Beschluss vom Verwaltungsgericht Schwerin (6. Kammer) - 6 B 300/11
Tenor
1. Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin vom 05.07.2011 gegen die Unterlassungsverfügung des Antragsgegners vom 30.06.2011 wird hinsichtlich der Ziff.1 wiederhergestellt und hinsichtlich der Ziff. 3 angeordnet. Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.
Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.
2. Der Streitwert wird auf 2.500,00 Euro festgesetzt.
Gründe
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Die Antragstellerin begehrt die Anordnung bzw. Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs gegen die Unterlassungsverfügung des Antragsgegners vom 30.06.2011, mit der der Antragstellerin unter Ziff. 1 das permanente Offenhalten der Eingangstüren der X-Apotheke im Y [Anm.: einem Einkaufszentrum] A-Stadt untersagt und im Fall der Zuwiderhandlung ein Zwangsgeld in bestimmter Höhe angedroht wurde (Ziff. 3 des Bescheides). Die unter Ziff. 2 angeordnete sofortige Vollziehung der Ziff. 1 des Bescheides diene – so der Antragsgegner in seiner Begründung – der Volksgesundheit.
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Der Antrag der Antragstellerin,
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die aufschiebende Wirkung ihres Widerspruchs vom 05.07.2011 gegen die Unterlassungsverfügung des Antragsgegners vom 30.06.2011 in Ziff. 1 bis 3 wiederherzustellen, hilfsweise die sofortige Vollziehung aufzuheben,
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ist – soweit es die Ziffern 1 und 3 des Bescheides betrifft – gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 und 4, Abs. 5 Satz 1 VwGO i.V.m. § 99 Abs. 1 Satz 2 SOG M-V statthaft, im Übrigen – soweit es für sich genommen die Ziff. 2 des Bescheides betrifft – unstatthaft, weil die Vollziehungsanordnung als solche nicht Gegenstand eines Antrages nach § 80 Abs. 5 VwGO sein kann.
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Die örtliche Zuständigkeit des angerufenen Gerichts folgt in jedem Fall aus § 52 Nr. 3 VwGO als zuständiges Gericht der Hauptsache. Dabei kommt es nicht darauf an, ob der Bescheid von einer rechtlich unselbständigen Außenstelle des Antragsgegners (hier: Außenstelle C-Stadt), der seinen Behördensitz in Rostock hat (vgl. § 1 Abs. 3 des Gesetzes zur Errichtung des Landesamtes für Gesundheit und Soziales vom 19.12.2005, GVOBl. M-V 2005, S. 634) oder von einer eigenständigen Behörde mit Sitz in C-Stadt erlassen wurde, wie der angegriffene Bescheid der äußeren Form nach vermuten lässt.
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Der Aussetzungsantrag ist nach Maßgabe des Beschlusstenors auch begründet.
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I. Zunächst ist festzustellen, dass die sofortige Vollziehung von Ziff. 1 des angegriffenen Bescheides des Antragsgegners vom 30.06.2011 in formell-rechtlicher Hinsicht keinen durchgreifenden rechtlichen Bedenken unterliegt. Die zur Darlegung des besonderen Vollzugsinteresses auf Seite 5 des v.g. Bescheides unter II. Nr. 2 gegebene, mehr oder weniger einzelfallbezogene Begründung des Antragsgegners entspricht gerade noch den formellen Anforderungen des § 80 Abs. 3 Satz 1 VwGO unabhängig davon, inwieweit diese inhaltlich zu überzeugen vermag. Hierauf wird im Rahmen der Folgenabwägung näher einzugehen sein.
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II. Ist demnach die Vollzugsanordnung nicht bereits aus formellen Gründen zu beanstanden, hat das Gericht bei seiner im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO zu treffenden eigenen Ermessensentscheidung zwischen dem privaten Interesse der Antragstellerin, von der Vollziehung des ihr gegenüber ergangenen Bescheides bis zu einer abschließenden Entscheidung über den dagegen erhobenen Widerspruch und einer ggf. nachfolgenden Klage verschont zu bleiben, und dem öffentlichen Interesse an einer unverzüglichen Durchsetzung der angefochtenen Behördenentscheidung abzuwägen.
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Die danach im Rahmen des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO zu treffende Interessenabwägung des Gerichts fällt unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes zugunsten der Antragstellerin aus. Maßgebliche Gesichtspunkte der Interessenabwägung sind dabei zunächst die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache, aber auch die gebotene Folgenabwägung.
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Die im Rahmen des Eilverfahrens nur mögliche, aber auch ausreichende, summarische Überprüfung der Sach- und Rechtslage kommt zu der Vorausbeurteilung, dass die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache eingelegten Rechtsbehelfs eher als günstig, denn als ungünstig eingestuft werden; an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Bescheides vom 30.06.2011 bestehen nach Auffassung der Kammer ernstliche Zweifel, so dass das Vollzugsinteresse des Antragsgegners das Aussetzungsinteresse der Antragstellerin nicht überwiegt.
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Der angefochtene Bescheid stützt sich auf § 69 Abs. 1 Satz 1 des Gesetzes über den Verkehr mit Arzneimitteln (Arzneimittelgesetz - AMG). Danach treffen die zuständigen Behörden – hier gemäß § 1 Nr. 1 und 2 der Landesverordnung über die Zuständigkeiten auf dem Gebiet des Apotheken-, Arzneimittel-, Betäubungsmittel- und Transfusionswesens (Apotheken- und Arzneimittelzuständigkeitslandesverordnung - ApoAMZustLVO M-V) vom 06.06.2008 (GVOBl. M-V 2008, S. 181) i. V. m. § 5 Abs. 1 SOG M-V – die zur Beseitigung festgestellter und die zur Verhütung künftiger Verstöße notwendigen Anordnungen. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts begründet diese Vorschrift eine generelle Ermächtigung zur Überwachung des Verkehrs mit Arzneimitteln, insbesondere auch zu ordnungsrechtlichen Maßnahmen bei Verstößen gegen das Apothekenrecht (BVerwG, Urt. v. 22.1.1998 - 3 C 6/97 -, BVerwGE 106,141ff).
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Streitig ist zwischen den Beteiligten allein, ob permanent geöffnete Eingangstüren zu dem für den Publikumsbereich zugänglichen Teil der Offizin der X-Apotheke im Y [Anm.: einem Einkaufszentrum] A-Stadt gegen § 4 Abs. 5 der Verordnung über den Betrieb von Apotheken (Apothekenbetriebsordnung – ApBetrO) verstoßen.
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So ist dem Antragsgegner zuzugeben, dass nach – soweit ersichtlich – einhelliger Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte der Verordnungsgeber den Apothekenleiter nach Entstehungsgeschichte, Wortlaut und Sinngehalt der Regelung verpflichtet, die Tür zum Betriebsraum (vgl. § 4 Abs. 2 ApBetrO; darunter zählt auch die Offizin) im geschlossenen Zustand zu halten (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.9.1994 - 3 C 1/93 -, BVerwGE 96, 372ff; OVG des Saarlandes, Beschl. v. 8.10.1997 – 1 R 365/96 -, DAZ 1998, 3150; HessVGH, Urt. v. 8.9.1992 - 11 UE 611/91 -, MedR 1993, 100; HessVGH, Urt. v. 12.12.1991 - 11 UE 1488/89 -, BWVPr 1992, 282; VG Bremen, Urt. v. 23.01.2002 - 1 K 976/01 -, GewArch 2002, 490; VG Düsseldorf, Urt. v. 1.2.1994 - 3 K 4482/93 -; VG Frankfurt, Urt. v. 9.1.1991 - V/3 E 1753/89 -, HessVGRspr 1992, 22 ff; weitere Rechtsprechungsnachweise in Kieser, T. Aufsatz, Das Verbot offener Türen – Ein Fremdkörper in der heutigen Apothekenwelt, APR 2008, 85 ff <86>). Diese Pflicht durfte nicht durch eine (unzulässige) Scheintrennung zwischen dem Publikumsbereich der Offizin und der angrenzenden Ladenstraße umgegangen werden. Auch eine verfassungsrechtliche Betrachtung führte in der Vergangenheit zu keinem anderen Ergebnis. Nach höchstrichterlicher Rechtsprechung stand das in § 4 Abs. 5 ApBetrO statuierte Abtrennungsgebot von Betriebsflächen in Einklang mit dem Grundrecht auf Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) und verletze auch nicht im Verhältnis zum sonstigen Einzelhandel den Gleichheitssatz (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 29.9.1994, a.a.O).
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Der einhelligen Auslegung des § 4 Abs. 5 ApBetrO durch die Instanzgerichte und den verfassungsrechtlichen Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts hat sich die Kammer in der Vergangenheit angeschlossen (vgl. VG Schwerin, Urt. v. 11.5.2000 - 6 A 2849/96 -). Der Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das v.g. Kammerurteil blieb erfolglos (vgl. OVG M-V, Beschl .v. 30.11.2000 - 3 L 232/00 -).
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An der bisherigen Sichtweise hält jedoch die Kammer aufgrund der neueren Entwicklungen im Apotheken- und Arzneimittelrecht jedenfalls in der vorliegenden Fallkonstellation nicht länger uneingeschränkt fest. Gegenstand eines zukünftigen Hauptsacheverfahrens wird daher die Frage sein, ob § 4 Abs. 5 ApBetrO – soweit es die Apotheken in sog. Ladenstraßen betrifft – noch zeitgemäß ist oder ob eine verfassungskonforme Auslegung der Vorschrift gebietet, besagte Apotheken aus dem Anwendungsbereich der Vorschrift herauszunehmen.
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Zutreffend weist die Antragstellerin darauf hin, dass in den letzten Jahren eine zunehmende Liberalisierung des Apothekenrechts eingetreten ist. Dies gilt nicht nur für das Warensortiment, die Preisfreigabe für OTC-Arzneimittel (engl. over the counter 'über die Ladentheke verkauft'), sondern auch für die Vertriebswege, das Marketing und die Bewerbung von Arzneimitteln. Die veränderte Apothekenlandschaft hat zur Folge, dass die Präsensapotheken bundes- und europaweit mit den Versandapotheken in einem intensiven Preiswettbewerb stehen, wobei letztere der in § 4 Abs. 5 ApBetrO geregelten Beschränkung nicht unterliegen. Hervorzuheben sind dabei insbesondere die Internetapotheken im Bundesgebiet, aber auch im EU-Raum (wie z.B. die bekannte Online Apotheke DocMorris aus den Niederlanden), die das wachsende Bedürfnis der Internetkunden nach einem bequemen Einkauf von Medikamenten rund um die Uhr bedienen und sie mit zum Teil erheblichen Preisnachlässen von bis zu 50 % zu einem vom Verordnungsgeber in der streitigen Vorschrift nicht gewollten „Arzneimittelshopping“ einladen. Nicht zu vergessen sind in diesem Zusammenhang die Drogerieketten, die nicht nur apothekenfreie Arzneimittel und apothekenübliche Waren des Randsortiments anbieten, sondern durch Kooperationsvereinbarungen mit Internetapotheken immer stärker apothekenpflichtige Arzneimittel bewerben und nach vorheriger Bestellung in ihren Filialen an die Kunden aushändigen. Bei diesem Befund sieht sich die Kammer zu einer Neubewertung der verfassungsrechtlichen Fragen im Lichte des liberalisierten Arzneimittel- und Apothekenrechts veranlasst. Insoweit sieht sie sich auch durch einen Bericht in apotheke ad hoc (http://www.apotheke-adhoc.de/nach-richten/apothekenpraxis/tueren-duerfen-offen-bleiben) in ihrer vorläufigen Sichtweise bestärkt. Das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen hat in der mündlichen Verhandlung am 17.11.2011 die Rechtsauffassung vertreten, dass die Türen von Apotheken in Einkaufszentren mit überdachten Ladenstraßen dauerhaft offen stehen dürfen. Eine vom Antragsgegner auf gerichtliche Bitte durchgeführte Länderbefragung hat zudem ergeben, dass nur noch 7 von 15 befragten Bundesländer die Rechtsauffassung des Antragsgegners teilen, nach der offen stehende Eingangstüren einen Verstoß gegen § 4 Abs. 5 ApBetrO bedeuten. 4 Bundesländer sehen darin keine Gesetzeswidrigkeit, 4 Bundesländer differenzieren oder sehen hier keinen Überwachungsschwerpunkt. Damit kann von einem einhelligen Meinungsbild – wie es in der Vergangenheit der Fall war – nicht mehr gesprochen werden.
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So hat das Bundesverwaltungsgericht in zwei neueren Entscheidungen ausgeführt, dass die Einführung des Versandhandels (§ 47 Abs. 1 Satz 1 AMG, § 11a ApoG, § 17 Abs. 2a ApBetrO) den systematischen Zusammenhang, in den § 17 Abs. 1 ApBetrO gestellt ist, geändert hat (BVerwG, Urt. v. 14.4.2005 - 3 C 9.04 -, Buchholz 418.21 ApBO Nr. 16 Rn. 14 ff.). Mit dem Versandhandel hat der Gesetzgeber eine Form der Medikamentenabgabe zugelassen, bei der das Arzneimittel zwar aus einer Apotheke heraus abgegeben werden muss, der Kunde aber nicht gehalten ist, die Apotheke zu betreten. Er kann seine Bestellung schriftlich oder, soweit die Verschreibungspflichtigkeit des Arzneimittels nicht die Vorlage eines Rezeptes notwendig macht, telefonisch oder über das Internet aufgeben und sich die bestellte Ware an einen beliebigen Ort zustellen lassen. Auch auf Verschreibung müssen Arzneimittel nicht mehr in Apotheken, sondern lediglich von Apotheken abgegeben werden (vgl. § 43 Abs. 3 AMG). Als Begründung hat der Gesetzgeber unter anderem das Anliegen genannt, Erschwernisse der Arzneimittelbeschaffung abzubauen (BT-Drucks. 15/1525 S. 165). Damit sind Vertriebswege eröffnet, die es dem Kunden freistellen, ob er sich auf den Weg zur Apotheke macht oder Bestellung und Entgegennahme der Arzneimittel an irgendeinem anderen Ort stattfinden lässt. Er braucht die Apotheke nicht zu betreten, wenn er es nicht will. Folgerichtig stellt die Abgabe apothekenpflichtiger Arzneimittel über den Außenschalter einer Apotheke keinen Verstoß gegen § 17 Abs 1 ApBetrO mehr dar (BVerwG, Urt. v. 14.4.2005, a.a.O. unter Aufgabe der bisherigen Rspr. Urt. v. 22.1.1998, a.a.O.). Vor diesem Hintergrund ist für die Annahme, die Aushändigung des Arzneimittels müsse stets in der Apotheke stattfinden, kein Raum mehr (vgl. BVerwG, Urt. v. 24.6.2010 - 3 C 30/09 -, BVerwGE 137, 213 ff).
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Damit ist zugleich das Argument, die besondere Funktion der Apotheke verbiete eine bauliche Anlage, die den Kunden zum „Arzneimittelshopping“ einlade, weil dies mit der ordnungsgemäßen Erfüllung des Versorgungsauftrags der Apotheke und der im gesundheitlichen Interesse gebotenen Sorgfalt im Umgang mit Arzneimitteln nicht vereinbar sei, weggefallen bzw. zumindest kritisch zu hinterfragen. Wäre die Versorgungssicherheit nur durch Präsensapotheken mit permanent geschlossenen Eingangstüren zu gewährleisten, hätte der Versandhandel vom Gesetzgeber erst gar nicht zugelassen werden dürfen. Bei den Versandapotheken trägt das nicht unbeträchtliche, zwangsläufig verbleibende Risiko eines Informationsdefizits und eines daraus entstehenden Körperschadens der Kunde (vgl. Pfeil/Pieck/Blume, Kommentar zur ApBetrO, Loseblattsammlung, Stand 2009, § 20 Rn. 33a). Folgerichtig sind die mit einem Arzneimitteleinkauf in einer Versandapotheke verbundenen Gefahren deutlich höher einzustufen als diejenigen, die von Präsensapotheken mit permanent geöffneten Eingangstüren ausgehen. Der Gesetz- bzw. Verordnungsgeber hätte dann die Versandapotheken mit einem höheren Gefährdungsrisiko weniger reglementiert als die Präsensapotheken mit einem geringeren Risiko, obschon dies aus Gründen der Volksgesundheit eigentlich umgekehrt sein müsste.
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Ob diese unterschiedliche Behandlung innerhalb der Vergleichsgruppe der Apotheken von sachlichen Erwägungen getragen ist, muss nach der gebotenen Vorausbeurteilung ernstlich bezweifelt werden; dies bedarf einer eingehenden und abschließenden Entscheidung im Hauptsacheverfahren. Nach Ansicht der Kammer wäre es weitaus naheliegender, wenn der Gesetz- bzw. Verordnungsgeber die vorhandenen Beschränkungen für Präsensapotheken aus Gründen des ordnungsgemäßen Arzneimittelgebrauchs mit der Intention abgebaut hätte, dass möglichst viele Kunden eine Präsens- und nicht Versandapotheke besuchen, um sich vor Ort fachkundig beraten zu lassen.
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Das vom Bundesverwaltungsgericht in diesem Zusammenhang seinerzeit angeführte Argument, die räumliche Trennung erleichtere den Apothekern die Erfüllung ihrer Beratungspflicht, verfängt ebenfalls nicht mehr. So hat das Bundesverwaltungsgericht zwischenzeitlich entschieden, dass mit der gesetzlichen Zulassung des Versandhandels die Pflicht zur persönlichen Beratung keine zwingende Voraussetzung jeder Arzneiabgabe mehr ist. Wenn Arzneimittel per Post, Telefon oder Internet bestellt werden können, kann der Apothekenbetriebsordnung nicht mehr die Absicht entnommen werden, sie wolle den Kunden stets zu einem persönlichen und zudem direkten Kontakt mit dem Apotheker zwingen, um ihm die Besonderheit der Ware Arzneimittel deutlich zu machen und ihn persönlich mit dem Beratungsangebot zu konfrontieren. Mit der Einführung des Versandhandels hat der Gesetzgeber deshalb bewusst die Inanspruchnahme der Beratung durch den Apotheker in die freie Entscheidung des Patienten gestellt (BVerwG, Urt. v. 24.6.2010, a.a.O; Urt. v. 13.3.2008 - 3 C 27/07 -, BVerwGE 131, 1 ff). Dabei sieht die Kammer sehr wohl, dass das Recht des Kunden auf eine vertrauliche Beratung durch den Apotheker oder dessen Vertreter (vgl. § 2 Abs. 6 ApBetrO) in einer Präsensapotheke gewahrt sein muss. Anders als der Antragsgegner aber meint, wird dieser Anspruch nicht maßgeblich durch die räumliche Trennung erfüllt. So kann die Vertraulichkeit der Beratung eines Kunden (vgl. § 4 Abs. 2 Satz 2 Hs. 2 ApBetrO) bei einer höheren Kundenfrequenz zu bestimmten Stoßzeiten insbesondere bei kleineren Apotheken auf dem Lande bei einer sich gebildeten Warteschlange darunter leiden, dass der Inhalt des Beratungsgesprächs mit vertraulichen Informationen über Art und Intensität einer oder mehrerer Erkrankungen des vom Apotheker beratenden Patienten den übrigen wartenden Kunden zwangsläufig nicht verborgen bleibt. Die Vertraulichkeit der Beratung hängt nicht davon ab, ob die Eingangstür zur Apotheke geschlossen oder geöffnet ist. Sie wird vielmehr durch die Größe der Offizin, die räumliche Gestaltung und die Anzahl des zur Beratung befugten pharmazeutischen Personals an mehreren gleichzeitig besetzten, räumlich ausreichend voneinander getrennten Verkaufstheken beeinflusst.
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Die Kammer wird weiterhin zu berücksichtigen haben, dass durch die Änderung des § 25 ApBetrO ab Januar 2004 der Katalog der apothekenüblichen Waren, die in Apotheken in den Verkehr gebracht werden dürfen, erheblich ausgeweitet wurde. So dürfen zwischenzeitlich sämtliche Medizinprodukte und nicht nur verschiedene Bereiche hiervon über Apotheken betrieben werden. Entsprechendes gilt für sämtliche Mittel, Gegenstände und Informationsträger, die der Gesundheit von Menschen und Tieren mittelbar oder unmittelbar dienen oder diese fördern, so dass – soweit jene Voraussetzungen erfüllt sind – auch Dinge des täglichen Bedarfs wie Gegenstände der Hygiene und Körperpflege, Gewürze, Honig, Mineral-, Quell- und Tafelwässer in Apotheken in den Verkehr gebracht werden dürfen. Damit steht der Apotheker als Kaufmann im allgemeinen Wettbewerb mit dem Einzelhandel, insbesondere mit den Drogerien und Drogerieketten, die ebenfalls apothekenübliche Waren anbieten und aufgrund von Kooperationsvereinbarungen mit Internetapotheken apothekenpflichtige Arzneimittel in Form einer Arzneimittelsendung an ihre Kunden aushändigen und dabei quasi als Abholstation fungieren (vgl. BVerwG, Urt. v. 13.03.2008, a.a.O.).
- 22
Im direkten Wettbewerb mit dem Einzelhandel ist der Apotheker aber Beschränkungen unterworfen, die jener nicht kennt. Er darf zwar in der Ladenpassage Verkaufsschütten aufstellen, um das Interesse der Kunden auf sich zu lenken, die permanent geschlossenen Türen sollen die Kunden aber gleichsam vom Einkauf apothekenüblicher Waren des sog. Randsortiments abhalten. Mit der zulässigen Verlagerung der Präsentation von Angeboten einer Apotheke vor die Betriebsräume und durch einen verstärkten Außenauftritt von Apotheken durch Schaltung von Zeitungswerbung, Verteilung von Werbeflyern und Einführung von Kundenbindungssystemen wird ein Kunde in wesentlich stärkerer Weise zum Betreten der Offizin animiert als durch eine permanent geöffnete Tür. Werden dem Apotheker aber nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, Urt. v. 16.1.2002 - 1 BvR 1236/99 -, BVerfGE 104, 357 ff; Beschl. v. 22.05.1996 - 1 BvR 744/88, 1 BvR 60/89, 1 BvR 1519/91 -, BVerfGE 94, 372 ff) die Teilnahme an verkaufsoffenen Sonntagen, Werbe- und/ oder Marketingstrategien zugestanden, kann das Trennungsgebot in § 4 Abs. 5 ApBetrO seine ursprüngliche Funktion nicht mehr erfüllen und setzt im Vergleich zu den anderen erlaubten Außenauftritten nur einen deutlich geringeren Anreiz zum Betreten einer Apotheke. Es dürfte daher Vieles dafür sprechen, dass § 4 Abs. 5 ApBetrO dem Wandel, der sich in der apothekenrechtlichen Landschaft auf Bundes – und Europaebene in den letzten Jahren vollzogen hat, anzupassen ist. Dies gilt jedenfalls für in Ladenstraßen befindliche Apotheken, die anders als eine Außenapotheke Staubbeeinflussungen oder Luftverunreinigungen durch den Straßenverkehr nicht zu befürchten haben.
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III. Die Aufrechterhaltung des Sofortvollzug ist auch nicht aus Gründen der Folgenabwägung geboten. Denn es sind keine sonstigen Gründe erkennbar, die trotz der dargelegten Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheides vom 30.06.2011 für eine Aufrechterhaltung des Sofortvollzugs sprächen. Eine Gefährdung der Volksgesundheit wird vom Antragsgegner zwar behauptet, den Beweis hierfür bleibt er indes schuldig. Dem Gericht sind keine Arzneimittelmissbrauchsfälle oder sonstige Beschwerden, die mit einem allzu sorglosen „Arzneimittelshopping“ in Apotheken mit permanent geöffneten Eingangstüren im Zusammenhang stehen, bekannt. Solche konnten auch vom Antragsgegner nicht benannt werden. Lägen sie tatsächlich vor, hätte der Antragsgegner während des mittlerweile 7 Monate anhängigen Eilverfahren längst tätig und andere Apotheker innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs mit gleichlautenden, ebenfalls für sofort vollziehbar erklärten Unterlassungsverfügungen überziehen müssen. Von einer Gefährdungslage, die zu einem unverzüglichen Einschreiten gegen andere Apothekeninhaber hätte Anlass geben müssen, kann daher keine Rede sein. Sein bisheriges Verhalten lässt eher den Schluss zu, es gehe ihm lediglich um eine grundlegende gerichtliche Klärung der streitigen Rechtsfrage in einem singulären Verfahren.
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Würde die Aussetzungsentscheidung nicht ergehen, hätte bei dieser Ausgangssituation allein die Antragstellerin die Unterlassungsverfügung, und zwar mindestens für die Dauer des Eil- und womöglich gar für die des Hauptsache- und ggf. Rechtsmittelverfahrens zu befolgen. Damit würde die Antragstellerin gegenüber den anderen Apothekeninhabern, die es der Antragstellerin gleichtun, benachteiligt, ohne dass der Antragsgegner nachvollziehbar erklären kann, warum er im Wege des Sofortvollzugs nur gegen die Antragstellerin vorgeht, die anderen Apothekeninhaber aber verschont. Würde die Aussetzungsentscheidung unterbleiben und sich im Nachhinein herausstellen, dass die bisherige Auslegung des § 4 Abs. 5 ApBetrO gegen Art. 3, 12 GG verstößt, wäre die damit verbundene Grundrechtsverletzung nicht wieder rückgängig zu machen.
- 25
IV. Aus den vorstehenden Gründen ist auch die im Bescheid ausgesprochene Zwangsmittelandrohung auszusetzen; denn sie ist akzessorisch, so dass sie die rechtlichen Zweifel gegen die Rechtmäßigkeit der Grundverfügung teilt.
- 26
V. Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Die Höhe des Streitwertes richtet sich nach den §§ 63 Abs. 2, 53 Abs. 3 Nr. 2 und 52 Abs. 2 GKG i. V. m. Ziffer 25.2 des Streitwertkataloges der Verwaltungsgerichtsbarkeit.
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