Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (6. Kammer) - 6 B 10005/21

Tenor

Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 29.10.2021 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 15.10.2021 wird wiederhergestellt.

Die Kosten des Verfahrens trägt der Antragsgegner.

Der Streitwert wird auf 15.000 € festgesetzt.

Gründe

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Der Antrag,

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die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs vom 29.10.2021 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 15.10.2021, zugegangen am 25.10.2021, wiederherzustellen,

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ist zulässig. Insbesondere ist der Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 2. Alt VwGO statthaft, da der Antragsgegner von dem nach § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO geltenden Grundsatz der aufschiebenden Wirkung des Widerspruches im Bescheid vom 15.10.2021 abgewichen ist und nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO die sofortige Vollziehung der Beanstandung angeordnet hat.

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Der Antrag ist auch begründet. Die in Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotene Interessenabwägung ist in erster Linie an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache auszurichten. Sie fällt regelmäßig zugunsten der Behörde aus, wenn der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig ist und ein besonderes Interesse an seiner sofortigen Vollziehung besteht oder der Sofortvollzug gesetzlich angeordnet ist. Dagegen ist dem Aussetzungsantrag stattzugeben, wenn der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist, da an der sofortigen Vollziehung kein öffentliches Interesse bestehen kann. Lässt die im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotene summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage eine abschließende Beurteilung der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts nicht zu, so hat das Gericht eine eigenständige, von den Erfolgsaussichten unabhängige Abwägung der widerstreitenden Interessen vorzunehmen (vgl. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 2.3.2016 – 1 B 1375/15 –, juris Rn. 9; OVG Schleswig, Beschluss vom 6.8.1991 – 4 M 109/91 –, juris Rn. 5).

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Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs wiederherzustellen, da die Erfolgsaussichten in der Sache gegeben sind. Die Beanstandung vom 15.10.2021 erweist sich nach der summarischen Prüfung im Eilverfahren als rechtswidrig.

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Zunächst begegnet die Begründung der Anordnung der sofortigen Vollziehung zwar keinen formellen Bedenken. Nach § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO ist in Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO das besondere Interesse an der sofortigen Vollziehung des Verwaltungsaktes schriftlich zu begründen. Eine diesen Anforderungen genügende Begründung ist gegeben. Der Antragsgegner nennt mit der Gefahr für die Kinderbetreuung in der Gemeinde den für ihn wesentlichen Grund für die Anordnung der sofortigen Vollziehung der Beanstandung. Die Ausführungen hierzu sind zwar knapp, aber ausreichend um den maßgeblichen Beweggrund nachvollziehen zu können.

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Allerdings erweist sich die Beanstandung als rechtswidrig. Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 GO kann die Kommunalaufsichtsbehörde Beschlüsse und Anordnungen der Gemeinde, die das Recht verletzen, beanstanden und verlangen, dass die Gemeinde den Beschluss oder die Anordnung binnen einer angemessenen Frist aufhebt. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor. Es spricht zunächst vieles dafür, dass die beanstandeten Beschlüsse der Gemeindevertretung der Antragstellerin vom 19.7.2021 und vom 20.9.2021 bereits nicht rechtswidrig sind. Insbesondere durfte die Gemeindevertretung am 19.7.2021 die Kündigung des Trägervertrages beschließen. Gemäß dem nach dem Schreiben vom 24.4.2018 (Anlage Ast 3) fortgeltenden § 7 des Trägervertrages vom 22.11.1996 (Anlage Ast 2) beträgt die Kündigungsfrist 12 Monate. Darüber hinaus enthält weder diese Regelung noch der Trägervertrag als solcher Einschränkungen hinsichtlich etwaiger Kündigungsgründe. Auch aus dem Achten Buch des Sozialgesetzbuches (SGB VIII) oder dem Gesetz zur Förderung von Kindern in Kindertageseinrichtungen und in der Kindertagespflege (Kindertagesförderungsgesetz – KiTaG) ergeben sich keine speziellen Kündigungsgründe. Anders als der Antragsgegner meint, folgt auch aus dem Gebot zur gegenseitigen Rücksichtnahme und Treue nach § 242 BGB nicht, dass die Kündigung eines sachlichen Grundes bedarf. Nach § 242 BGB sind Leistungen so zu bewirken, wie Treu und Glauben mit Rücksicht auf die Verkehrssitte es erfordern. Dieser Grundsatz prägt die gesamte Rechtsordnung und gilt auch im öffentlichen Recht (vgl. BVerwG, Urteil vom 18.1.2001 – 3 C 7.00 –, juris Rn. 27, m.w.N.). Es sind keine Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass die Kündigung des Trägervertrages zu einem für das Zentrum für Kirchliche Dienste als KiTa-Träger schlechthin untragbaren Ergebnis führen würde. Die Kündigung des Vertrages als solche verletzt keine Schutz- oder Fürsorgepflichten. Auch ein besonders vertrauensbegründendes Verhalten oder eine erhöhte Schutzwürdigkeit des KiTa-Trägers sind nicht erkennbar. Insbesondere wurde die festgeschriebene zwölfmonatige Kündigungsfrist des § 7 des Trägervertrages eingehalten. Ferner ist zu berücksichtigen, dass noch kein derart beachtenswert langfristiges Vertragsverhältnis vorliegt, das über das übliche Maß hinausgehende Rücksichtnahmepflichten begründet. Vielmehr bestand der Trägervertrag mit dem Zentrum XX zum Zeitpunkt der Kündigung seit drei Jahren.

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Im Ergebnis kann dies jedoch dahinstehen, da jedenfalls der Antragsgegner das ihm zustehende Ermessen nicht ordnungsgemäß ausgeübt hat. Nach § 114 Satz 1 VwGO beschränkt sich die gerichtliche Überprüfung der Ermessensausübung lediglich darauf, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten sind oder von dem Ermessen in einer dem Zweck der Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht worden ist. Die pflichtgemäße Ausübung des Ermessens erfordert es, dass die Verwaltungsbehörde bei ihrer Entscheidung zumindest die wesentlichen Gesichtspunkte gegeneinander abwägt, die für und gegen die Maßnahme sprechen (vgl. BVerwG Urteil vom 16.6.1970 – I C 47.69 –, juris Rn. 13; so auch VG Cottbus, Beschluss vom 29.3.2017 – 1 L 131/17 –, juris Rn. 23). Dabei wird von einem Ermessensdefizit gesprochen, wenn die Behörde nicht alle nach Lage des Falles betroffenen Belange in ihre Ermessensentscheidung einstellt (vgl. Decker in: BeckOK, Posser/Wolff, 60. Edition, Stand: 01.01.2022, § 114 Rn. 21, m.w.N.; Schwarz in: Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht, 5. Auflage 2021, § 114 VwGO Rn. 47 f.). Das Fehlen einer ausreichend substantiellen, nachvollziehbaren Begründung oder die „Vagheit“ einer Begründung, der nichts Wesentliches zur Sache entnommen werden kann, ist bei Ermessensentscheidungen an sich schon ein Mangel, der als solcher den Bescheid materiell rechtswidrig macht. Eine unzureichende Begründung stellt regelmäßig ein Indiz für eine fehlerhafte Ermessensausübung dar, ohne dass das Gericht weitere Nachforschungen anstellen müsste (vgl. Ruthig in: Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung Kommentar, 26. Auflage 2020, § 114 Rn. 48, m.w.N.).

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Daran gemessen liegen hier Ermessensfehler vor. Zwar hat der Antragsgegner zuerst erkannt, dass § 123 Abs. 1 Satz 1 GO ihm Ermessen eröffnet. Sodann ist die Ausübung des Ermessens jedoch fehlerhaft, da der Antragsgegner nicht alle entscheidungserheblichen Umstände berücksichtigt hat. Der erste Absatz der Ermessensbegründung zeigt dabei noch nicht, dass eine Abwägung stattgefunden hat. Vielmehr beinhaltet dieser Absatz lediglich die Feststellung, dass dem Antragsgegner Ermessen zusteht und diese Rechtsfolge anzuwenden ist, da nach Ansicht des Antragsgegners die Tatbestandsvoraussetzungen (d.h. die Rechtswidrigkeit der Beschlüsse der Gemeindevertretung) vorliegen. Erst im zweiten Absatz stellt der Antragsgegner in einem Satz das Argument dar, das ihn zum Einschreiten bewogen hat, nämlich das bereits entstandene gerichtliche Verfahren einschließlich der Sorge um nachgelagerte Amtshaftungsansprüche. Die enthaltene Formulierung, die Beanstandung sei „unerlässlich“, deutet darauf hin, dass der Antragsgegner sich in seiner Entscheidung gebunden sah. Gleichzeitig lässt dieser Satz einen Abwägungsvorgang bei dem Antragsteller nicht erkennen. Ein Gegenüberstellen des Für und Widers der Entscheidung ergibt sich daraus nicht. Im Grunde nennt der Antragsgegner lediglich den ihn leitenden Hauptgrund und berücksichtigt die betroffenen Interessen der Antragstellerin oder des KiTa-Trägers nicht. Etwaige Folgen für die Gestaltung des KiTa-Betriebes im Gemeindegebiet und ähnliche Auswirkungen der Beanstandungen, auch für den KiTa-Träger, wurden nicht miteinbezogen. Es lässt sich der Begründung auch nicht entnehmen, dass diese Interessen der Antragstellerin oder des Trägers in den Entscheidungs- bzw. Abwägungsvorgang eingeflossen wären, ohne in der Begründung explizit erwähnt zu werden. Diese Interessen sind jedoch bei der Entscheidung zu berücksichtigen gewesen, da sie maßgeblich durch die Entscheidung betroffen werden.

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Eine Nachbesserung der Begründung der Ermessensentscheidung ist im gerichtlichen Eilverfahren nicht erfolgt. Zwar hat der Antragsgegner ergänzend vorgetragen, insbesondere zur vermeintlichen Rechtswidrigkeit der beanstandeten Beschlüsse und zur Begründung nach § 80 Abs. 3 VwGO, jedoch nicht zu den Ermessenserwägungen.

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwertes beruht auf § 63 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG i.V.m. Nr. 22.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (vgl. Kopp/Schenke, Verwaltungsgerichtsordnung Kommentar, 26. Auflage 2020, Anh § 164, Rn. 14 ff.). Eine Halbierung des Streitwerts kommt im einstweiligen Rechtsschutzverfahren nach der Rechtsprechung des Schleswig-Holsteinischen Oberverwaltungsgerichts mangels gesetzlichem Anhaltspunkt nicht in Betracht (Beschluss vom 13.1.2020 – 4 O 2/20 –)


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