Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Verwaltungsgericht (11. Kammer) - 11 B 43/22
Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.
Der Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe wird abgelehnt.
Der Streitwert wird auf 5.000,00 Euro festgesetzt.
Gründe
I.
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Die Antragstellerin wendet sich im Eilrechtsschutzverfahren gegen aufenthaltsbeendende Maßnahmen.
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Die Antragstellerin ist armenische Staatsangehörige. Sie reiste am 04.10.2016 erstmals in die Bundesrepublik ein und stellte am 10.10.2016 einen Asylantrag, der durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge mit Bescheid vom 12.01.2018 abgelehnt wurde. Die hiergegen eingereichte Klage am Schleswig-Holsteinischen Verwaltungsgericht wurde mit Urteil vom 14.09.2020 (Az. 16 A 405/19) abgewiesen. Die Entscheidung ist seit dem 30.10.2020 rechtskräftig. Die Abschiebungsandrohung aus dem Ablehnungsbescheid ist seit dem 30.11.2020 vollziehbar.
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Eine Ausbildung zur Physiotherapeutin konnte sie in der Folgezeit mangels ausreichender Deutschkenntnisse nicht antreten. Eine von ihr begonnene Ausbildung zur Masseurin und medizinischen Bademeisterin brach sie ebenfalls wegen der Sprachbarriere am 31.08.2020 ab.
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Die Antragstellerin erhielt ab dem 16.12.2020 fortlaufend Duldungen, die zunächst aufgrund fehlender Reisedokumente und dann ab dem 20.09.2021 zur Durchführung des laufenden Verfahrens bei der Härtefallkommission erteilt wurden. Zuletzt wurde die Duldung am 20.12.2021 bis zum 20.01.2022 zum Zwecke der freiwilligen Rückkehrberatung am 18.01.2022 verlängert.
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Am 21.06.2021 legte die Antragstellerin einen neu beschafften armenischen Nationalpass vor und reichte im September 2021 einen Arbeitsvertrag mit Herrn ... ... ein, wonach das Beschäftigungsverhältnis am 01.10.2021 beginnen sollte. Die Härtefallkommission wies das Gesuch der Antragstellerin am 19.11.2021 ohne Begründung zurück und teilte mit, dass kein Härtefallersuchen gemäß § 23a AufenthG an das zuständige Ministerium gestellt werde.
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Die Antragstellerin teilte der Antragsgegnerin mit E-Mail vom 12.01.2022 mit, eine Arbeitsstelle als Pflegeassistenz bei der ... Diakonie gefunden zu haben.
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Am 12.02.2022 erhob die Antragstellerin erneut Klage gegen den Bescheid vom 12.01.2018. Die Klage wurde am 07.03.2022 zurückgenommen.
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Die Antragstellerin hat am 05.03.2022 einen Antrag auf vorläufigen Rechtsschutz gestellt.
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Sie führt aus, es bestünden auf Grund der sicherheitspolitischen Lage im Zielstaat Armenien Abschiebehindernisse rechtlicher und tatsächlicher Natur gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG. Die Sicherheitslage im Hinblick auf das umkämpfte Gebiet Bergkarabach sei aufgrund fortwährender bewaffneter Konflikte für die Bevölkerung Armeniens immer noch sehr angespannt. Es sei zu erwarten, dass sich die Sicherheitslage im Hinblick auf den Konflikt zwischen Russland und der Ukraine noch weiter verschärfe, weil russische Truppen, welche in Armenien derzeit noch stationiert seien, möglicherweise für den bewaffneten Kampf gegen die Ukraine gebraucht würden und die armenische Bevölkerung somit vollkommen schutzlos im bewaffneten Konflikt um das umkämpfte Gebiet bleiben werde. Darüber hinaus bestünden aufgrund des Corona-Virus noch ernstzunehmende Gefahren im Heimatland. Zudem wären Integrationsleistungen und eine Arbeitsstelle vorhanden, so dass das Bleibeinteresse gegenüber dem Ausweisungsinteresse überwiege.
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Die Antragstellerin beantragt,
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1. ihr im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes Abschiebeschutz zu gewähren,
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2. ihr Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt ... zu bewilligen.
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Die Antragsgegnerin beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung gibt sie an, dass die Integrationsleistungen der Antragstellerin nicht ausreichend seien. Sie verfüge zwar über Sprachkenntnisse und Kenntnisse über die Recht- und Gesellschaftsordnung, beziehe aber seit dem 17.11.2016 durchgehend Leistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz und sei seit Beginn ihres Aufenthalts noch nie in der Lage gewesen, ihren Lebensunterhalt eigenständig zu sichern. Der Antragstellerin sei zurzeit auch nicht die Aufnahme einer Tätigkeit gestattet. Im Übrigen sei für einen Aufenthalt aufgrund einer Beschäftigung auch erforderlich, dass sie hierfür mit dem richtigen Visum einreise, wofür zunächst eine Ausreise erfolgen müsse. Unabhängig davon seien die Voraussetzungen für eine Aufenthaltserlaubnis aufgrund einer Beschäftigung oder aus anderen Gründen derzeit nicht gegeben. Ein Anspruch auf eine Duldung läge mangels tatsächlicher oder rechtlicher Ausreisehindernisse nicht vor. Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG seien bereits im Asylverfahren geprüft und abgelehnt worden. Diese Entscheidung sei seit dem 30.10.2020 rechtskräftig.
II.
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Der Antrag ist als Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO zulässig, aber unbegründet.
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Nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustandes die Verwirklichung des Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. § 123 Abs. 1 VwGO setzt daher sowohl ein Bedürfnis für die Inanspruchnahme vorläufigen Rechtsschutzes (Anordnungsgrund) als auch einen sicherungsfähigen Anspruch (Anordnungsanspruch) voraus. Die tatsächlichen Voraussetzungen für die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) und das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) sind glaubhaft zu machen, § 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO.
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Die Antragstellerin hat keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Ein Anspruch auf vorübergehende Aussetzung der Abschiebung ist nicht gegeben. Ein sicherungsfähiger Anspruch ergibt sich insbesondere nicht aus § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Danach ist die Abschiebung eines Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Rechtlich unmöglich ist die Abschiebung, wenn sich aus nationalen Gesetzen, einschließlich Verfassungsrecht, Unionsrecht oder Völkergewohnheitsrecht ein zwingendes Abschiebungsverbot ergibt (vgl. Beschluss der Kammer vom 16. Februar 2022 – 11 B 32/22 –, juris, Rn. 11; Haedicke in HTK-AuslR / § 60a AufenthG / zu Abs. 2 Satz 1 - rechtl. Unmöglichkeit, Stand: 08.10.2020, Rn. 1).
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Bei der Beurteilung der rechtlichen und tatsächlichen Gründe sind im Rahmen des Verfahrens gegen die Ausländerbehörde zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse außer Acht zu lassen. Gemäß § 42 Satz 1 AsylG ist die Ausländerbehörde an die Entscheidung des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) über das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG gebunden. Insoweit ist durch das Bundesamt im Asylverfahren festgestellt worden, dass keine Abschiebungsverbote vorliegen. Diese Entscheidung ist rechtskräftig. Es kommt daher vorliegend nicht darauf an, ob – wie die Antragstellerin vorträgt – im Zielstaat eine volatile Sicherheitslage herrscht oder eine angespannte gesundheitliche Situation aufgrund der Corona-Pandemie besteht, da es sich hierbei ausschließlich um von der Antragsgegnerin nicht zu prüfende zielstaatsbezogene Abschiebeverbote handelt.
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Der Abschiebung der Antragstellerin steht auch nicht der verfassungsrechtliche Schutz des Privatlebens gemäß Art. 8 EMRK als rechtliches Abschiebehindernis entgegen. Zwar kann eine Aufenthaltsbeendigung bzw. die Verweigerung eines Aufenthaltsrechts insbesondere dann einen Eingriff in das Privatleben darstellen, wenn der Ausländer über starke persönliche, soziale und wirtschaftliche Bindungen im Aufenthaltsstaat verfügt. Eine den Schutz des Privatlebens nach Art. 8 Abs. 1 EMRK auslösende Verbindung mit der Bundesrepublik Deutschland als Aufenthaltsstaat kann danach insbesondere für solche Ausländer in Betracht kommen, die auf Grund eines Hineinwachsens in die hiesigen Verhältnisse mit gleichzeitiger Entfremdung von ihrem Heimatland so eng mit der Bundesrepublik Deutschland verbunden sind, dass sie quasi deutschen Staatsangehörigen gleichzustellen sind (vgl. VG Schleswig, Beschluss vom 24. Januar 2022 – 1 B 10001/21 –, juris, Rn. 88). Eine solche Verwurzelung ist vorliegend nicht erkennbar. Es fehlt an jeglichen Darlegungen zu einer persönlichen, gesellschaftlichen oder wirtschaftlichen Integration der Antragstellerin in die Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland. Die Antragstellerin, die sich erst seit knapp sechs Jahren in Deutschland aufhält, hat bislang lediglich eine Integrationsbescheinigung vorlegen können. Zwei Ausbildungslehrgänge musste sie aufgrund ihrer mangelnden Deutschkenntnisse bereits abbrechen. Und auch eine wirtschaftliche Integration ist nicht erkennbar. Die Antragstellerin war während ihres gesamten Aufenthalts in Deutschland bis zuletzt von Sozialleistungen abhängig. Soweit sie nunmehr vorträgt, eine Arbeitsstelle gefunden zu haben, fehlt es an substantiierten Ausführungen hierzu.
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Sollten die Ausführungen zu den Integrationsbemühungen und dem Arbeitsplatz darauf abzielen, einen möglichen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu sichern, so wäre ein dahingehender Antrag gemäß § 123 Abs. 1 VwGO bereits unstatthaft, da es an einem vorherigen Antrag gegenüber der Antragsgegnerin mangelt. Denn die Zulässigkeit verwaltungsgerichtlicher Rechtsbehelfe, mit denen ein Handeln oder Unterlassen einer Behörde verlangt wird, hängt grundsätzlich davon ab, dass der Kläger bzw. Antragsteller das im gerichtlichen Verfahren geltend gemachte Begehren in einem vorangegangenen Verwaltungsverfahren bei der zuständigen Behörde ohne Erfolg beantragt hat (vgl. etwa in Bezug auf die Verpflichtungsklage § 68 Abs. 2, § 75 Satz 1 VwGO: „Antrag auf Vornahme“; vgl. ausführlich BVerwG, Beschluss vom 22. November 2021 – 6 VR 4.21 –, juris, Rn. 10 m.w.N.). Zudem fehlt es an der Sicherungsfähigkeit jedenfalls eines Anspruchs auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu Erwerbszwecken gemäß § 19c AufenthG und darüber hinaus, sollte hier eine Beschäftigungsduldung gemäß § 60d Abs. 1 AufenthG angestrebt werden, an substantiierten Ausführungen zu dem angedachten Arbeitsverhältnis.
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Die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe sind mangels hinreichender Erfolgsaussichten des Antrags auf einstweiligen Rechtsschutz nicht gegeben, § 166 VwGO i.V.m. § 114 ZPO.
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Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 52 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG.
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Referenzen
- § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG 2x (nicht zugeordnet)
- § 60d Abs. 1 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 920 Arrestgesuch 1x
- 16 A 405/19 1x (nicht zugeordnet)
- § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- § 60a AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- § 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG 1x (nicht zugeordnet)
- § 42 Satz 1 AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 123 5x
- VwGO § 75 1x
- § 19c AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- § 23a AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- 1 B 10001/21 1x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 114 Voraussetzungen 1x
- VwGO § 166 1x
- § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- 11 B 32/22 1x (nicht zugeordnet)