zusammen mit seiner Ehefrau und 2 gemeinsamen minderjährigen Kindern im Dezember 1998 in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte einen Asylantrag. Die Familie gab dabei unter Einreichung von gefälschten Geburtsurkunden der Eheleute falsche Namen und der Wahrheit zuwider an, dass sie aserbaidschanische Staatsangehörige seien und in Aserbaidschan als armenische Volkszugehörige verfolgt würden. Das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge lehnte mit Bescheid vom 28. April 1999 den Asylantrag der Familie ab, stellte jedoch fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Ausländergesetz bei der Familie hinsichtlich Aserbaidschan vorlägen. Diese Feststellung entspricht nach heutigem Recht der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Eine von dem Bundesbeauftragten für Asylangelegenheiten gegen diese Feststellung gerichtete Klage wies das Schleswig-Holsteinische Verwaltungsgericht mit Urteil vom 26. Juni 2000 – 4 A 107/00 – mit der Begründung ab, der Familie drohe als armenische Volkszugehörige in Aserbaidschan wegen ihrer Volkszugehörigkeit politische Verfolgung. Die damals weit überwiegend von Armeniern bewohnte Region Berg-Karabach stelle wegen der dort für die Familie zu befürchtenden existenziell unzumutbaren wirtschaftlichen Lebensbedingungen keine zumutbare Fluchtalternative dar, da die Familie nicht aus dieser Region stamme. Sie hätten zwar Aserbeidschan über Berg-Karabach verlassen, seien dort jedoch nur vorübergehend untergebracht gewesen, sodass weiterhin von der Hauptstadt Baku als dem Herkunftsort auszugehen sei.
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Die Familie wurde in der Folgezeit der Gemeinde O. im Bereich des Antragsgegners zugewiesen und lebte dort unter den angegebenen falschen Namen. Der Antragsgegner erteilte dem Antragsteller am 26. September 2000, am 5. September 2002 und 16. September 2004 wegen der von dem Bundesamt getroffenen Feststellung eine jeweils befristete Aufenthaltsbefugnis. Er erteilte dem Antragsteller dann am 27. September 2006 eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG (Aufenthaltserlaubnis bei Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft), die am 4. November 2008 bis zum 14. Oktober 2010 und am 12. Oktober 2010 bis zum 22. September 2012 verlängert wurde. Daneben erhielt der Antragsteller von dem Antragsgegner unter der angegebenen falschen Identität Reiseausweise. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge teilte dem Antragsgegner mit Schreiben vom 8. November 2010 mit, dass die Voraussetzungen für einen Widerruf oder eine Rücknahme der erteilten Begünstigung nach § 73 Abs. 1 oder 2 AsylVfG nicht vorliegen. Der Antragsgegner erteilte dem Antragsteller darauf am 25. November 2010 als unbefristeten Aufenthaltstitel gemäß § 26 Abs. 3 AufenthG eine Niederlassungserlaubnis. Ein am 17. September 2012 ausgestellter Reiseausweis enthielt den Zusatz, dass die Personendaten auf den eigenen Angaben des Antragstellers beruhten. ….
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Nach einem Vermerk des Antragsgegners vom 29. März 2017 erschien an diesem Tag die Ehefrau des Antragstellers und erklärte, dass die Angaben zu den Personalien der Familie und der Staatsangehörigkeit falsch seien. Sie seien armenische Staatsangehörige und hätten nie in Aserbaidschan gelebt. Sie hätten trotz der falschen Angaben zu der Person die Wahrheit zu dem Verfolgungsschicksal gesagt. Sie hätten gemeint, dass sie sofort abgeschoben werden würden, wenn sie wahre Angaben zu ihrer Identität und Staatsangehörigkeit machen würden. Dies sei ihnen von allen Bekannten aus Armenien, die ebenfalls nach Deutschland gewollt hätten, so gesagt worden. Sie möchten nicht mehr unter falscher Identität leben, da sie – und insbesondere die Kinder – nicht mehr ohne nachgewiesene Personalien leben könnten. Sie – die Eltern – arbeiteten in einem Restaurant in T.. Die Tochter sei noch mit Hauptwohnsitz bei den Eltern gemeldet. Sie studiere Jura in A., der Sohn lebe in P. und studiere Betriebswirtschaftslehre. Er werde bei seiner zuständigen Ausländerbehörde seine Identität klären.
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Der Antragsgegner erteilte dem Antragsteller am 5. September 2017 noch unter dem angegebenen falschen Namen einen Reiseausweis. Der Antragsgegner übersandte im Januar 2018 Kopien der vorgelegten armenischen Reisepässe der Eheleute und einer Geburtsurkunde an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Die Eheleute bestätigten in einer Vorsprache am 14. Februar 2018 die berichtigten Personalangaben, sie gaben weiter an, sich aktuelle Pässe besorgen zu wollen. Der Antragsgegner informierte die Eheleute darüber, dass eine Rücknahme der Flüchtlingseigenschaft und eine Ausreisepflicht in Betracht komme. Nach einem Vermerk des Antragsgegners vom 24. Mai 2018 habe der Antragsteller bei einer Vorsprache den aktuellen Reisepass, ausgestellt von der armenischen Botschaft in Berlin, vorgelegt. Er habe erklärt, dass es aufgrund der bevorstehenden Studienabschlüsse der Kinder erforderlich gewesen sei, dass die tatsächlichen Identitäten offengelegt würden. Nach seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland sei ihm erzählt worden, dass man als armenischer Staatsangehöriger kein Asyl bekomme. Besser sei es, dass man mit einer falschen Identität den Asylantrag stelle. Somit habe er für sich und seine Ehefrau gefälschte Geburtsurkunden besorgt und diese in seinem Asylverfahren vorgelegt. Er sei tatsächlich mit einem gültigen Visum und einem gültigen armenischen Pass eingereist. Er sei auch die ganze Zeit im Besitz eines armenischen Passes gewesen. Die Fluchtgründe hätten nur teilweise der Wahrheit entsprochen. Er sei zwar vom Militär zum Dienst verpflichtet worden, jedoch habe es sich um die armenische Armee gehandelt. Tatsächlich sei er in keine Kampfhandlungen verwickelt gewesen und aus der „2. Linie“ geflohen. Hauptsächliche Gründe für seine Einreise seien jedoch die Erkrankung an …, die Mitgliedschaft in einer Oppositionspartei und der Wunsch nach einer besseren Zukunft für die Kinder.
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Das auf Strafanzeige des Antragsgegners gegen die Eheleute eingeleitete Strafverfahren wegen der falschen Angaben wurde gegen Zahlung einer Geldauflage in Höhe von jeweils 200 € gemäß § 153a Abs. 1 StPO eingestellt. Nach einem Vermerk des Antragsgegners vom 9. Januar 2019 gab der Antragsteller an, einer …Beschäftigung in einem Restaurant nachzugehen, bei der er etwa … verdiene. …. Er sei aufgrund seiner …-Erkrankung nach Deutschland gekommen. Weiterhin sei er wegen der schlechten Perspektive in Armenien ausgereist. Er habe sich eine bessere Perspektive für seine beiden Kinder gewünscht. In Armenien habe die Familie nur 2 Stunden Strom am Tag gehabt. Auch habe es eine Knappheit an Lebensmitteln gegeben. Die Frage nach integrativen Leistungen habe der Antragsteller verneint. Er habe keine Verwandten außerhalb Armeniens. In Armenien lebe noch der Vater und der Bruder. Er fühle sich in der Bundesrepublik Deutschland zu Hause und habe nicht sonderlich viel Kontakt mit anderen armenischen Staatsangehörigen. Vielmehr pflege er die Kontakte in seinem Wohnort. …. Sprachlich sei lediglich die Ehefrau als integriert anzusehen. Der Antragsteller spreche ein schlechtes Deutsch. Die Eheleute hätten angegeben, dass einzig und allein die beiden gemeinsamen Kinder der Grund für die Aufklärung der wahren Identität gewesen seien.
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Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nahm mit Bescheid vom 10. April 2019, bestandskräftig seit 17. Mai 2019, die mit Bescheid vom 28. April 1999 getroffene Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Ausländergesetz vorliegen, zurück, stellte fest, dass die Flüchtlingseigenschaft und der subsidiäre Schutz nicht zuerkannt werden und Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen. Zur Begründung führte das Bundesamt aus, die Anerkennung der Ausländer sei gemäß § 73 Abs. 2 Satz 1 AsylG zurückzunehmen, wenn sie aufgrund unrichtiger Angaben oder infolge Verschweigens wesentlicher Tatsachen erteilt worden sei und der Ausländer auch aus anderen Gründen nicht als Asylberechtigter anerkannt werden könne. Gemäß § 73 Abs. 2 Satz 2 AsylG finde Satz 1 auch auf die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft Anerkennung. Dies gelte entsprechend für die Feststellung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Ausländergesetz. Die Eheleute hätten vorsätzlich über ihre Staatsangehörigkeit getäuscht. Ihnen sei bewusst gewesen, dass der Bescheid des Bundesamtes aus dem Jahr 1999 sachlich unrichtig gewesen sei. Die vorgetäuschte Staatsangehörigkeit sei ausschlaggebend für die Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes gewesen und werde im Rahmen des auszuübenden Ermessens berücksichtigt. Aufgrund der jahrzehntelangen Täuschung über die Identität werde deutlich, dass die Eheleute die deutsche Rechts- und Gesellschaftsordnung nicht akzeptierten, insbesondere deswegen, weil die Aufklärung über die Täuschung nicht aus Unrechtsbewusstsein erfolgt sei, sondern weil es Probleme mit der Einbürgerung gegeben habe. Beide Ausländer seien trotz jahrzehntelangem Aufenthalt wirtschaftlich nicht integriert. …. Die Rücknahme der Begünstigung erfolge nach § 73 Abs. 2 AsylG mit Wirkung für die Vergangenheit.
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Der Antragsgegner teilte dem Antragsteller mit Schreiben vom 24. April 2020, zugestellt am 28. April 2020, mit, dass er beabsichtige, die auf Grundlage des zurückgenommenen Schutzstatus erteilten Aufenthaltstitel zurückzunehmen. Der Antragsteller wäre folglich nicht mehr im Besitz eines Aufenthaltstitels und ausreisepflichtig. Der Antragsgegner gab dem Antragsteller Frist zur Stellungnahme innerhalb von 2 Wochen. Eine Stellungnahme ging darauf nicht ein.
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Der Antragsgegner nahm mit Bescheid vom 12. Oktober 2021 die Niederlassungserlaubnis des Antragstellers nach § 26 Abs. 3 Satz 1 AufenthG (jedoch zunächst nicht die bis November 2010 erteilten Aufenthaltstitel) gemäß § 116 Abs. 1 LVwG mit Wirkung für die Vergangenheit zurück (Ziffer 1), drohte für den Fall, dass der Antragsteller die Bundesrepublik Deutschland nicht innerhalb von 30 Tagen ab Bekanntgabe freiwillig verlässt die Abschiebung an, wobei die Benennung eines Zielstaats im Tenor des Bescheides, nicht jedoch in der Begründung, unterblieb (Ziffer 2), befristete für den Fall der Abschiebung das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung (Ziffer 3), forderte die Rückgabe des Aufenthaltstitels in Gestalt der Niederlassungserlaubnis innerhalb von 7 Tagen nach Bekanntgabe (Ziffer 4) und ordnete die sofortige Vollziehung zu Ziffer 4 gemäß § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO an.
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Zur Begründung führte Antragsgegner aus, gemäß § 116 LVwG könne ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden sei, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden. Zum Zeitpunkt der Erteilung der Niederlassungserlaubnis habe die Ausländerbehörde davon ausgehen müssen, dass die Feststellung der Voraussetzungen nach § 51 Abs. 1 Ausländergesetz rechtmäßig gewesen sei, die erforderlichen Aufenthaltszeiten seien erfüllt gewesen. Bei der Entscheidung über die Rücknahme sei berücksichtigt worden, dass sich der Antragsteller bereits seit ca. 22 Jahren im Bundesgebiet aufhalte. Allerdings habe er keine nennenswerten integrativen Leistungen erbracht, …. In Anbetracht der Intensität und Dauer der von dem Antragsteller begangenen Täuschung sei das öffentliche Interesse an der Rücknahme höher zu gewichten als die persönlichen Belange. Unter Bezug auf die Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, die seitens der Ausländerbehörde durchgeführte Prüfung – insbesondere die Abwägung zwischen dem persönlichen und dem öffentlichen Interesse – werde die Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 Satz 1 AufenthG gemäß § 116 Abs. 1 LVwG mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen. Der Antragsteller sei damit nicht mehr im Besitz eines Aufenthaltstitels und damit ausreisepflichtig. Die Ausreise habe grundsätzlich in den Herkunftsstaat Armenien zu erfolgen. Die Ausreisefrist könne unter Berücksichtigung besonderer Umstände des Einzelfalles angemessen verlängert werden. Eine Abschiebung würde sich auf § 58 Abs. 1 Satz 1 AufenthG stützen.
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Zur Begründung der Frist für das erlassene Einreise- und Aufenthaltsverbot für den Fall der Abschiebung führte der Antragsgegner aus, hierfür sei maßgeblich, dass der Antragsteller bei seiner Einreise 1998 vorsätzlich mit gefälschten Dokumenten und falschen Angaben um Asyl nachgesucht habe. Es sei davon auszugehen, dass er gewusst habe, als armenischer Staatsangehöriger kein Asyl gewährt zu bekommen, sodass er den Entschluss gefasst habe, über seine Herkunft zu täuschen. Er habe sich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen rechtswidrig für mehr als 20 Jahre im Bundesgebiet aufgehalten. Der Zweck der aufenthaltsbeendenden Maßnahme werde voraussichtlich nach 48 Monaten erreicht werden. Das öffentliche Interesse an der ermittelten notwendigen Dauer des Einreise- und Aufenthaltsverbots müsse sich an höherrangigem Recht messen und gegebenenfalls relativieren lassen. Dabei seien die persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat zu berücksichtigen. Zu berücksichtigen sei vorliegend, dass der Antragsteller sich offenbart habe, obwohl keine Aufdeckung der Täuschung gedroht habe. Schützenswerte Belange seien sonst nicht ersichtlich. Eine Befristung der Wirkung der Abschiebung auf 30 Monate werde daher als verhältnismäßig angesehen.
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Der Antragsgegner ordnete mit gesondertem Bescheid vom 12. Oktober 2021 zusätzlich die sofortige Vollziehung von Ziffer 1 des genannten Bescheides vom 12. Oktober 2021 an und führte zur Begründung aus, im Falle des Antragstellers sei das besondere öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehbarkeit der Rücknahmeentscheidung besonders hoch, da der Antragsteller sich nahezu 20 Jahre unter falscher Identität im Bundesgebiet aufgehalten habe. Soweit die sofortige Vollziehung nicht angeordnet würde, hätten Widerspruch und Klage aufschiebende Wirkung. …. Es bestehe kein Grund mehr, den Aufenthalt länger als notwendig zu dulden. Sollte bis zur Unanfechtbarkeit der Rücknahmeentscheidung abgewartet werden müssen, würde damit die Aufgabenerfüllung der Ausländerbehörde im Sinne der schnellstmöglichen Durchsetzung der Ausreisepflicht beeinträchtigt werden. Das öffentliche Interesse an der Herstellung gesetzmäßiger Zustände sei bei unrichtigen Angaben grundsätzlich besonders zu gewichten, um den sonst zu befürchtenden Anreiz für ähnliche Täuschungshandlungen bei der Beantragung eine Aufenthaltsgenehmigung zu unterbinden. Dürfte die Ausländerbehörde auf ein entsprechendes Delikt nicht mit der umgehenden Beendigung des Aufenthaltes reagieren, so bestünde für Ausländer folglich geradezu ein Anreiz, sich durch falsche Angaben einen weiteren Verbleib Bundesgebiet zu verschaffen. Um dies für die Zukunft zu verhindern, sei die Anordnung der sofortigen Vollziehung erforderlich.
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Der Antragsteller legte gegen den Bescheid am 9. November 2021 Widerspruch ein und führte zur Begründung unter anderem an, er lebe seit über 22 Jahren mit seiner Familie in O. in Deutschland. Sie seien im Dorfleben und der Gemeinde integriert. Ihre Freunde und Nachbarn lebten alle in ihrer Umgebung, sie seien ein fester Bestandteil ihres Lebens geworden. Beinahe alle Familienangehörigen lebten überwiegend in Deutschland. Deutschland sei der einzige Lebensmittelpunkt der Familie geworden, sodass sich hier das gesamte soziale Leben abspiele. Der Antragsteller legte ein Schreiben des Bürgermeisters der Gemeinde O. vom 1. November 2021, ein Schreiben der evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde vom 31. Oktober 2021 sowie zahlreiche weitere Schreiben von Bekannten und Nachbarn vor. Er habe sich seit seiner Einreise bemüht, sich auf allen Ebenen zu integrieren. Es sei ihm allerdings nach Ankunft in Deutschland gesundheitlich nicht gut gegangen, da bei ihm später eine …-Erkrankung festgestellt worden sei. Aufgrund dieser Erkrankung habe er sich in einer Langzeitbehandlung mit starken Medikamenten befunden …. Er sei zu dieser Zeit von seiner Ehefrau zu Hause gepflegt worden, sodass auch er schlecht Fuß auf dem Arbeitsmarkt habe fassen können. Bis heute sei die Krankheit nicht beseitigt, sondern aufgrund neuer Behandlungsmethoden und Medikamente eingedämmt. Seit dem Jahre 2010 seien sie in der Gastronomie beschäftigt gewesen. …. Er habe die deutsche Sprache vollumfänglich gelernt.
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Der Antragsteller hat am 9. November 2021 um einstweiligen Rechtsschutz nachgesucht.
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Er macht geltend, ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung sei nicht ersichtlich. Er lebe mit seiner Familie seit nunmehr 23 Jahren in Deutschland, sei hier voll integriert, könne für seinen und den Lebensunterhalt seiner Familie sorgen und habe keinerlei Bezug mehr zu seinem Heimatland Armenien. Eine Abschiebung zum gegenwärtigen Zeitpunkt würde nicht nur das abrupte Ende aller seiner sozialen Kontakte, seiner beruflichen Tätigkeit und letztlich seines gesamten bisherigen Lebens bedeuten. Insbesondere würde auch die Familie auseinandergerissen.
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Die Rücknahme der Niederlassungserlaubnis sei offensichtlich fehlerhaft, da die Tatbestandsvoraussetzungen des § 116 Abs. 1 LVwG nicht vorlägen. Bei der erteilten Niederlassungserlaubnis vom 25. November 2010 handele es sich nicht um einen rechtswidrigen Verwaltungsakt. Die Niederlassungserlaubnis sei zu Recht erteilt worden. § 26 Abs. 3 AufenthG in der bei Erteilung der Niederlassungserlaubnis geltenden Fassung habe für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis die 3-jährige Inhaberschaft einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 vorausgesetzt. Dieses sei vorliegend der Fall gewesen, da er bereits seit dem 26. September 2000 im Besitz eine Aufenthaltsbefugnis bzw. eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG gewesen sei. Der asylrechtliche Schutzstatus, der nun nicht mehr bestehe, sei selbst gerade keine Tatbestandsvoraussetzungen des § 26 Abs. 3 AufenthG a. F. gewesen. Voraussetzungen seien lediglich die entsprechenden Aufenthaltserlaubnisse gemäß § 25 Abs. 2 AufenthG. Dies entspreche klar der Trennung des Aufenthalts- und Asylrechts. Asylrechtliche Entscheidungen – wie hier die Rücknahme der Flüchtlingseigenschaft – schlügen nicht automatisch auf die Ebene des Aufenthaltsrechts durch. Soweit der Antragsgegner anführe, dass die Aufenthaltserlaubnisse zwischen dem Jahr 2000 und dem Jahr 2010 rechtswidrig erteilt worden seien, sei dies unerheblich, da sie jedenfalls wirksam seien.
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Weiter sei die gesetzliche Ausschlussfrist des § 116 Abs. 4 Satz 1 LVwG durch den Antragsgegner nicht eingehalten worden. Danach habe die Behörde spätestens ein Jahr, nachdem sie Kenntnis von den die Rücknahme rechtfertigen Tatsachen erhalten habe, eine Entscheidung zu treffen. Der Antragsgegner habe die Rücknahme ausschließlich mit der Rücknahme des Schutzstatus durch das Bundesamt begründet. Dieses habe den Schutzstatus jedoch bereits am 10. April 2019 zurückgenommen. Erst über ein Jahr später – am 28. April 2020 – habe der Antragsgegner ihm überhaupt erst das Anhörungsschreiben zu der beabsichtigten Rücknahme zugesandt. In diesem sei eine 2-wöchige Frist zur Stellungnahme gesetzt worden. Spätestens mit Ablauf dieser Frist am 13. Mai 2020 hätten somit alle Entscheidungsvoraussetzungen für die beabsichtigte Rücknahme der Niederlassungserlaubnis vorgelegen. Der Antragsgegner hätte deshalb bis zum 13. Mai 2021 Zeit gehabt, eine Entscheidung zu treffen. Die Entscheidung sei jedoch erst am 12. Oktober 2021 – ein knappes halbes Jahr nach Ablauf der gesetzlichen Ausschlussfrist – erfolgt.
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Höchst vorsorglich werde darauf hingewiesen, dass es sich hinsichtlich der Erteilung der Niederlassungserlaubnis nicht um einen Fall von § 116 Abs. 4 Satz 2 LVwG handele. Hinsichtlich der Tatbestandsvoraussetzungen der Niederlassungserlaubnis habe er zu keinem Zeitpunkt getäuscht. Das Vorliegen der Flüchtlingseigenschaft sei nicht Teil des Tatbestandes des § 26 Abs. 3 AufenthG a.F.. Eine Täuschung wäre auch nicht kausal für die Erteilung gewesen. Aufgrund des langen Voraufenthalts von über 12 Jahren hätte er mühelos den Tatbestand des § 26 Abs. 4 AufenthG a. F. erfüllt. Hier sei zu beachten, dass der Familie hinsichtlich der allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen die Altfallregelungen der §§ 102 Abs. 2 und 104 Abs. 2 AufenthG zugutekämen. Von einer Lebensunterhaltssicherung hätte aufgrund der ärztlich attestierten Arbeitsunfähigkeit abgesehen werden müssen.
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Schließlich sei der Bescheid auch deswegen rechtswidrig, weil der Antragsgegner keinerlei Ermessen dahingehend ausgeübt habe, ob die Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit oder nur für die Zukunft erfolgen solle. Allein dies begründe einen Ermessensausfall und nach der Rechtsprechung des Gerichts (Urteil vom 15. November 2018 – 1 A 40/15 –, juris) die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts.
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Der Antragsgegner habe im Rahmen des ausgeübten Ermessens den Sachverhalt grob fehlerhaft gewertet. Sein Aufenthalt in der Bundesrepublik von 23 Jahren müsse schwer zu seinen Gunsten gewertet werden. Soweit der Antragsgegner behaupte, er habe sich und seine Familie nie integriert, sei dies schlicht unrichtig. Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens seien zahlreiche Nachweise darüber eingereicht worden, dass er sich in O. sehr gut integriert habe. Von Arbeitgebern, Kirchenvertretern und Mitbürgern bis hin zum Bürgermeister belegten sämtliche Schreiben das Unverständnis für die ergangene Entscheidung des Antragsgegners und darüber hinaus die Verbundenheit des Antragstellers und seiner Familie in der Gesellschaft vor Ort. Gleichzeitig müsse es auch als Integrationsleistung gelten, dass er und seine Frau Kinder aufgezogen hätten, die sich nahtlos in die Gesellschaft einfügten, ja sogar in besonderem Maße erfolgreich seien. Die Tochter studiere gegenwärtig Jura und stehe kurz vor ihrem 1. Staatsexamen. Der Sohn habe sich mit einem Unternehmen selbstständig gemacht und stehe nicht nur auf eigenen Beinen, sondern sei damit auch eine Stütze der Gesellschaft.
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Soweit der Antragsgegner ihm in seinen Ermessenserwägungen vorwerfe, …. Gerade für solche Fälle sei das Netz der sozialen Sicherheit geschaffen worden. Im Ergebnis sanktioniere der Antragsgegner ihn dafür, chronisch krank geworden zu sein. ….
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Schließlich sei die besondere Härte der Rücknahme einer Aufenthaltserlaubnis nach 23 Jahren des erlaubten Aufenthalts durch den Antragsgegner zwar formelhaft genannt, jedoch nicht ernsthaft in einer Abwägung zum Tragen gebracht worden. Die volle Härte der Trennung von seinen hier lebenden Kindern, oder, im Falle einer gemeinsamen Abschiebung, die Härte der Entwurzelung der Kinder, die seit ihrer frühen Kindheit in der Bundesrepublik lebten und hier voll integriert seien, habe der Antragsgegner lediglich mit dem formelhaften Satz mit dem Inhalt, dass bei der Entscheidung zu seinen Gunsten berücksichtigt worden sei, dass er sich bereits seit 22 Jahren im Bundesgebiet aufhalte, in keiner Weise inhaltlich Rechnung getragen. Der Ermessensabwägung fehle es klar an Substantiierung.
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Soweit dem nicht gefolgt werde, seien die Erfolgsaussichten in der Hauptsache zumindest offen. Damit obliege dem Antragsgegner bei der Anordnung der sofortigen Vollziehung eine besondere Begründungspflicht. Dieser besonderen Begründungspflicht und der Darlegung des Überwiegens des öffentlichen Interesses habe der Antragsgegner nicht genügt. Es hätte dargelegt werden müssen, weshalb in diesem Einzelfall eine besondere Notwendigkeit der sofortigen Vollziehung bestehe, die es rechtfertige, vom Regelfall der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs abzuweichen.
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Die Begründung des Antragsgegners sei fehlerhaft und gehe nicht darüber hinaus, die allgemeinen Interessen der Verwaltung an der Vollziehung einer Rücknahmeentscheidung darzulegen. Der Antragsgegner führe hier zu seinen Lasten an, dass er bereits über 20 Jahre unter falscher Identität in Deutschland gelebt habe. Dieser Umstand begründe nicht, weshalb die Abschiebung nunmehr, abweichend von der gesetzlichen Regelung, sofort vollzogen werden müsse. Im Gegenteil: Die Dauer des Voraufenthalts spreche für ein überwiegendes Aussetzungsinteresse. Es sei gerade nicht ausgemacht, dass sein Aufenthalt rechtswidrig gewesen sei. Aus diesem Grunde sei eine Folgenabwägung durchzuführen. Sollte sich herausstellen, dass der Rücknahmebescheid tatsächlich rechtswidrig sei, wäre es umso gravierender, einen chronisch kranken Mann fortgeschrittenen Alters abgeschoben zu haben, der sich über die letzten 23 Jahre seine Existenz in der Bundesrepublik Deutschland aufgebaut habe und dessen gesamte Kernfamilie hier lebe. Der Antragsgegner führe weiter an, dass er potenziell die Sozialkassen belasten könne. …. Es handele sich auch nur um eine abstrakte Möglichkeit. Er sei gegenwärtig kein Sozialleistungsempfänger, sondern in Vollzeit beschäftigt.
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Soweit der Antragsgegner ausführe, dass die Aufgabenerfüllung der Ausländerbehörde im Sinne der schnellstmöglichen Durchsetzung einer Ausreisepflicht im Rahmen der Abschiebung beeinträchtigt werde, sollte bis zur Unanfechtbarkeit der Rücknahmeentscheidung abgewartet werden, so offenbare der Antragsgegner ein bedenkliches Aufgabenverständnis der Verwaltung. Es sei nicht etwa Aufgabe der Ausländerbehörde, so viel und so schnell wie möglich abzuschieben. Wenn das Gesetz die aufschiebende Wirkung anordne, während die Rechtmäßigkeit eines Bescheides überprüft werde, bestehe auch zunächst kein öffentliches Interesse an einer sofortigen Vollziehung. Eine Abweichung hiervon sei besonders begründungsbedürftig. Diese mit der „schnellstmöglichen Durchsetzung“ des Verwaltungsakts zu begründen, erschöpfe sich argumentativ in einem Zirkelschluss. Dass der Antragsgegner hier einseitig die Durchsetzung der Ausreise priorisiere, statt wohlwollend auch Aspekte zugunsten der Familie in die Erwägungen einzustellen, werde nicht nur an dieser Stelle offenbar und rechtfertige die ernsthafte Besorgnis der Befangenheit.
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Schließlich führe der Antragsgegner an, dass im Falle einer Täuschung das öffentliche Interesse an einer Vollziehung besonders zu gewichten sei. Hier sei erneut festzuhalten, dass er in Bezug auf die Niederlassungserlaubnis nicht getäuscht habe. Deren Voraussetzungen seien im Jahre 2010 erfüllt gewesen.
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Folglich sei hier keinerlei öffentliches Interesse dargelegt, das über die Begründung des Verwaltungsaktes selbst hinausgehe und einen Ausnahmefall rechtfertige. Es müsse deshalb bei der gesetzlichen Grundentscheidung der aufschiebenden Wirkung verbleiben.
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Der Antragsteller beantragt,
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die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 9. November 2021 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 12. Oktober 2021 in Bezug auf die Rücknahme der Niederlassungserlaubnis sowie deren geforderte Rückgabe wiederherzustellen und in Bezug auf die Abschiebungsandrohung und das ausgesprochene Einreise- und Aufenthaltsverbot anzuordnen,
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Der Antragsgegner beantragt,
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den Antrag zurückzuweisen.
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Er ist der Auffassung, der Bescheid vom 12. Oktober 2021 sei offensichtlich rechtmäßig. Die im Jahre 2010 erteilte Niederlassungserlaubnis sei bereits zum Zeitpunkt ihrer Erteilung rechtswidrig gewesen. Nach § 26 Abs. 3 AufenthG a.F. sei einem Ausländer, der seit 3 Jahren eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1 oder Abs. 2 Satz 1 Alt. 1 AufenthG besessen habe, eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gemäß § 73 Absatz 2a Asylverfahrensgesetz mitgeteilt habe, dass die Voraussetzungen für den Widerruf oder die Rücknahme nicht vorlägen. Die Aufenthaltserlaubnis des Antragstellers nach § 25 Abs. 2 AufenthG habe auf der vorsätzlichen und arglistigen Täuschung über die Identität und Herkunft beruht, die darauf gerichtet gewesen sei, ein positives Asylverfahren zu erlangen. Deshalb sei die zuerkannte Flüchtlingsanerkennung mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden. Folge der Rücknahme der Flüchtlingsanerkennung mit Wirkung für die Vergangenheit sei, dass von Anfang an die Voraussetzungen der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 AufenthG und damit die Voraussetzungen für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG nicht vorgelegen hätten. Der Antragsteller hätte auch zu keinem Zeitpunkt einen Anspruch nach § 26 Abs. 4 AufenthG a.F. gehabt. Der Aufenthalt habe auf der jahrzehntelangen Identitätstäuschung beruht. Aufenthaltserlaubnisse seien aufgrund der rückwirkenden Rücknahme der Flüchtlingseigenschaft nicht zu erteilen gewesen, sodass zu keinem Zeitpunkt ein Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis bestanden habe.
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Ermessensfehler lägen nicht vor. In dem Bescheid sei berücksichtigt worden, dass der Antragsteller bereits seit 22 Jahren in Deutschland lebe. Daher sei auch nicht zu verkennen, dass eine Ausreise nach Armenien einen tiefen Einschnitt in sein Leben bedeuten würde. Es sei wegen der langen Zeit auch nicht von der Hand zu weisen, dass der Antragsteller ein Leben in Deutschland eingerichtet habe und soziale Kontakte pflege. Dies zeigten auch die vorgelegten Briefe von Fürsprechern, die deutlich machten, dass der Antragsteller und seine Familie in der Gemeinde O. seit vielen Jahren bekannt seien und geschätzt würden. Dennoch könne die erlangte Integration als gering bewertet werden. Die Briefe machten deutlich, dass der Antragsteller seit längerer Zeit in O. wohne, Beispiele für eine soziokulturelle Integration enthielten sie jedoch nicht. …. Der Antragsgegner führt weiter aus, der Antragsteller gehe einer Beschäftigung im Betrieb des Sohnes erst seit dem 1. Juni 2021 nach. Auf eine etwaige Beschäftigung habe bei der Rücknahmeentscheidung im Übrigen nicht näher eingegangen werden können, weil diese zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht aktenkundig gewesen und erst im Eilrechtsschutzverfahren vorgetragen worden sei. Auf das Anhörungsschreiben zur beabsichtigten Rücknahme der Niederlassungserlaubnis habe der Antragsteller nicht reagiert. Entsprechendes gelte für die nunmehr thematisierte langfristige Erkrankung an …, die in der Vergangenheit nach dem Vortrag des Antragstellers dazu geführt haben solle, dass er nicht arbeitsfähig gewesen sei. Diese Erkrankung sei erstmals im Widerspruchsschreiben vom 9. November 2021 angesprochen, jedoch nicht weiter belegt worden. Inwieweit eine Arbeitsunfähigkeit vorgelegen habe, sei nicht von der Ausländerbehörde zu entscheiden. ….
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Zu berücksichtigen sei auch, dass der Aufenthalt in Deutschland und die Möglichkeit der Integration nur aufgrund der jahrzehntelangen Täuschung über die Identität und Herkunft erlangt worden sei. Das Gewicht der Integrationsleistungen könne beseitigt werden, wenn über einen langen Zeitraum über die Identität getäuscht werde, insbesondere wenn die lange Aufenthaltsdauer allein auf der Täuschung beruhe. Eine Aufklärung über die wahre Identität sei erst erfolgt, weil die Kinder einen Antrag auf Einbürgerung hätten stellen wollen. Zum Beispiel seien die bereits im Jahre 2010 aufgeklärten Identitätstäuschungen der Schwägerinnen, von denen eine in unmittelbarer Nachbarschaft wohne, nicht zum Anlass genommen worden, freiwillig auf eine Aufklärung der eigenen Täuschungshandlung hinzuwirken. Identitätstäuschungen und die darauf basierenden falschen Angaben zur Erlangung von Aufenthaltstiteln seien vom Gesetzgeber als schwerwiegendes Ausweisungsinteresse definiert. Diese Wertung könne nicht außer Acht gelassen werden. Auf Seiten des Antragstellers sei zu berücksichtigen, dass eine Rückkehr nach Armenien gegebenenfalls zu einer räumlichen Trennung von den Kindern führen könne. Der Sohn sei derzeit im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG, zu deren Rücknahme er jedoch bereits mit Schreiben vom 11. Oktober 2021 angehört worden sei. Für die Tochter sei die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis abgelehnt worden. Die Kinder des Antragstellers seien erwachsen und inzwischen 32 und 29 Jahre alt. Dass erwachsene Kinder und ihrer Eltern räumlich, auch über Landesgrenzen hinweg, getrennt lebten, möge nicht einfach sein, sei aber nicht derart ungewöhnlich, dass es die Rücknahme der Niederlassungserlaubnis ausschließen könne.
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Die Rücknahme der Niederlassungserlaubnis sei auch aus generalpräventiven Gründen gerechtfertigt. Die mit dem Vollzug des Aufenthaltsrechts beauftragten Behörden seien in vielen Fällen auf die eigenen Angaben des antragstellenden Ausländers angewiesen, da gerade persönliche und familiäre Umstände nicht oder nur mit hohem Aufwand ermittelt werden könnten. Der Wahrheit und Vollständigkeit diese Angaben komme daher ein hoher Stellenwert zu, die der Gesetzgeber mit der Strafdrohung des § 95 Abs. 2 AufenthG noch einmal verdeutlicht habe. Daher sei es gerechtfertigt, auch anderen Ausländern vor Augen zu führen, dass das Erschleichen eines Aufenthaltstitels durch falsche Angaben nicht nur zu strafrechtlichen Konsequenzen führe, sondern auch die Aufenthaltsbeendigung nach sich ziehen könne.
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Die Rücknahme der Niederlassungserlaubnis sei unter Berücksichtigung des Sachverhaltes auch für die Vergangenheit anzuordnen. Ermessensfehler seien auch hier nicht erkennbar. Die gesetzliche Ausschlussfrist des § 116 Abs. 4 Satz 1 LVwG greife vorliegend aufgrund der arglistigen Täuschung des Antragstellers über seine Identität nicht (§ 116 Abs. 4 Satz 1, Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 LVwG). Eine Rückkehr nach Armenien sei dem Antragsteller auch zumutbar, weil er die Landessprache beherrsche und erst mit 41 Jahren nach Deutschland gekommen sei. Eine Entwurzelung habe nicht stattgefunden. Seine Ehefrau und seine Tochter seien ebenfalls ausreisepflichtig und könnten ihn bei einer Rückkehr in das Heimatland begleiten.
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Im Übrigen habe der Antragsteller die Möglichkeit freiwillig auszureisen und könne – bei Vorliegen der Voraussetzungen – mit dem erforderlichen Visum beispielsweise zu Beschäftigungszwecken wieder ins Bundesgebiet einreisen und einen neuen legalen Aufenthalt erwerben.
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Der Antragsgegner hat mit Bescheid vom 11. Januar 2022 über die Rücknahme der Niederlassungserlaubnis hinaus sämtliche vorangegangenen Aufenthaltstitel mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen und die sofortige Vollziehung dieser Rücknahme angeordnet. Zur Begründung der Rücknahme und der Anordnung der sofortigen Vollziehung hat der Antragsgegner im Wesentlichen auf den Rücknahmebescheid vom 12. Oktober 2021 und die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Rücknahme der Niederlassungserlaubnis Bezug genommen.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Antragsgegners Bezug genommen.
II.
- 40
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes hat keinen Erfolg.
- 41
Der Antrag ist gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 2. Alt. VwGO statthaft als Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die in dem Bescheid vom 12. Oktober 2021 enthaltene Rücknahme der Niederlassungserlaubnis und die Rückgabeanordnung, deren sofortige Vollziehung der Antragsgegner nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 VwGO angeordnet hat, sowie gemäß § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alt. VwGO als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die in dem Bescheid enthaltene Abschiebungsandrohung sowie den Erlass und die Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots für den Fall der Abschiebung. Der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs gegen die Abschiebungsandrohung ist statthaft, weil der Widerspruch gegen Maßnahmen, die in der Verwaltungsvollstreckung getroffen werden – dazu gehört auch der Erlass einer Abschiebungsandrohung –, gemäß § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO in Verbindung mit § 248 Abs. 1 Satz 2 LVwG keine aufschiebende Wirkung hat. Bei dem gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1 AufenthG bei einer Abschiebung zwingenden Erlass eines Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 AufenthG und der ebenfalls verpflichtend vorzunehmenden Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 2 Satz 3 AufenthG handelt es sich um einen einheitlichen Verwaltungsakt und ein Rechtsbehelf gegen die Anordnung und die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots hat zumindest hinsichtlich des Erlasses entgegen dem Wortlaut des § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 AufenthG gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO i.Vm. § 84 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 AufenthG keine aufschiebende Wirkung (vgl. dazu ausführlich Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Beschluss vom 13. November 2019 – 11 S 2996/19 –, Rn. 42 - 43, juris). Dies hat zur Folge, dass ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen das Einreise- und Aufenthaltsverbot grundsätzlich statthaft ist.
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Der Antrag ist unzulässig, soweit er sich gegen die Anordnung und die Befristung eines Einreise- und Aufenthaltsverbots für den Fall der Abschiebung richtet, weil insoweit ein Rechtsschutzinteresse für den Antrag fehlt. Dem Antragsteller geht es mit dem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes darum, im Bundesgebiet bleiben zu können und nicht abgeschoben zu werden. Insoweit wendet er sich zu Recht zur Erreichung dieses Ziels gegen die sofortige Vollziehung der Rücknahme der Niederlassungserlaubnis sowie gegen die Abschiebungsandrohung. Sollte der Rechtsbehelf insoweit Erfolg haben, würde den Antragsteller ein Einreise- und Aufenthaltsverbot für den Fall der Abschiebung gegenwärtig mangels drohender Abschiebung nicht beeinträchtigen können. Sollte der Antrag insoweit keinen Erfolg haben, wäre der Antragsteller – unabhängig von einer möglichen Abschiebung und dem darauf beruhenden Einreise- und Aufenthaltsverbot – vollziehbar ausreisepflichtig. Eine Gewährung vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutzes hinsichtlich des Einreise- und Aufenthaltsverbots hätte hinsichtlich der Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht keine aufenthaltsrechtlich erhebliche Verbesserung der Rechtsposition des Antragstellers oder sonstige ihn begünstigende Wirkungen zur Folge. Dem Antragsteller geht es gegenwärtig ersichtlich darum, die Möglichkeit der zwangsweisen Durchsetzung einer Ausreisepflicht zu beseitigen, nicht um die Vollziehbarkeit des Einreise- und Aufenthaltsverbots und dessen Befristung im eigentlichen Sinn. Der Antragsteller hat in der vorliegenden Konstellation auch kein Rechtsschutzinteresse, soweit er die Vollziehbarkeit der Titelerteilungssperre vorläufig beseitigen möchte. Ein Einreise- und Aufenthaltsverbot würde sich erst nach erfolgter Abschiebung auswirken, so dass gegenwärtig ein Rechtsschutzinteresse im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes aus diesem Grunde nicht ersichtlich ist (vgl. VG München, Beschluss vom 22. Februar 2021 – M 4 S 20.6589 –, Rn. 25 - 55, juris).
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Die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit hinsichtlich der Rücknahme der Niederlassungserlaubnis und der Anordnung der Rückgabe des Aufenthaltstitels in dem angegriffenen Bescheid vom 12. Oktober 2021 und der gesonderten Verfügung vom 12. Oktober 2021 ist in formeller Hinsicht nicht zu beanstanden. Der Antragsgegner hat die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit der Rücknahme der Niederlassungserlaubnis und der Anordnung der Rückgabe der entsprechenden Urkunde in einer den Erfordernissen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO genügenden Weise begründet. Dem Erfordernis einer schriftlichen Begründung nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO ist nicht bereits genügt, wenn überhaupt eine Begründung gegeben wird. Es bedarf vielmehr einer schlüssigen, konkreten und substantiierten Darlegung der wesentlichen Erwägungen, warum aus Sicht der Behörde gerade im vorliegenden Einzelfall ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung gegeben ist und das Interesse des Betroffenen am Bestehen der aufschiebenden Wirkung ausnahmsweise zurückzutreten hat (BVerwG, Beschluss vom 18. September 2001 – 1 DB 26.01 –, juris). Das mit dieser Vorschrift normierte Erfordernis einer schriftlichen Begründung des besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsakts soll neben der Information des Betroffenen und des mit einem eventuellen Aussetzungsantrag befassten Gerichts vor allem die Behörde selbst mit Blick auf die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG zwingen, sich des Ausnahmecharakters der Vollziehungsanordnung bewusst zu werden und die Frage des Sofortvollzuges besonders sorgfältig zu prüfen. Die Begründung muss einen bestimmten Mindestinhalt aufweisen. Dazu gehört es insbesondere, dass die Behörde sich – in aller Regel – nicht lediglich auf eine Wiederholung der den Verwaltungsakt tragenden Gründe, auf eine bloße Wiedergabe des Textes des § 80 Abs. 2 Satz1 Nr. 4 VwGO oder auf lediglich formelhafte, abstrakte und letztlich inhaltsleere Wendungen, namentlich solche ohne erkennbaren Bezug zu dem konkreten Fall, beschränken darf. Erforderlich ist eine auf den konkreten Einzelfall abstellende Darlegung des besonderen öffentlichen Interesses daran, dass ausnahmsweise die sofortige Vollziehbarkeit notwendig ist und dass hinter dieses erhebliche öffentliche Interesse das Interesse des Betroffenen, zunächst nicht von den Wirkungen des angegriffenen Verwaltungsaktes betroffen zu werden, zurückzutreten hat (Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, Beschluss vom 28. Dezember 2020 – 1 B 108/20 –, Rn. 28, juris).
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Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Der Antragsgegner hat zur besonderen Dringlichkeit für die Zeit eines Rechtsbehelfsverfahrens unter anderem ausgeführt, dass das öffentliche Interesse an der Herstellung gesetzmäßiger Zustände bei unrichtigen Angaben grundsätzlich besonders zu gewichten sei, um schon in der Zeit bis zum Abschluss des Hauptsacheverfahrens den sonst zu befürchtenden Anreiz für ähnliche Täuschungshandlungen bei der Beantragung eine Aufenthaltsgenehmigung zu unterbinden. Nach herrschender Meinung gelte für durch unrichtige Angaben erschlichene Aufenthaltsgenehmigungen unter Hinweis auf das besondere öffentliche Interesse, dass der Ausländer den zu Unrecht erlangten Status nicht noch für beträchtliche Zeit faktisch ausnutzen dürfe. Dürfte die Ausländerbehörde auf ein entsprechendes Delikt nicht mit der umgehenden Beendigung des Aufenthalts reagieren, bestünde für Ausländer folglich geradezu ein Anreiz, sich durch falsche Angaben einen weiteren Verbleib zu verschaffen. Um dies für die Zukunft zu verhindern, sei die Anordnung der sofortigen Vollziehung erforderlich. Denn nur, wenn die sofortige Vollziehung der Rücknahmeentscheidung angeordnet sei, sei der Antragsteller auch vollziehbar ausreisepflichtig aufgrund der Rücknahme der Niederlassungserlaubnis gemäß § 51 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG in Verbindung mit § 84 Abs. 2 AufenthG. Die zu erwartenden Beeinträchtigungen im ausländerrechtlichen Verfahren und der fortgesetzte unrechtmäßige Aufenthalt stünden dabei außer Verhältnis zu dem Rechtsschutzinteresse des Antragstellers. Der Antragsgegner hat mit dieser – die Entscheidung selbstständig tragenden – Begründung darauf abgestellt, dass der Antragsteller den Aufenthaltstitel durch arglistige Täuschung erwirkt habe und auch faktisch nicht mehr ausnutzen dürfen solle. Dies könne nur durch die Anordnung der sofortigen Vollziehung sichergestellt werden. Der Antragsgegner hat zur Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung der Rücknahme eines Aufenthaltstitels auch generalpräventive Gründe angeführt (vgl. dazu Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 17. November 2000 – 24 ZS 00.3111 –, Rn. 6-7, juris). Diese Begründung ist ausreichend. Sie lässt erkennen, dass dem Antragsgegner bewusst war, dass die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs nur ausnahmsweise zu überwinden ist. Sie nimmt auch auf den Einzelfall Bezug und enthält keine Floskeln, sondern geht über den Gesetzeswortlaut hinaus. Die Rücknahme der unbefristeten Aufenthaltserlaubnis setzt nach § 116 Abs. 1 Satz 1 LVwG nicht in jedem Fall voraus, dass diese durch unrichtige oder unvollständige Angaben erwirkt worden ist. Ist ein Aufenthaltstitel durch unrichtige oder unvollständige Angaben erwirkt worden, besteht nicht zuletzt ein besonderes öffentliches Interesse daran, dass der betreffende Ausländer die zu Unrecht erlangte Aufenthaltserlaubnis nicht noch für einen nicht unerheblichen Zeitraum faktisch ausnutzen darf (Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 17. April 1996 – Bs VI (VII) 56/95 –, Rn. 13, juris; Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 28. August 2001 – 3 Bs 102/01 –, Rn. 30, juris; VG Hamburg, Beschluss vom 28. September 1998 – 22 VG 3884/98 –, Rn. 5, juris; VG München, Beschluss vom 23. April 2015 – M 12 S 15.632 –, Rn. 11, juris). Die zur Begründung der sofortigen Vollziehung der Anordnung der Rückgabe der Niederlassungserlaubnis angeführten Gründe genügen ebenfalls den Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO. Grundsätzlich nicht erforderlich ist im Rahmen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO, dass die für das besondere Vollzugsinteresse angeführten Gründe auch materiell überzeugen, also die getroffene Maßnahme inhaltlich rechtfertigen. Diese Frage ist erst im Rahmen der nachfolgenden Interessenabwägung durch das Gericht zu klären (Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, Beschluss vom 8. Februar 2021 – 1 B 8/21 –, Rn. 7, juris).
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Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann durch das Gericht die aufschiebende Wirkung im Falle des Absatzes 2 Satz 1 Nr. 4, also insbesondere in Fällen, in denen die sofortige Vollziehung eines Verwaltungsaktes im öffentlichen Interesse von der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen hat, besonders angeordnet wurde, ganz oder teilweise wiederhergestellt werden. In den Fällen (unter anderem) des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO kann das Gericht die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs ganz oder teilweise anordnen. Die gerichtliche Entscheidung ergeht dabei auf der Grundlage einer umfassenden Interessenabwägung. Gegenstand der Abwägung sind das private Aufschubinteresse einerseits und das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes andererseits. Im Rahmen der Interessenabwägung können auch Erkenntnisse über die Rechtmäßigkeit und die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts Bedeutung erlangen. Lässt sich die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Bescheides ohne Weiteres feststellen, ist sie also offensichtlich, so ist die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs wiederherzustellen bzw. anzuordnen, weil an der sofortigen Vollziehung eines offensichtlich rechtswidrigen Bescheides kein öffentliches Interesse bestehen kann. Erweist sich der angefochtene Bescheid als offensichtlich rechtmäßig (vgl. zu diesem Merkmal: BVerfG, Kammerbeschluss vom 12. September 1995 – 2 BvR 1179/95 –, Rn. 46, juris), bedarf es in den Fällen, in denen die sofortige Vollziehung im öffentlichen Interesse von der Behörde im Einzelfall angeordnet wurde, noch eines besonderen Interesses an der sofortigen Vollziehung, das mit dem Interesse am Erlass eines Verwaltungsaktes in der Regel nicht identisch ist, sondern vielmehr ein qualitativ anderes Interesse ist (BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 24. Oktober 2003 – 1 BvR 1594/03 –, Rn. 22, juris). Insbesondere in Fällen der Gefahrenabwehr kann dieses besondere Vollzugsinteresse aber mit dem Interesse am Erlass des Bescheides selbst identisch sein. Lässt sich die Rechtmäßigkeit bei summarischer Prüfung nicht eindeutig beurteilen, bedarf es schließlich einer allgemeinen Interessenabwägung im Sinne einer Folgenabwägung. Dabei sind die Folgen gegenüberzustellen, die einerseits einträten, wenn dem Antrag stattgegeben wird, der angefochtene Bescheid sich aber später im Hauptsacheverfahren als rechtmäßig erweist bzw. die andererseits eintreten, wenn der Antrag abgelehnt wird, der Bescheid sich aber später im Hauptsacheverfahren als rechtswidrig erweist (BVerwG, Beschluss vom 22. März 2010 – 7 VR 1.10 –, Rn. 13, juris; Schleswig-Holsteinisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 06. August 1991 – 4 M 109/91 –, juris).
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Nach diesen Grundsätzen erweist sich der Antrag als unbegründet.
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Die in dem Bescheid vom 12. Oktober 2021 angeordnete Rücknahme der Niederlassungserlaubnis und Rückgabe des verkörperten Aufenthaltstitels sowie die Abschiebungsandrohung sind offensichtlich rechtmäßig, es besteht darüber hinaus an der Rücknahme der Niederlassungserlaubnis und der Anordnung zur Rückgabe der Niederlassungserlaubnis ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung.
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Die Rücknahme der am 25. November 2010 erteilten Niederlassungserlaubnis ist – unabhängig von einer Rücknahme der davor erteilten Aufenthaltstitel – offensichtlich rechtmäßig.
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Die Rücknahme findet ihre Rechtsgrundlage in § 116 Abs. 1 Satz 1 LVwG. Danach kann ein rechtswidriger Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder die Vergangenheit zurückgenommen werden. Diese allgemeine Rücknahmevorschrift ist anwendbar, weil das Aufenthaltsgesetz in seinen den Widerruf und das Erlöschen eines Aufenthaltstitels regelnden §§ 51, 52 keine abschließende Regelung getroffen hat. Insbesondere führt die Regelung des § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG, wonach ein Aufenthaltstitel widerrufen werden kann, wenn die Rechtsstellung als Flüchtling erlischt oder unwirksam wird, nicht zu einem Ausschluss der Anwendbarkeit der Rücknahmeregeln. Der Widerruf eines Aufenthaltstitels nach § 52 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 AufenthG kann nur mit Wirkung für die Zukunft, also ex nunc, erfolgen. Zwar ist diese Beschränkung des Widerrufs in § 52 nicht ausdrücklich genannt, daraus kann jedoch nicht geschlossen werden, der Gesetzgeber habe im Bereich des Aufenthaltsrechts den Widerruf auch mit Rückwirkung zulassen wollen (Hailbronner in: Hailbronner, Ausländerrecht, 5. Update Dezember 2021, I. Entstehungsgeschichte und Allgemeines, Rn. 6). Dem Antragsgegner geht es jedoch auch nach der Begründung des Bescheides gerade darum, die durch eine Täuschung des Antragstellers erlangte Niederlassungserlaubnis vollständig, also auch mit Wirkung für die Vergangenheit, aufzuheben.
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Die am 25. November 2010 erteilte Niederlassungserlaubnis ist von Anfang an rechtswidrig gewesen, weil die Voraussetzungen für die Erteilung eine Niederlassungserlaubnis nicht vorgelegen haben.
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Nach § 26 Abs. 3 AufenthG in der im Zeitpunkt der Erteilung der Niederlassungserlaubnis am 25. November 2010 geltenden Fassung der Bekanntmachung vom 25. Februar 2008 (BGBl. I Seite 162) ist einem Ausländer, der seit drei Jahren eine Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1 oder 2 besitzt, eine Niederlassungserlaubnis zu erteilen, wenn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gemäß § 73 Abs. 2a des Asylverfahrensgesetzes mitgeteilt hat, dass die Voraussetzungen für den Widerruf oder die Rücknahme nicht vorliegen. Nach § 26 Abs. 4 AufenthG in der damals maßgebenden Fassung kann im Übrigen einem Ausländer, der seit sieben Jahren eine Aufenthaltserlaubnis nach diesem Abschnitt besitzt, eine Niederlassungserlaubnis erteilt werden, wenn die in § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 bis 9 bezeichneten Voraussetzungen vorliegen. § 9 Abs. 2 Satz 2 bis 6 gilt entsprechend. Die Aufenthaltszeit des der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis vorangegangenen Asylverfahrens wird abweichend von § 55 Abs. 3 des Asylverfahrensgesetzes auf die Frist angerechnet.
- 52
Ein Anspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis bestand für den Antragsteller sowohl nach Absatz 3 als auch nach Absatz 4 nicht. Der Antragsteller verfügte zwar über eine am 12. Oktober 2010 verlängerte und bis zum 22. September 2012 befristete Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. AufenthG, die mit dem Zeitpunkt der Erteilung der Niederlassungserlaubnis am 25. November 2010 für die Zukunft ihre Erledigung im Sinne von § 112 Abs. 2 LVwG gefunden hatte und mit der Rücknahme der Niederlassungserlaubnis auch nicht mehr für den Zeitraum bis zum 22. September 2012 wiederauflebte (vgl. BVerwG, Urteil vom 19. April 2011 – 1 C 2.10 –, BVerwGE 139, 337-346, Rn. 16; VG Oldenburg (Oldenburg), Urteil vom 31. Mai 2010 – 11 A 1520/09 –, Rn. 35, juris). Die Vorschrift des § 26 Abs. 3 und 4 AufenthG a.F. erfordert jedoch nach ihrem Regelungszweck nicht nur den vorherigen Besitz einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 1 oder Abs. 2 Satz 1 1. Alt., sondern darüber hinaus auch, dass der Ausländer bei Erteilung der Niederlassungserlaubnis noch über den maßgeblichen Schutzstatus verfügt und dieser nicht nach § 73 Abs. 1 AsylVfG widerrufen oder nach Absatz 2 AsylVfG mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen worden ist. Nur diesen Personen soll der besondere Status eines unbefristeten Aufenthaltsrechts verliehen werden. Dafür spricht neben dem Zweck der Vorschrift auch die Begründung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung vom 7. Februar 2003 zum Gesetz zur Steuerung und Begrenzung der Zuwanderung und zur Regelung des Aufenthalts und der Integration von Unionsbürgern und Ausländern (Zuwanderungsgesetz; Bundestags-Drucksache 15/420, Seite 80) in dem es heißt: „Absatz 3 sieht vor, dass Asylberechtigten und sonstigen Personen, die die Rechtsstellung ausländischer Flüchtlinge genießen, nach drei Jahren eine Niederlassungserlaubnis erteilt wird, sofern das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge nicht mitgeteilt hat, dass die Voraussetzungen für die Anerkennung entfallen sind. Den betroffenen Personen wird damit die Perspektive für eine dauerhafte Lebensplanung in Deutschland eröffnet. Die Vorschrift erfasst auch Rücknahmen auf der Grundlage des § 48 VwVfG in den Fällen, in den die Asylanerkennung oder Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 1 AufenthG von Anfang an rechtswidrig war, für die jedoch kein Widerrufs- oder Rücknahmegrund nach § 73 AsylVfG vorliegt.“
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Vorliegend hat jedoch ein Rücknahmegrund nach § 73 Abs. 2 AsylVfG, jetzt AsylG, vorgelegen und der Schutzstatus ist auch mit Wirkung für die Vergangenheit, die auch den Zeitpunkt der Erteilung der Niederlassungserlaubnis am 25. November 2010 umfasst, zurückgenommen worden. Der Antragsteller verfügte deshalb durch die Rücknahme der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft am 25. November 2010 nicht mehr über den für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3, 4 AufenthG erforderlichen Schutzstatus. Die mit Wirkung für die Vergangenheit erklärte Rücknahme des gewährten Schutzstatus durch das Bundesamt ist wegen der Verbindlichkeit asylrechtlicher Entscheidungen (§ 6 AsylG) im aufenthaltsrechtlichen Verfahren zu berücksichtigen (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Juni 2017 – 1 C 16.16 –, BVerwGE 159, 85-95, Rn. 24). Es kommt deshalb für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der erteilten Niederlassungserlaubnis entscheidungserheblich nicht auf die nunmehr von dem Antragsgegner mit sofortiger Vollziehung erlassene Rücknahme der vorherigen Aufenthaltstitel an, die zusätzlich das Tatbestandsmerkmal des Besitzes einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 2 Satz 1 1. Alt. AufenthG für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 oder 4 AufenthG a.F. AufenthG entfallen lässt.
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Auf die Rücknahme eines Aufenthaltstitels findet die Vertrauensschutzregelung des § 116 Abs. 2 LVwG keine Anwendung, denn diese Regelung bezieht sich nur auf einen Verwaltungsakt, der eine einmalige oder laufende Geldleistung oder teilbare Sachleistung gewährt oder dafür Voraussetzung ist. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts hat bei der Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes, der nicht auf eine Geld- oder teilbare Sachleistung gerichtet ist, nach § 48 Abs. 1 und 3 VwVfG, die der Regelung des § 116 Abs. 1 und 3 LVwG entsprechen, die Behörde allenfalls erst auf der Rechtsfolgenseite im Rahmen ihrer gebotenen Ermessensausübung den Schutz des Vertrauens auf den Bestand des Verwaltungsaktes mit dem öffentlichen Interesse an seiner Rücknahme abzuwägen (BVerwG, Beschluss vom 30. September 2003 – 2 B 10.03 – Buchholz 237.7 § 20 NWLPG Nr. 1 für die Rücknahme einer Prüfungsentscheidung). § 48 Abs. 3 VwVfG gestalte den Vertrauensschutz bei der Rücknahme aller rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakte aus, deren Aufrechterhaltung weniger fiskalische Interessen berühre, sondern die stärker staatsbezogen seien und deren Aufrechterhaltung daher schwerer erträglich sei als in den Fällen des § 48 Abs. 2 VwVfG. Das der Behörde in § 48 Abs. 1 i.V.m. Abs. 3 VwVfG eröffnete Ermessen stelle insbesondere sicher, dass dem Vertrauensschutz im Hinblick auf die nichtvermögensrechtlichen Folgen einer Rücknahme – etwa bei Verlust der Staatsangehörigkeit – Rechnung getragen werde (BVerwG, Urteil vom 28. Mai 2015 – 1 C 24.14 –, BVerwGE 152, 164-179, Rn. 33).
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Der Antragsgegner hat das ihm bei der Rücknahme der Niederlassungserlaubnis nach § 116 Abs. 1 Satz 1 LVwG eingeräumte Ermessen fehlerfrei ausgeübt, insbesondere hat er das Ermessen entsprechend dem Zweck der gesetzlichen Ermessensermächtigung betätigt (§ 114 Satz 1 VwGO).
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Bei Ermessensentscheidungen über die Rücknahme eines Verwaltungsakts kann auch außerhalb des Anwendungsbereichs des § 116 Abs. 2 LVwG berücksichtigt werden, in welcher Weise der Begünstigte auf den Bestand vertraut und hierbei bereits Belastungen auf sich genommen hat (BVerwG, Beschluss vom 10. Februar 1994 – 4 B 26.94 –, Rn. 9, juris). Dabei stehen die nichtvermögensrechtlichen Folgen der Rücknahme im Vordergrund (BVerwG, Urteil vom 28. Mai 2015 – 1 C 24.14 –, BVerwGE 152, 164-179, Rn. 33). Zwar ist bei der im Rahmen der Ermessensausübung vorzunehmenden Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Herstellung rechtmäßiger Verhältnisse und dem Vertrauensschutz des Empfängers eines ihn begünstigenden Verwaltungsaktes, dessen Erlass er etwa durch unrichtige Angaben erwirkt hat oder dessen Rechtswidrigkeit er kannte oder hätte kennen müssen, auch der gesetzlichen Wertung des § 48 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 3 Nr. 1-3 VwVfG (§ 116 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Abs. 2 Satz 3 Nr. 1-3 LVwG) Rechnung zu tragen; dies wird häufig dazu führen, dass in diesen Fällen das öffentliche Interesse an der Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes bei der Abwägung höher zu bewerten ist. Diese Regelung schließt jedoch lediglich die Zuerkennung eines Vermögensausgleichs zwingend aus, führt aber nicht zu einer strikt gebundenen Entscheidung über die Rücknahme des rechtswidrigen Verwaltungsaktes unter Außerachtlassung auch sämtlicher nicht vermögensrechtlicher Folgen der Rücknahme (BVerwG, Urteil vom 28. Mai 2015 – 1 C 24.14 –, Rn. 33, juris). Daher ist bei einer Rücknahme bereits unanfechtbar gewordener Verwaltungsakte zu prüfen, ob es aufgrund besonderer Umstände erforderlich erscheint, von der grundsätzlichen Entscheidung des Gesetzes zugunsten der Bestandskraft und damit der Rechtssicherheit ausnahmsweise abzuweichen. Dabei sind neben den in Rede stehenden öffentlichen Interessen sowie der Art und Intensität des mit der Rücknahme zu korrigierenden Rechtsverstoßes auch die Auswirkungen für den Betroffenen in den Blick zu nehmen und nach ihrer Bedeutung angemessen zu berücksichtigen (Oberverwaltungsgericht des Saarlandes, Urteil vom 11. März 2010 – 2 A 491/09 –, Rn. 35, juris). Eine Rücknahme kann mit Wirkung für die Vergangenheit oder Zukunft verfügt werden; die Ermessenerwägungen der Ausländerbehörde müssen erkennen lassen, dass die Alternativen der Rücknahme ex tunc oder ex nunc gesehen und abgewogen worden sind (OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 26. März 2009 - 2 M 14/09 -, Rn. 17, juris; Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht, Urteil vom 15. November 2018 – 1 A 40/15 –, Rn. 36, juris).
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Es ist rechtlich nicht zu beanstanden, dass der Antragsgegner im Rahmen der Ausübung seines ihm durch § 116 Abs. 1 LVwG eingeräumten Ermessens dem öffentlichen Interesse an der Herbeiführung rechtmäßiger Zustände Vorrang vor dem privaten Interesse des Antragstellers an dem Fortbestand der Niederlassungserlaubnis eingeräumt hat. Es besteht ein berechtigtes öffentliches Interesse daran, Verstöße gegen die ausländerrechtlichen Bestimmungen konsequent zu ahnden, um einen Nachahmungseffekt zu verhindern. Dieses von dem Antragsgegner berücksichtigte öffentliche Interesse ist besonders hoch zu gewichten, wenn Vorteile, wie die Erteilung eines Aufenthaltstitels, durch eine arglistige Täuschung erwirkt worden sind.
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Diese Gewichtung folgt auch aus dem Grundsatz, dass eine Rechtsordnung nicht Prämien auf die Missachtung ihrer selbst setzen darf. Sie schafft sonst Anreize zur Rechtsverletzung, diskriminiert rechtstreues Verhalten und untergräbt damit die Voraussetzungen ihrer eigenen Wirksamkeit. Die rechtlichen Rahmenbedingungen dürfen nicht so beschaffen sein, dass sie – zumindest aus der Sicht der weniger Gewissenhaften – zu rechtswidrigem Verhalten oder zur Herstellung rechtswidriger Zustände einladen. Das Recht gewährt dem missbräuchlich Handelnden für Rechtspositionen, die er in Widerspruch zum geltenden Recht durch Täuschung oder noch schwerwiegendere Missbräuche erwirkt hat, in der Regel keinen Bestandsschutz, sondern ermöglicht es, den Erwerb der Rechtsposition rückgängig zu machen. Es handelt sich um die nächstliegende Möglichkeit, dem geltenden Recht Nachdruck zu verleihen und eine Begünstigung von Rechtsverstößen zu vermeiden (BVerfG, Urteil vom 24. Mai 2006 – 2 BvR 669/04 –, BVerfGE 116, 24-69, Rn. 63 – 65; vgl. auch zum Unionsrecht im Anwendungsbereich der Zusammenführungsrichtlinie: EuGH, Urteil vom 14. März 2019 – C-557/17 –, Rn. 134, juris: „Angesichts der mit der Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten verbundenen umfassenden Rechte ist es erforderlich, dass die Mitgliedstaaten gegen Betrug wirksam vorgehen können, indem sie dem Begünstigten die auf einer Täuschung beruhende Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten entziehen“).
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Der Antragsteller hat bei der Erteilung der Niederlassungserlaubnis die Behörde vorsätzlich arglistig getäuscht. Dies rechtfertigt, das öffentliche Interesse an einer Rücknahme hoch zu gewichten. Eine arglistige Täuschung liegt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vor, wenn der Verwaltungsakt durch Angaben, deren Unrichtigkeit dem Antragsteller bewusst war oder deren Unrichtigkeit er für möglich hält, jedoch in Kauf nimmt, oder durch Verschweigen wahrer Tatsachen bei der Behörde einen Irrtum in dem Bewusstsein hervorruft, diese durch Täuschung zu einer günstigen Entschließung zu bestimmen. Unrichtige Angaben sind stets eine Täuschung, unabhängig davon, ob die Behörde danach gefragt hat oder nicht. Das Verschweigen von Tatsachen ist eine Täuschung, wenn die Behörde nach Tatsachen gefragt hat oder aber der Betreffende auch ohne Befragung weiß oder in Kauf nimmt, dass die verschwiegenen Tatsachen für die Entscheidung der Behörde erheblich sind oder sein können, wenn also das Verschweigen im Zusammenhang mit offenbarten Tatsachen ein falsches Bild ergibt (Oberverwaltungsgericht für das Land Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 23. April 1998 – 2 M 168/97 –, Rn. 19, juris), und der Betreffende auch ohne Befragung die Entscheidungserheblichkeit verschwiegener Tatsachen kannte bzw. hätte kennen müssen (Schoch/Schneider VwVfG/Schoch, Juli 2020, VwVfG § 48 Rn. 160). Eine arglistige Täuschung liegt danach dann vor, wenn der Täuschende erkennt und in Kauf nimmt, dass die Behörde auf Grund seines Verhaltens für sie wesentliche Umstände als gegeben ansieht, die in Wahrheit nicht vorliegen oder – umgekehrt – den Erlass des Verwaltungsakts hindernde Umstände als nicht gegeben ansieht, obwohl solche in Wahrheit vorliegen (BVerwG, Urteil vom 18. September 1985 – 2 C 30.84 –, Rn. 24, juris; zur arglistigen Täuschung bei Rücknahme eine Aufenthaltserlaubnis: VG Hamburg, Beschluss vom 1. März 2002 – 13 VG 5100/2001 –, Rn. 20, juris).
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Eine arglistige Täuschung ist schon dann für die Entscheidung ursächlich, wenn sich feststellen lässt, dass die Behörde bei Kenntnis des wahren Sachverhalts von der Entscheidung jedenfalls zu diesem Zeitpunkt Abstand genommen hätte. Hiernach genügt es für die Ursächlichkeit der Täuschung, dass die Behörde ohne sie die Entscheidung nicht alsbald getroffen, sondern zunächst weitere Prüfungen und Erwägungen angestellt und erst auf dieser vervollständigten Grundlage ihre Entscheidung getroffen hätte (BVerwG, Beschluss vom 29. Juli 1998 – 2 B 63.98 –, Rn. 5, juris).
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So liegt der Fall hier. Der Antragsteller hat zunächst durch falsche Angaben über seine Identität, seine Staatsangehörigkeit und sein Verfolgungsschicksal bei dem zuständigen Bundesamt im Asylverfahren einen Schutzstatus erwirkt, dem nach heutigem Recht die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entspricht. Diesen durch Täuschung erlangten Schutzstatus nutzte er aus, um unter Aufrechterhaltung der Täuschung bei dem Antragsgegner Aufenthaltstitel zu erlangen, die ausschließlich im Hinblick auf den gewährten asylrechtlichen Schutzstatus bewilligt worden sind. Dies gilt auch für die am 25. November 2010 erlassene Niederlassungserlaubnis, die ausschließlich aufgrund des gewährten Schutzstatus und der zuvor gewährten Aufenthaltstitel von dem Antragsgegner erteilt wurde. Dem Antragsteller war bewusst, dass er diesen Aufenthaltstitel auch nur aufgrund des durch Täuschung erreichten Schutzstatus erlangen konnte. Der Antragsteller wäre daher nach den genannten Grundsätzen verpflichtet gewesen, die Ausländerbehörde über die für den erteilten Schutzstatus maßgebenden tatsächlichen Umstände auch im Verfahren auf Erteilung der auf der Grundlage des gewährten Schutzstatus beantragten Aufenthaltstitel aufzuklären. Der Antragsgegner hätte dann bei Kenntnis des wahren Sachverhalts von der Entscheidung über die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis im Jahre 2010 jedenfalls zu diesem Zeitpunkt Abstand genommen und zunächst bei dem Bundesamt auf eine Aufhebung der Flüchtlingsanerkennung hingewirkt (vgl. BVerwG, Urteil vom 1. Juni 2017 – 1 C 16.16 –, BVerwGE 159, 85-95, Rn. 24), zumindest jedoch dort vor einer Entscheidung nachgefragt, ob das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge aufgrund der begangenen Täuschung die Mitteilung gemäß § 73 Abs. 2a des Asylverfahrensgesetzes, dass die Voraussetzungen für den Widerruf oder die Rücknahme nicht vorliegen, die nach § 26 Abs. 3 AufenthG a.F. für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach dieser Vorschrift erforderlich gewesen ist, korrigieren werde. Die arglistige Täuschung ist demnach auch ursächlich für die Erteilung der Niederlassungserlaubnis gewesen.
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Die Rücknahme der Niederlassungserlaubnis leidet auch nicht deshalb an einem Ermessensfehler, weil der Antragsgegner die grundsätzlich bestehende Möglichkeit einer Rücknahme erst mit Wirkung für die Zukunft nicht gesehen und erwogen haben könnte. Dem Antragsgegner ging es nach dem Inhalt der Begründung des Bescheides darum, wegen der begangenen Täuschung die dadurch erlangte Niederlassungserlaubnis vollständig zu beseitigen. Er hat dazu ausgeführt, dass an der Beseitigung eines rechtswidrigen Aufenthaltstitels ein öffentliches Interesse auch dann bestehen kann, wenn dieses nicht zugleich darauf gerichtet ist, dass der betroffene Ausländer Deutschland verlässt. Der Antragsgegner hat dann zur Begründung seiner Entscheidung, die Niederlassungserlaubnis mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen unter anderem auf die Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge Bezug genommen. Dieses hat das öffentliche Interesse an der Rücknahme unter anderem mit der jahrzehntelangen Täuschung über die Identität begründet und ausgeführt, dass die Rücknahme mit Wirkung für die Vergangenheit erfolge und keine Gründe ersichtlich seien, die in diesem Fall ausnahmsweise eine Wirkung für die Zukunft rechtfertigen könnten.
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Ein fehlender Vertrauensschutz durch eine begangene arglistige Täuschung bei Erteilung einer Niederlassungserlaubnis legt in der Regel die Rücknahme des Verwaltungsaktes für die Vergangenheit nahe (VG München, Urteil vom 26. Mai 2009 – M 4 K 09.436 –, Rn. 31, juris). Das Erwirken eines Verwaltungsaktes durch arglistige Täuschung ist eine besondere Fallgestaltung, in der der Wiederherstellung der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung – vorliegend durch vollständige Rücknahme der durch Täuschung erlangten Niederlassungserlaubnis – regelmäßig Vorrang vor den Schutzgütern der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes einzuräumen ist (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 22. März 2017 – 5 C 4.16 –, BVerwGE 158, 258-271, Rn. 41). Gründe, hier im aufenthaltsrechtlichen Verfahren der Rücknahme eines Aufenthaltstitels von diesem Grundsatz abzusehen, sind nicht ersichtlich und von dem Antragsteller auch im Rahmen der erfolgten Anhörung zur Rücknahme nicht vorgetragen worden. Der Antragsteller konnte seine aufenthaltsrechtliche Position in der Vergangenheit nicht als gefestigt ansehen, da ihm bewusst sein musste, dass ihm durch die durch Täuschung erlangten fehlerhaften Aufenthaltstitel von Rechts wegen nicht das gewährte Aufenthaltsrecht zustehen konnte.
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Der Antragsgegner hat im Rahmen seiner Ermessensentscheidung die Belange des Antragstellers und die entgegenstehenden öffentlichen Belange angemessen abgewogen. Er hat insbesondere den langjährigen Aufenthalt des Antragstellers im Bundesgebiet gewürdigt und dabei aber auch zutreffend auf die erst sehr spät eingetretene Eingliederung in das Arbeitsleben hingewiesen, dabei lagen ihm die neuesten Erkenntnisse zur Berufstätigkeit des Antragstellers und … noch nicht vor, diese sind dann aber von dem Antragsgegner im Laufe des weiteren Verfahrens gewürdigt worden. Dem Antragsgegner ging es bei seiner Entscheidung darum, dem Antragsteller den erlangten besonderen Aufenthaltstitel, nämlich eine Niederlassungserlaubnis für nach dem Asylrecht besonders schutzbedürftige Personen, der durch Täuschung erlangt wurde, zu beseitigen. Möglichen Bleibeinteressen des Antragstellers, denen grundsätzlich durch Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu einem anderen Aufenthaltszweck Rechnung getragen werden könnte, sind bei der Abwägung im Rahmen der Rücknahme nicht zu berücksichtigen. Aufenthaltstitel werden nach § 7 Abs. 1 Satz 2 AufenthG jeweils für einen besonderen Aufenthaltszweck erteilt (sog. Trennungsprinzip vgl. BVerwG, Urteile vom 9. Juni 2009 – 1 C 11.08 –, Rn. 13, juris und vom 4. September 2007 – 1 C 43.06 –, Rn. 26, juris; OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24. März 2021 – OVG 11 B 9.18 –, Rn. 19, juris). Der mit der Niederlassungserlaubnis nach § 26 Abs. 3 AufenthG verfolgte Aufenthaltszweck für nach dem Asylrecht besonders schutzbedürftige Personen lag bei dem Antragsteller tatsächlich nicht vor. Ob wegen des langjährigen Aufenthalts des Antragstellers und der bislang erreichten Integration ein Aufenthaltstitel zu einem anderen Aufenthaltszweck, etwa der Beschäftigung oder aus sonstigen humanitären Gründen, erteilt werden kann, ist nicht im Verfahren der Rücknahme einer Niederlassungserlaubnis zu klären und in die Ermessenserwägungen einzustellen, weil der Niederlassungserlaubnis mit der Gewährung eines unbefristeten Aufenthaltsrechts für nach dem Asylrecht besonders schutzbedürftige Personen ein ganz anderer Zweck zugrunde lag.
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In einem Verfahren auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu einem anderen Aufenthaltszweck wäre zu klären, ob bei dem Antragsteller von einer gelungenen sozialen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Integration in hiesige Lebensverhältnisse auszugehen wäre, die in den Schutzbereich des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK fällt – der Eingriffe nur in den Schranken des Art. 8 Abs. 2 EMRK zulässt – und ob sonstige Gründe, etwa familiäre Lebenshilfe oder die Berufstätigkeit, den weiteren Aufenthalt des Antragstellers im Bundesgebiet rechtfertigen könnten. Es entspricht bei der Rücknahme eines Aufenthaltstitels vielmehr sachgerechter Ermessensausübung, wenn die Ausländerbehörde einen durch Täuschung erlangten Aufenthaltstitel zu einem bestimmten, tatsächlich nicht vorliegenden, Aufenthaltszweck auch dann zurücknimmt, wenn unter bestimmten Voraussetzungen später die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis wieder möglich erscheint (Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 8. Mai 2006 – 24 CS 06.908 –, Rn. 22, juris; Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 11. April 2011 – 2 M 16/11 –, juris; vgl. auch BVerwG, Urteil vom 20. Februar 2003 – 1 C 13.02 –, BVerwGE 117, 380-391 zum Widerruf einer nach § 68 AsylVfG 1992 erteilten unbefristeten Aufenthaltserlaubnis gemäß § 43 Abs. 1 Nr. 4 AuslG 1990 bei Wegfall der Asylberechtigung, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels aus anderen Gründen erfüllt sind). Ob insofern mit der Rücknahme ein gleichzeitig zu bescheidendes Begehren auf Neuerteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus anderen Gründen vorliegt, das hilfsweise für den Fall geltend gemacht werden könnte, dass sich die Rücknahme der bisherigen Aufenthaltserlaubnis als rechtmäßig erweist (so Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 11. April 2011 – 2 M 16/11 –, juris im Anschluss an BVerwG, Urteil vom 9. Juni 2009 – 1 C 11.08 –, BVerwGE 134, 124-139, Rn. 14), ist eine Frage des Einzelfalles und jedenfalls nicht Gegenstand des vorliegenden vorläufigen Rechtsschutzverfahrens.
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Der Antragsgegner ist ohne Ermessensfehler bei der Abwägung zu dem Ergebnis gelangt, dass in Anbetracht der Intensität und Dauerhaftigkeit der von dem Antragsteller begangenen Täuschung das öffentliche Interesse an der Rücknahme höher zu gewichten ist als die persönlichen Belange des Antragstellers.
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Die Rücknahme der Niederlassungserlaubnis wird auch nicht durch § 116 Abs. 4 Satz 1 LVwG gehindert, weil die dort festgelegte Jahresfrist nach Kenntnis der für die Rücknahme maßgebenden Umstände durch die Behörde vorliegend nicht eingehalten werden muss, da der Antragsteller die Niederlassungserlaubnis durch arglistige Täuschung erwirkt hat (§ 116 Abs. 4 Satz 2 i. V. m. Abs. 2 Satz 3 Nr. 1 LVwG). Die Jahresfrist gilt nach § 116 Abs. 4 Satz 2 LVwG nicht im Falle des Absatzes 2 Satz 3 Nr. 1. Absatz 4 Satz 2 erweckt den Eindruck, nur bei Absatz 2 Satz 3 Nr. 1, also nur bei einem Geldleistungsverwaltungsakt, sei eine zeitlich unbeschränkte Rücknahme bei arglistiger Täuschung, Drohung oder Bestechung möglich. Dennoch gilt dies auch für die Verwaltungsakte des Absatzes 3. Wie Absatz 3 Satz 2 zeigt, soll nämlich bei beiden Fallgruppen unter den Voraussetzungen des Absatzes 2 Satz 3 Nr. 1 der Vertrauensschutz gleichermaßen entfallen (Stelkens/Bonk/Sachs/Sachs, 9. Aufl. 2018, VwVfG § 48 Rn. 209).
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Die Anordnung der Rückgabe des verkörperten Aufenthaltstitels durch den Antragsgegner in Ziffer 4 des Bescheides vom 12. Oktober 2021 ist ebenfalls offensichtlich rechtmäßig. Diese Anordnung findet ihre Rechtsgrundlage in der allgemeinen verwaltungsverfahrensrechtlichen Vorschrift des § 118b Abs. 1 Satz 1 LVwG. Danach kann die Behörde die aufgrund eines Verwaltungsaktes erteilten Urkunden, die zum Nachweis der Rechte aus dem Verwaltungsakt oder zu deren Ausübung bestimmt sind, zurückfordern, wenn ein Verwaltungsakt unanfechtbar widerrufen oder zurückgenommen ist oder seine Wirksamkeit aus anderem Grund nicht oder nicht mehr gegeben ist. Die spezialrechtlich geregelte Vorlagepflicht nach § 48 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist hier nicht anwendbar, weil diese sich nur auf eine vorübergehende Überlassung eines Aufenthaltstitels bezieht. Die Vorschrift des § 118b Abs. 1 Satz 1 LVwG ist entsprechend auf die Fälle anzuwenden, bei denen der die Wirksamkeit des Verwaltungsaktes aufhebende Bescheid seinerseits noch nicht unanfechtbar, wohl aber – wie hier – sofort vollziehbar ist. Eine auf § 118b Abs. 1 Satz 1 LVwG (§ 52 VwVfG) gestützte Rückforderung der Urkunden ist auch dann zuzulassen, wenn der die Wirksamkeit des Verwaltungsaktes aufhebende Bescheid seinerseits noch nicht unanfechtbar, wohl aber – wie hier – sofort vollziehbar ist (vgl. Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 15. Mai 1990 – 5 A 1692/89 –, Rn. 19, juris; Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 7. Dezember 1988 – 10 TH 4228/88 –, Rn. 4, juris, jeweils zu § 52 VwVfG). Denn die Bestimmung dient der Sicherheit des Rechtsverkehrs und der Verhinderung von Missbräuchen. Sie soll ausschließen – worauf auch der Antragsgegner abhebt –, dass behördliche Urkunden verfügbar bleiben, die eine in Wahrheit nicht mehr bestehende Befugnis dokumentieren.
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Es liegt auch ein besonderes öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung der Rücknahme und der Anordnung zur Rückgabe vor. Ist ein Aufenthaltstitel durch unrichtige oder unvollständige Angaben erwirkt worden, besteht nicht zuletzt ein besonderes öffentliches Interesse daran, dass der betreffende Ausländer die zu Unrecht erlangten Aufenthaltstitel, die vorliegend im Falle einer Niederlassungserlaubnis ein unbefristetes Aufenthaltsrecht ohne die durch eine Befristung mögliche laufende aufenthaltsrechtliche Kontrolle gewährte, nicht noch für einen nicht unerheblichen Zeitraum faktisch ausnutzen darf (vgl. Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 17. April 1996 – Bs VI (VII) 56/95 –, Rn. 13, juris; Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, Beschluss vom 28. August 2001 – 3 Bs 102/01 –, Rn. 30, juris; VG Hamburg, Beschluss vom 28. September 1998 – 22 VG 3884/98 –, Rn. 5, juris; VG München, Beschluss vom 23. April 2015 – M 12 S 15.632 –, Rn. 11, juris).
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Der Antrag ist auch unbegründet, soweit der Antragsgegner dem Antragsteller die Abschiebung nach Armenien, der Zielstaat ergibt sich erst aus der Begründung des Bescheides, oder einen anderen Staat unter Bestimmung einer Frist für die freiwillige Ausreise angedroht hat. Die Abschiebungsandrohung in Ziffer 2 des Bescheides vom 12. Oktober 2021 ist offensichtlich rechtmäßig, sodass die im Rahmen einer Entscheidung nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO erforderliche Interessenabwägung auch insoweit zulasten des Antragstellers ausfällt.
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Der Erlass einer Abschiebungsandrohung setzt grundsätzlich eine Ausreisepflicht voraus. Der Antragsteller ist nach § 50 Abs. 1 AufenthG kraft Gesetzes ausreisepflichtig. Nach dieser Vorschrift ist ein Ausländer zur Ausreise verpflichtet, wenn er einen erforderlichen Aufenthaltstitel nicht oder nicht mehr besitzt und ein Aufenthaltsrecht nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei nicht oder nicht mehr besteht. Der Antragsteller besitzt keinen Aufenthaltstitel mehr. Die auf den Erlasszeitpunkt zurückwirkende Rücknahme der Niederlassungserlaubnis führt dazu, dass diese erlischt und damit von Anfang an unwirksam wird (vgl. § 51 Abs. 1 Nr. 3 AufenthG, § 112 Abs. 2 LVwVfG). Ein Rechtsbehelf gegen die Rücknahme der Niederlassungserlaubnis lässt die Wirksamkeit der Rücknahmeentscheidung nach 84 Abs. 2 Satz 1 AufenthG unberührt. Entfaltet ein gegen die Rücknahme erhobener Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung, wäre allerdings die Rücknahme nicht vollziehbar (§ 80 Abs. 1 VwGO), bliebe aber wirksam. Der Widerspruch des Antragstellers entfaltet jedoch wegen der angeordneten sofortigen Vollziehung der Rücknahme keine aufschiebende Wirkung. Die Abschiebungsandrohung wurde nach Maßgabe des § 59 AufenthG erlassen. Gemäß § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung unter Bestimmung einer angemessenen Frist zwischen 7 und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise anzudrohen. Dass der Antragsgegner hier die Frist auf 30 Tage bestimmt hat, ist nach § § 59 Abs. 1 Satz 4 AufenthG zulässig. Der Antragsgegner hat gleichzeitig auf die Möglichkeit einer Fristverlängerung hingewiesen. Das Vorliegen von Abschiebungsverboten und Gründen für die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung stünde gemäß § 59 Abs. 3 Satz 1 AufenthG dem Erlass der Abschiebungsandrohung nicht entgegen. Die Rechtmäßigkeit einer Abschiebungsandrohung würde auch nicht die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht voraussetzen (vgl. OVG NRW, Beschluss vom 20. Februar 2009 – 18 A 2620/08 –, juris). Die Ausreisepflicht ist allerdings vorliegend nach § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG vollziehbar, weil der Verwaltungsakt, durch den der Antragsteller nach § 50 Abs. 1 ausreisepflichtig wird – dies ist hier die Rücknahme der Niederlassungserlaubnis –, vollziehbar ist.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 63 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2 i. V. m. § 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz (Auffangwert von 5.000 €).
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- § 25b AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- VwVfG § 48 Rücknahme eines rechtswidrigen Verwaltungsaktes 5x
- § 73 AsylVfG 1x (nicht zugeordnet)
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