Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (1. Kammer) - 1 B 21/22

Tenor

Die aufschiebende Wirkung der Widersprüche der Antragstellerin gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 29. März 2022 in Gestalt des Änderungsbescheides vom 1. April 2022 wird angeordnet.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auf 5.000 € festgesetzt.

Gründe

1

Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist als Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen die in den Bescheiden vom 29. März 2022 und 1. April 2022 gegenüber der Antragstellerin angeordnete tägliche Testpflicht ihrer Beschäftigten (mit der Bestimmung, dass alle Beschäftigte innerhalb geschlossener Räume des Betriebes unabhängig vom Impf- und Genesenenstatus bis zum 10.04.2022 im Sinne von § 2 Nummer 6 SchAusnahmV getestet sein müssen und die täglichen Testungen unter Angabe von Datum, Uhrzeit und Ergebnis unverzüglich zu dokumentieren sind, wobei die Dokumentation vier Wochen lang aufzubewahren und auf Verlangen der zuständigen Behörde vorzulegen ist) und die Androhung eines Zwangsgeldes, nach § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alt. VwGO zulässig und begründet.

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Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 1. Alt. VwGO i.V.m § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 VwGO kann das Gericht in dem vorliegenden Fall des nach § 28 Abs. 3 i. V. m. § 16 Abs. 8 IfSG hinsichtlich der angeordneten Testpflicht und nach § 248 Abs. 1 Satz 2 LVwG hinsichtlich des angedrohten Zwangsgeldes gesetzlich angeordneten Sofortvollzuges die aufschiebende Wirkung des Widerspruches ganz oder teilweise anordnen. Die gerichtliche Entscheidung ergeht dabei auf der Grundlage einer umfassenden Interessenabwägung. Gegenstand der Abwägung sind das Aufschubinteresse der Antragstellerin einerseits und das öffentliche Interesse an der Vollziehung des streitbefangenen Verwaltungsaktes andererseits. Im Rahmen dieser Interessenabwägung können auch Erkenntnisse über die Rechtmäßigkeit und die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsaktes, der vollzogen werden soll, Bedeutung erlangen, allerdings nicht als unmittelbare Entscheidungsgrundlage, sondern als in die Abwägung einzustellende Gesichtspunkte, wenn aufgrund der gebotenen summarischen Prüfung Erfolg oder Misserfolg des Rechtsbehelfs offensichtlich erscheinen. Lässt sich bei der summarischen Überprüfung die Rechtswidrigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes ohne Weiteres feststellen, ist sie also offensichtlich, so ist die aufschiebende Wirkung des Rechtsbehelfs anzuordnen, weil an der sofortigen Vollziehung eines offensichtlich rechtswidrigen Verwaltungsaktes kein öffentliches Interesse bestehen kann. Erweist sich nach der genannten Überprüfung der angefochtene Verwaltungsakt als offensichtlich rechtmäßig, so führt dies in Fällen des gesetzlich angeordneten Sofortvollzuges regelmäßig dazu, dass der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung abzulehnen ist.

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Nach diesen Grundsätzen ist vorliegend die aufschiebende Wirkung der Widersprüche gegen den Bescheid vom 29. März 2022 in Gestalt des Änderungsbescheides vom 1. April 2022 anzuordnen, weil die darin angeordneten Maßnahmen sowie die Androhung des Zwangsgeldes offensichtlich rechtswidrig sind.

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Die streitgegenständliche Anordnung einer Testpflicht der Beschäftigten gegenüber der Antragstellerin als Arbeitgeberin kann ihre Rechtsgrundlage nicht in der Vorschrift des § 28 Abs. 1 Satz 1, 2 Infektionsschutzgesetz (IfSG) finden. Nach dieser Vorschrift trifft die zuständige Behörde, wenn Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt werden oder sich ergibt, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in § 28a und in den §§ 29-31 genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten (Satz 1). Unter den Voraussetzungen von Satz 1 kann die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen von Menschen beschränken oder verbieten und Badeanstalten oder in § 33 genannte Gemeinschaftseinrichtungen oder Teile davon schließen (Satz 2). Eine Heilbehandlung darf nicht angeordnet werden (Satz 3). Die Grundrechte der Freiheit der Person (Art. 2 Abs. 2 Satz 2 des Grundgesetzes), der Versammlungsfreiheit (Art. 8 des Grundgesetzes), der Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 des Grundgesetzes) und der Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 des Grundgesetzes) werden insoweit eingeschränkt (Satz 4). § 28 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz IfSG verpflichtet die zuständigen Behörden zum Handeln (sog. gebundene Entscheidung) zur Ergreifung notwendiger Schutzmaßnahmen. Nur hinsichtlich Art und Umfang der Bekämpfungsmaßnahmen, dem "wie" des Eingreifens, ist der Behörde Ermessen eingeräumt. Es bestehen keine Zweifel daran, dass es sich bei der Infektion mit dem SARS-CoV-2 um eine übertragbare Krankheit im Sinne des § 2 Nr. 3 IfSG handelt, so dass der Anwendungsbereich des 5. Abschnitts des Infektionsschutzgesetzes, der sich mit der Bekämpfung übertragbarer Krankheiten befasst, eröffnet ist.

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Allerdings wird der Anwendungsbereich der Vorschrift des § 28 Abs. 1 IfSG insbesondere durch die Vorschrift des § 28a IfSG bei notwendigen Schutzmaßnahmen im Sinne des § 28 Absatz 1 Satz 1 und 2 zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) konkretisiert und beschränkt.

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Die Vorschrift des § 28a wurde durch Gesetz vom 18. November 2020 mit Wirkung zum 19. November 2020 in das Infektionsschutzgesetz eingefügt (BGBl. I S. 2397). Dabei enthält § 28a Abs. 1 IfSG eine konkretisierende Aufzählung möglicher notwendiger Schutzmaßnahmen im Sinne von § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 für die Dauer der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Abs. 1 Satz 1 IfSG durch den Deutschen Bundestag. Nach Abs. 1 Satz 1 Nr. 2a der Vorschrift kann für die Dauer der Feststellung einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite nach § 5 Absatz 1 Satz 1 durch den Deutschen Bundestag insbesondere die Verpflichtung zur Vorlage eines Impf-, Genesenen- oder Testnachweises eine notwendige Schutzmaßnahme sein. Absatz 2 der Vorschrift regelt die erhöhten Anforderungen an die Untersagung von Versammlungen und religiösen und weltanschaulichen Zusammenkünften, die Anordnung von Ausgangsbeschränkungen und die Untersagung des Betretens oder des Besuchs von Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens. In § 28a Abs. 3 IfSG werden unter anderem die vom Verordnungsgeber zu verfolgenden Zielsetzungen und die regional bezogenen 7-Tage-Inzidenzwerte, d.h. die Zahl der Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen, als Maßstab der Zulässigkeit von Schutzmaßnahmen geregelt. Absatz 4 regelt datenschutzrechtliche Anforderungen an die sog. Kontaktdatenerhebung und Absatz 5 verpflichtet die Landesverordnungsgeber zur Begründung und Befristung ihrer Maßnahmen. Schließlich regelt Absatz 6 das Recht zur Kumulation von Maßnahmen sowie ein allgemeines Abwägungsgebot.

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Die genannten Maßnahmen haben überwiegend zur Voraussetzung, dass der Deutschen Bundestag nach § 5 Abs. 1 Satz 1 IfSG eine epidemische Lage von nationaler Tragweite festgestellt hat. Diese Voraussetzung liegt jedoch gegenwärtig nicht mehr vor, sodass § 28a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2a IfSG als Rechtsgrundlage für die gegenüber der Antragstellerin angeordnete Testpflicht ausscheidet.

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Unabhängig von einer durch den Deutschen Bundestag nach § 5 Absatz 1 Satz 1 festgestellten epidemischen Lage von nationaler Tragweite können nach § 28a Abs. 8 Satz 1 Nr. 3 IfSG in einer konkret zu benennenden Gebietskörperschaft, in der durch eine epidemische Ausbreitung der Coronavirus-Krankheit 2019 (COVID-19) die konkrete Gefahr einer sich dynamisch ausbreitenden Infektionslage besteht, über den Absatz 7 hinaus auch weitere im Gesetz bezeichnete Maßnahmen notwendige Schutzmaßnahmen im Sinne von § 28 Absatz 1 Satz 1 und 2 sein, sofern das Parlament des betroffenen Landes das Vorliegen der konkreten Gefahr und die Anwendung konkreter Maßnahmen in dieser Gebietskörperschaft feststellt. Dazu gehören nach der genannten Vorschrift auch die Verpflichtung zur Vorlage eines Impf-, Genesenen- oder Testnachweises nach § 22a Absatz 1 bis 3 einschließlich der Vorlage eines amtlichen Lichtbildausweises sowie an die Vorlage solcher Nachweise anknüpfende Beschränkungen des Zugangs in Einrichtungen und Unternehmen nach § 23 Absatz 3 Satz 1 und § 36 Absatz 1 sowie in Betrieben, in Einrichtungen oder Angeboten mit Publikumsverkehr.

9

Der Landtag des Landes Schleswig-Holstein hat jedoch als Parlament des betroffenen Landes im Sinne des § 28a Abs. 8 Satz 1 IfSG insbesondere nicht in der 58. Tagung vom 23. bis 25. März, als dazu Gelegenheit bestanden hätte, das Vorliegen der konkreten Gefahr und die Anwendung konkreter Maßnahmen in einer Gebietskörperschaft festgestellt, sodass die angeordnete Testpflicht nicht in § 28a Abs. 8 Satz 1 Nr. 3 IfSG ihre Rechtsgrundlage finden kann.

10

Unabhängig von einer solchen Entscheidung des Landesparlaments und unabhängig von einer durch den Deutschen Bundestag nach § 5 Absatz 1 Satz 1 festgestellten epidemischen Lage von nationaler Tragweite können darüber hinaus nach § 28a Abs. 7 Satz 1 IfSG folgende Maßnahmen notwendige Schutzmaßnahmen im Sinne des § 28 Absatz 1 Satz 1 und 2 sein, soweit sie zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) erforderlich sind:

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1. die Verpflichtung zum Tragen einer Atemschutzmaske (FFP2 oder vergleichbar) oder einer medizinischen Gesichtsmaske (Mund-Nasen-Schutz) in

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a) Arztpraxen sowie in Einrichtungen und Unternehmen nach § 23 Absatz 3 Satz 1 Nummer 1 bis 5, 11 und 12 sowie § 36 Absatz 1 Nummer 2 und 7, soweit die Verpflichtung zur Abwendung einer Gefahr für Personen, die auf Grund ihres Alters oder ihres Gesundheitszustandes ein erhöhtes Risiko für einen schweren oder tödlichen Krankheitsverlauf der Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) haben, erforderlich ist,

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b) Verkehrsmitteln des öffentlichen Personennahverkehrs für Fahrgäste sowie das Kontroll- und Servicepersonal und das Fahr- und Steuerpersonal, soweit für dieses tätigkeitsbedingt physischer Kontakt zu anderen Personen besteht, und

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c) Einrichtungen nach § 36 Absatz 1 Nummer 3 und 4,

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2. die Verpflichtung zur Testung auf das Vorliegen einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 in

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a) Einrichtungen und Unternehmen nach § 23 Absatz 3 Satz 1 Nummer 1 und 11, also Krankenhäuser und ambulante Pflegedienste, die ambulante Intensivpflege in Einrichtungen, Wohngruppen oder sonstigen gemeinschaftlichen Wohnformen erbringen, sowie nach § 36 Absatz 1 Nummer 2, 4 und 7, also die in § 33 genannte Gemeinschaftseinrichtungen mit Ausnahme der Gemeinschaftseinrichtungen nach § 33 Nummer 2, nicht unter § 23 Abs. 5 Satz 1 fallende voll- oder teilstationäre Einrichtungen zur Betreuung und Unterbringung älterer, behinderter oder pflegebedürftiger Menschen oder vergleichbare Einrichtungen, Einrichtungen zur gemeinschaftlichen Unterbringung von Asylbewerbern, vollziehbar Ausreisepflichtige, Flüchtlingen und Spätaussiedler sowie nicht unter § 23 Abs. 5 Satz 1 fallende ambulante Pflegedienste und Unternehmen, die den Einrichtungen nach Nummer 2 vergleichbare Dienstleistungen anbieten; Angebote zur Unterstützung im Alltag im Sinne von § 45 a Abs. 1 Satz 1 des Elften Buches Sozialgesetzbuch zählen nicht zu den Dienstleistungen die mit angebotenen Einrichtungen nach Nummer 2 vergleichbar sind,

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b) Schulen, Kindertageseinrichtungen und

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c) Justizvollzugsanstalten, Abschiebungshafteinrichtungen, Maßregelvollzugseinrichtungen sowie andere Abteilungen oder Einrichtungen, wenn und soweit dort dauerhaft freiheitsentziehende Unterbringungen erfolgen, insbesondere psychiatrische Krankenhäuser, Heime der Jugendhilfe und für Senioren.

19

Bei dem Betrieb der Antragstellerin handelt es sich als Schlacht- und Zerlegungsbetrieb nicht um eine der in § 28a Abs. 7 Satz 1 Nr. 2 IfSG genannten Einrichtungen, sodass die Anordnung einer Testpflicht nicht auf Grundlage dieser Vorschrift ihr gegenüber möglich ist.

20

Nach § 28a Abs. 7 Satz 2 IfSG bleiben allerdings individuelle Schutzmaßnahmen gegenüber Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen oder Ausscheidern nach § 28 Absatz 1 Satz 1 sowie die Schließung von Einrichtungen und Betrieben im Einzelfall nach § 28 Absatz 1 Satz 1 und 2 unberührt. Der Antragsgegner hat die Anordnung der Testpflicht nicht auf diese Vorschrift gestützt. Die Voraussetzungen für die Anordnung einer Testpflicht gegenüber der Antragstellerin als Arbeitgeberin nach dieser Vorschrift liegen auch nicht vor. Die Antragstellerin gehört bei den individuellen Schutzmaßnahmen nicht zu dem genannten Personenkreis der Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen oder Ausscheidern nach § 28 Absatz 1 Satz 1 IfSG. Der Gesetzgeber hat bewusst den Kreis der Verpflichteten eingeschränkt. Dies ergibt sich aus dem zugrundeliegenden Entwurf der Fraktionen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP eines Gesetzes zur Änderung des Infektionsschutzgesetzes und weiterer Gesetze anlässlich der Aufhebung der Feststellung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite, Bundestags-Drucksache 20/15. Dort heißt es auf Seite 31:

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„Individuelle Schutzmaßnahmen gegenüber Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen oder Ausscheidern nach § 28 Absatz 1 Satz 1 bleiben unberührt. Damit sind Schutzmaßnahmen durch Verordnung oder auf Basis einer Allgemeinverfügung ausgeschlossen, ebenso Maßnahmen gegenüber Personen, die nicht zu diesem Personenkreis gehören. Möglich bleibt im Einzelfall auch, wenn Maßnahmen gegenüber Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen oder Ausscheidern nicht ausreichen, die Schließung von Gemeinschaftseinrichtungen im Sinne des § 33 (z. B. Schulen, Heimen oder Kindertagesstätten). Diese Maßnahmen können vor dem 19. März 2022, aber auch nach dem 19. März 2022 vorgesehen werden.“

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In der Beschlussempfehlung des Hauptausschusses, Bundestags-Drucksache 20/78, ist dann die Schließungsmöglichkeit auch auf Betriebe erweitert worden (Begründung Seite 14). Um eine solche Schließung eines Betriebes geht es jedoch vorliegend nicht. Die Antragstellerin erfüllt hinsichtlich der angeordneten Testpflicht nicht die in § 28a Abs. 7 Satz 2 IfSG genannten Voraussetzungen für eine Einzelmaßnahme ihr gegenüber. Der Gesetzgeber sieht insoweit Maßnahmen gegenüber der Personengruppe der Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen oder Ausscheider vor. Erst wenn diese nicht ausreichen, soll eine Schließung des Betriebes möglich sein. Daraus folgt, dass gegenüber der Schließung weniger eingriffsintensive Maßnahmen nur gegen die Personengruppe der Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen oder Ausscheider gerichtet werden dürfen und nicht gegenüber den Betrieben als Minusmaßnahme gegenüber einer Schließung.

23

Ein Rückgriff auf die Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG als Rechtsgrundlage für die angeordnete Testpflicht gegenüber der Antragstellerin scheidet vorliegend aus, weil die im Katalog des § 28a IfSG genannten Schutzmaßnahmen bei der Eindämmung der Corona-Pandemie als gegenüber der Generalklausel speziellere Ermächtigungen ausgestaltet sind. Dem steht nicht entgegen, dass es in § 28a Abs. 1 IfSG einleitend heißt, notwendige Schutzmaßnahmen im Sinne des § 28 Abs. 1 S. 1 und 2 IfSG könnten „insbesondere“ die Nachfolgenden sein. Die Bestimmungen des § 28a IfSG haben nicht nur klarstellenden Charakter und beschränken sich nicht in der Nennung von Regelbeispielen. Denn der Gesetzgeber hat § 28a in das Infektionsschutzgesetz eingefügt, um dem verfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt Rechnung zu tragen und damit den Beurteilungs- und Gestaltungsspielraum der Exekutive zu begrenzen. Anderenfalls liefen die Regelungen in § 28a IfSG leer, die in Verbindung mit § 28 Abs. 1 IfSG nicht nur eine hinreichende Ermächtigungsgrundlage für grundrechtsrelevante Eingriffe zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 schaffen, sondern gleichzeitig die Regelungsbefugnisse der Verwaltung bestimmen sollen. Ausweislich der Gesetzesbegründung wollte der Bundesgesetzgeber mit der Schaffung von § 28a IfSG auf die in der Öffentlichkeit und von Gerichten geäußerte Kritik an der Vereinbarkeit der bisherigen Generalklausel des § 28 IfSG mit dem Parlamentsvorbehalt und der Wesentlichkeitstheorie reagieren. Ausdrücklich heißt es: „Mit der Benennung nicht abschließender Regelbeispiele etwaiger Schutzmaßnahmen gibt der Gesetzgeber in Ausübung seiner Beobachtungs- und Korrekturpflicht Reichweite und Grenzen exekutiven Handelns vor“ (Bundestags-Drucksache 19/23944, Seite 22; vgl. dazu Thüringer Verfassungsgerichtshof, Beschluss vom 14. Dezember 2021 – 117/20 –, Rn. 210, juris).

24

Angesichts der Spezialität des § 28a IfSG ist ein Rückgriff auf die Rechtsgrundlage des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG lediglich für solche Schutzmaßnahmen eröffnet, die entweder hinter der Eingriffstiefe und -breite der im Katalog des § 28a IfSG aufgeführten Maßnahmen zurückbleiben (Minus-Maßnahmen) oder an ungeschriebene, gleichwertig qualifizierte Tatbestände gebunden sind (vgl. LVerfG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 26. März 2021 - LVG 4/21 -, Rn. 134, juris; Thüringer Verfassungsgerichtshof, Beschluss vom 14. Dezember 2021 – 117/20 –, Rn. 246 - 247, juris). Die Antragstellerin verweist zu Recht unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Landesverfassungsgerichts des Landes Sachsen-Anhalt (Urteil vom 26. März 2021 – LVG 4/21 –, Rn. 134, juris) darauf, dass die normative Wirkung des § 28a IfSG nicht derart aufgespalten werden, dass seine Rechtsfolgen – nämlich die Ermächtigungen zu besonders weitgehenden Grundrechtseingriffen – nur deklaratorisch wiederholen, was sich schon aus § 28 Abs. 1 IfSG ergibt, wohingegen seine besonderen Tatbestandsvoraussetzungen für dieselben Maßnahmen auf der Grundlage des § 28 Abs. 1 IfSG nicht gelten sollten. So sind alle Maßnahmen, die § 28a IfSG ausdrücklich an die in dieser Vorschrift genannten Voraussetzungen bindet, nur erlaubt, soweit die Voraussetzungen dieser spezielleren Vorschrift vorliegen. Ansonsten wäre die Regelung dieser tatbestandlichen Voraussetzung der Maßnahmen sinnentleert. Bei der gegenüber der Antragstellerin angeordneten Testpflicht handelt es sich entgegen der Auffassung des Antragsgegners nicht um eine Minus-Maßnahme. § 28a Abs. 8 Satz 1 Nr. 3 IfSG sieht die Verpflichtung zur Vorlage eines Impf-, Genesenen- oder Testnachweises und die an die Vorlage solcher Nachweise anknüpfende Beschränkung des Zugangs zu Betrieben vor und knüpft diese an bestimmte Voraussetzungen, die vorliegend jedoch nicht gegeben sind.

25

Es ist auch in dem Gesetzgebungsverfahren zum Änderungsgesetz vom 18. März 2022 hinreichend zum Ausdruck gekommen, dass der Gesetzgeber die Zulässigkeit von Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 im Wesentlichen in § 28a IfSG hat regeln wollen und insoweit ein Rückgriff auf die Generalklausel des § 28 IfSG nicht zulassen wollte. In dem zugrundeliegenden Gesetzentwurf der Fraktionen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP (Bundestagsdrucksache 20/958) heißt es: „Mit Ablauf des 19. März 2022 endet die Geltungsdauer der Rechtsgrundlage für die meisten Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19. Betroffen sind insbesondere die Regelungen in § 28a Absatz 7 bis 9 und § 28b des Infektionsschutzgesetzes (IfSG). Nach dem 19. März 2022 sollen die Länder nur noch befugt sein, unabhängig vom lokalen Infektionsgeschehen ausgewählte niedrigschwellige Maßnahmen anordnen zu dürfen: – Verpflichtung zum Tragen einer Atemschutzmaske oder einer medizinischen Gesichtsmaske (Maskenpflicht) zum Schutz vulnerabler Personen, beschränkt auf Krankenhäuser, Dialyseeinrichtungen, Pflegeeinrichtungen und ambulante Pflegedienste, in Einrichtungen zur gemeinschaftlichen Unterbringung von Asylbewerbern und im öffentlichen Personennahverkehr sowie – Testpflichten zum Schutz vulnerabler Personen in Krankenhäusern, Pflegeeinrichtungen und ambulanten Pflegeinrichtungen, Schulen, Kindertageseinrichtungen, in Einrichtungen zur gemeinschaftlichen Unterbringung von Asylbewerbern und Justizvollzugsanstalten, Abschiebungshafteinrichtungen, Maßregelvollzugseinrichtungen sowie anderen Abteilungen oder Einrichtungen, wenn und soweit dort dauerhaft freiheitsentziehende Unterbringungen erfolgen, insbesondere in psychiatrischen Krankenhäusern, Heimen der Jugendhilfe und für Senioren. Zudem bleibt bundesweit die Maskenpflicht im Luft- und Personenfernverkehr bestehen; sie kann jedoch von der Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates im Lichte des Infektionsgeschehens ausgesetzt werden. Möglich bleiben weiterhin individuelle Maßnahmen in einem Betrieb oder einer Einrichtung sowie gegenüber Kranken, Krankheitsverdächtigen, Ansteckungsverdächtigen oder Ausscheidern. Kommt es lokal begrenzt zu einer bedrohlichen Infektionslage (sog. „Hot Spot“), was aufgrund einer gefährlicheren Virusvariante oder aufgrund einer drohenden Überlastung der Krankenhauskapazitäten wegen besonders vieler Neuinfektionen oder eines besonders starken Anstiegs der Neuinfektionen der Fall sein kann, stehen erweiterte Schutzmaßnahmen für die betroffenen Gebietskörperschaften.“ Damit wird in dem Gesetzgebungsverfahren inhaltlich an die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 28a IfSG angeknüpft. Die dort genannten individuellen Schutzmaßnahmen sind in § 28 Abs. 7 Satz 2 an bestimmte Voraussetzungen gebunden.

26

Darüber hinaus hat der Gesetzgeber die zuvor in § 28b IfSG in der bis zum 19. März 2022 geltenden Fassung geltende Bestimmung, wonach Arbeitgeber und Beschäftigte Arbeitsstätten, in denen physische Kontakte von Arbeitgebern und Beschäftigten untereinander oder zu Dritten nicht ausgeschlossen werden können, nur betreten dürfen und Arbeitgeber Transporte von mehreren Beschäftigten zur Arbeitsstätte oder von der Arbeitsstätte nur durchführen dürfen, wenn sie geimpfte Personen, genesene Personen oder getestete Personen im Sinne der COVID-19-Schutzmaßnahmen-Ausnahmenverordnung in der jeweils geltenden Fassung sind und einen Impfnachweis, einen Genesenennachweis oder einen Testnachweis mit sich führen, zur Kontrolle verfügbar halten oder bei dem Arbeitgeber hinterlegt haben, nicht mehr verlängert. Dazu heißt es in dem zugrundeliegenden Gesetzentwurf (Bundestags-Drucksache 20/958, Seite 21): „§ 28b Absatz 1 bis 4 ist nur bis zum 19. März 2022 anwendbar. Von der Möglichkeit der Fristverlängerung nach Absatz 7 wird nicht Gebrauch gemacht. Die Absätze 1 bis 4 werden entsprechend dem geänderten Bedürfnis nach bundesweit einheitlichen Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 aufgehoben.“ Für den betrieblichen Infektionsschutz mit dem Ziel, das Risiko einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 bei der Arbeit zu minimieren, gelten derzeit noch die Vorschriften der SARS-CoV-2-Arbeitsschutzverordnung, die jedoch keine Befugnisnormen für die Infektionsschutzbehörden beinhalten und es nach Auffassung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales auch nicht erlauben, von Seiten des Arbeitgebers verbindliche Tests vorzusehen (BMAS - Betrieblicher Infektionsschutz).

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs.1 VwGO. Der Streitwert wurde gemäß § 63 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2 i. V. m. § 52 Abs. 2 Gerichtskostengesetz (Auffangwert von 5.000 €) festgesetzt.


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