Urteil vom Verwaltungsgericht Schwerin (2. Kammer) - 2 A 1214/13

Tenor

Der Bescheid der Beklagten vom 07. März 2013 und der Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 25. Juli 2013 werden aufgehoben. Im Übrigen wird das Ver-fahren eingestellt.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der außergericht-lichen Kosten der Beigeladenen, die diese selbst trägt.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leisten

Tatbestand

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Die Kläger begehrten ursprünglich die Verpflichtung der Beklagten zur Erteilung einer Befreiung von den Festsetzungen eines Bebauungsplans. Nunmehr verlangen sie nur noch die Aufhebung des Ablehnungsbescheides und des zugehörigen Widerspruchsbescheides.

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Die Kläger sind Miteigentümer des Flurstücks 39/8 der Flur 1 der Gemarkung A-Stadt. Auf dem Flurstück 39/8 befinden sich 56 Bungalows, die zu DDR-Zeiten Teil einer betrieblichen Ferienanlage waren. Die Kläger sind Sondereigentümer nach dem Wohnungseigentumsgesetz (WEG) des Bungalows Nr. 34. Dessen Grundstücksparzelle ist etwa 350 bis 360 m² groß. Der Bungalow Nr. 34 bildet mit dem Bungalow Nr. 35 ein Doppelhaus.

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Das Flurstück … befindet sich im Geltungsbereich des Bebauungsplans der beigeladenen Gemeinde Nr. 8 „…“. Der Bebauungsplan setzt eine höchstzulässige Grundfläche der Bungalows von 85 m² bei Doppelhäusern mit einer Parzellengröße von weniger als 450 m² fest. Weiterhin ist eine Grundflächenzahl von 0,2 festgesetzt.

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Die Kläger, deren Bungalow Nr. 34 bisher eine Grundfläche von 73,50 m² aufwies, zeigten im März 2012 im Rahmen des genehmigungsfreien Bauens das Vorhaben „Erweiterung-Bungalow“ an. Nach der „Berechnung der überbauten Flächen nach DIN 277“ war eine überbaute Fläche für das Gebäude von 85,72 m² vorgesehen. Die Kläger realisierten in der Folge abweichend von den diesbezüglichen Bauvorlagen eine Erweiterung an der südlichen Gebäudeseite durch einen Neubau in den Maßen 4,6 x 4,7 m und einen überdachten Eingang in den Maßen von 1,6 x 3,145 m auf eine Grundfläche von somit insgesamt 95,49 m². Unter dem 14. November 2012 beantragten sie bei der Beklagten die Erteilung einer Befreiung von der bebaubaren „Fläche von 85 qm“ und der „Grundflächenzahl 0,2“. Dabei gingen sie von einer Erweiterung von 94,92 m² aus. Von der Beklagten nachgeforderte Unterlagen gingen bei dieser am 07. Dezember 2012 ein.

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Die Gemeinde versagte das gemeindliche Einvernehmen. Mit Bescheid vom 07. März 2013, zugestellt am 09. März 2013, lehnte die Beklagte die beantragte Befreiung ab. Den dagegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 25. Juli 2013 zurück.

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Die Kläger haben am 19. August 2013 Klage erhoben. Sie begehrten ursprünglich unter Aufhebung von Ablehnungsbescheid und Widerspruchsbescheid die Verpflichtung der Beklagten zur Erteilung der beantragten Abweichung. Hierzu machten sie geltend, dass eine Grundflächenzahl von 0,2 im Bebauungsplan im Einzelnen nicht nachweisbar, weil nur für das gesamte Grundstück ermittelbar sei; zudem habe die Beklagte in der Vergangenheit Befreiungen erteilt. Im Blick auf den von der Beklagten schriftsätzlich angesprochenen Eintritt der Genehmigungsfiktion nach § 63 Abs. 2 S. 2 Landesbauordnung Mecklenburg-Vorpommern (LBauO M-V) beantragten sie nunmehr,

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den Bescheid der Beklagten vom 07. März 2013 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 25. Juli 2013 aufzuheben.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Sie erachtet die Klage mangels Rechtsschutzbedürfnisses für unzulässig, wenn vom Eintritt der Genehmigungsfiktion ausgegangen werde. Das sei jedoch fraglich, weil der Befreiungsantrag hinsichtlich der klägerseitigen Nutzungsangabe unvollständig sei. Nach dem Bauantrag vermittelten die Kläger den Eindruck einer fortgesetzten Wochenendhausnutzung, obwohl sie in dem Bungalow wohnten. Hinsichtlich seiner Wohnnutzung sei das Vorhaben unzulässig.

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Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt und sich auch nicht schriftsätzlich geäußert.

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Mit Beschluss vom 06. März 2015 ist der Rechtsstreit zur Entscheidung auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen worden.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Gerichtsakte und auf die Verwaltungsvorgänge der Beklagten, die ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen sind, Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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1. Das Verfahren war einzustellen, soweit die Kläger mit dem hinter ihrem ursprünglichen Klagantrag zurückbleibenden Antrag aus dem Schriftsatz vom 31. März 2015 der Sache nach ihr auf Verpflichtung der Beklagten auf Erteilung der beantragten Befreiung gerichtetes Begehren nicht weiter verfolgen und die Klage daher insoweit zurückgenommen worden ist, § 92 Abs. 1 S. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO).

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2. Im Übrigen hat die (nur noch) auf Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 07. März 2013 und des Widerspruchsbescheids vom 25. Juli 2013 gerichtete Klage Erfolg.

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a) Die Klage ist zulässig. Insbesondere fehlt den Klägern entgegen der Auffassung der Beklagten nicht das Rechtsschutzinteresse für den isolierten Aufhebungsantrag. Zwar geht die Ablehnung der beantragten Befreiung ins Leere, wenn die Befreiung im Wege der Genehmigungsfiktion als erteilt gilt. Indessen ist die Ablehnung - den Eintritt der Genehmigungsfiktion unterstellt - von der Beklagten durch den Bescheid vom 07. März 2013 ausgesprochen worden und setzt zumindest den Rechtsschein, dass die Kläger nicht im Besitz der beantragten Befreiung seien. Dem entspricht, dass die Beklagte den Klägern den Eintritt der Genehmigungsfiktion nicht schriftlich bescheinigt hat, vgl. § 42 a Abs. 3 Landesverwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG M-V).

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b) Die Klage ist auch begründet. Die Ablehnung der beantragten Befreiung durch den Bescheid vom 07. März 2013 und den Widerspruchsbescheid vom 25. Juli 2013 ist rechtswidrig und verletzt die Kläger in ihren Rechten, § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO. Infolge Eintritts der Genehmigungsfiktion nach § 63 Abs. 2 S. 2 LBauO M-V sind die Kläger im Zeitpunkt der Zustellung des Ablehnungsbescheids bereits Inhaber der beantragten Befreiung gewesen. Die Ablehnung des Befreiungsantrags hätte daher die rechtmäßige Rücknahme der fiktiv geltenden Befreiung auf der Grundlage von § 48 VwVfG M-V oder deren sonstige Aufhebung erfordert.

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Die von den Klägern beantragte Befreiung gilt mit Ablauf des 07. März 2013 als erteilt. Ein Befreiungsantrag unterliegt als Antrag nach § 67 Abs. 2 S. 1 LBauO M-V bei Vorliegen der dafür vorgesehenen Voraussetzungen dem vereinfachten Baugenehmigungsverfahren des § 63 LBauO M-V. Bei dem Wochenendhaus der Kläger, um dessen Erweiterung es geht, handelt es sich auch um ein Wohngebäude i. S. v. § 63 Abs. 1 S. 1 Buchst. a) LBauO M-V.

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aa) Das klägerische Wochenendhaus unterfällt dem Wohngebäudebegriff des § 63 Abs. 1 S. 1 Buchst. a) LBauO M-V. Der Begriff „Wohngebäude“ in § 63 Abs. 1 S. 1 Buchst. a) LBauO M-V ist bauordnungsrechtlicher Natur und ist zu unterscheiden von dem - engeren - bauplanungsrechtlichen Wohngebäudebegriff (zur Unterscheidung vergl. z. B. OVG Greifswald, Beschl. v. 18. Mai 2011 - 3 M 38/11 - unter Hinweis auf die Begründung des Regierungsentwurfs zur Landesbauordnung 2006 in LT Drucksache 4/1810 S. 97; zum bauplanungsrechtlichen Begriff vgl. OVG Greifswald, Urt. v. 19. Februar 2014 - 3 L 212/12 -, NordÖR 2014, 323). Danach umfasst der Begriff „Wohngebäude“ in § 63 Abs. 1 S. 1 Buchst. a) LBauO M-V sowohl Gebäude, in denen sich Wohnungen zum „Dauerwohnen“ befinden, als auch solche, die allein die Möglichkeit zeitweiligen Wohnens, wie Ferien- oder Wochenendhäuser, bieten. Dementsprechend hat das OVG Greifswald für prinzipiell denkbar erachtet, dass der Umbau eines Bootshauses der Vorschrift des § 63 Abs. 1 S. 1 Buchst. a) LBauO M-V unterfallen kann (vgl. Beschl. v. 23. Juni 2014 - 3 M 58/14 -, juris).

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bb) Die Genehmigungsfiktion ist durch Fristablauf eingetreten. Maßgeblich für den Beginn des Laufs der Frist ist der Eingang der vollständigen Bauantragsunterlagen. Die von der Beklagten nachgeforderten Unterlagen, auf die hier allein abzustellen ist, sind am 07. Dezember 2012 eingegangen. Fristbeginn war mithin nach § 31 Abs. 1 VwVfG M-V i. V. m. § 187 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) der 08. Dezember 2012. Das Ende der Dreimonatsfrist war nach § 31 Abs. 1 VwVfG M-V, § 188 Abs. 2 BGB mit Ablauf des 07. März 2013, einem Donnerstag, eingetreten. Der Ablehnungsbescheid ist den Klägern allerdings erst am (Samstag, dem) 09. März 2013 zugestellt worden.

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Da es für die Wahrung der Dreimonatsfrist des § 63 Abs. 2 S. 2 LBauO M-V auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe und nicht denjenigen des Bescheiderlasses ankommt (vgl. dazu auch die Begründung des Regierungsentwurfs zur LBauO 2006, LT-Drucksache 4/1810, S. 162; vgl. ferner Beschlussempfehlung und Bericht in LT-Drucksache 4/2183, S. 30), ist die Genehmigungsfiktion mit Ablauf des 07. März 2013 eingetreten.

22

Die Beklagte kann nicht mit dem Argument gehört werden, die Fiktionsfrist sei deshalb nicht in Gang gesetzt worden, weil die Kläger mangels Angabe der Nutzungsart einen unvollständigen Bauantrag gestellt hätten. Die Kläger haben in dem Formular „Baubeschreibung“ im Feld „Zweckbestimmung des Vorhabens“ angegeben, „Erweiterung Bungalow“. Mit der Verwendung des Begriffs „Bungalow“, der in den neuen Bundesländern auf einen Erholungsbau (Wochenendhaus, Ferienhaus) bezogen ist und der Angabe „Erweiterung“ ist hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es den Klägern um die Erteilung einer Befreiung für (allein) bauliche Veränderungen an ihrem Wochenendhaus, nicht aber um die Genehmigung für eine Nutzungsänderung geht. Dementsprechend fehlt es an Angaben zur bisherigen und zur beabsichtigten bzw. zur Legalisierung beantragten Nutzung, was im Übrigen das Formular „Baubeschreibung“ explizit auch nur „bei Nutzungsänderung“ verlangt. Maßgeblich für die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen ein Bauantrag vollständig ist, ist das vom Bauherrn definierte Vorhaben. Ein Bauantrag ist daher vollständig, wenn er gem. § 68 Abs. 2 S. LBauO M-V all diejenigen Unterlagen enthält, die für die Beurteilung des Bauvorhabens erforderlich sind. Dazu zählt bei nicht beabsichtigter Änderung der bisher genehmigten Nutzung nicht die Angabe der Nutzungsart.

23

Die Beklagte kann sich für ihre gegenteilige Auffassung nicht auf die von ihr genannte Entscheidung des OVG Münster (Urt. v. 18. Oktober 2011 - 10 A 26/09 -, BRS 78 Nr. 135) berufen. Im dortigen Fall ging es gerade nicht um die hier relevante Frage, ob ein vom Bauherrn (nur) als (bauliche) Erweiterung definiertes Vorhaben auch Bauvorlagen zur Nutzung erfordert. Vielmehr ging es dort darum, dass ein in Grenznähe errichteter Anbau nur dann nachträglich legalisierungsfähig ist, wenn für den schon realisierten Bestand die Einhaltung der Abstandsflächen nachgewiesen ist.

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Zugunsten der Auffassung der Beklagten spricht auch nicht, dass für die Frage, ob ein baugenehmigungspflichtiges Vorhaben (und nicht lediglich eine Instandhaltung) durchgeführt wird, nicht allein die Angaben des Bauherrn maßgeblich sind, sondern - insbesondere, wenn diese offenbar bewusst unvollständig gehalten sind - die objektive Eignung der in Rede stehenden Maßnahmen (vgl. VG Schwerin, Urt. v. 28. Juli 2008 - 2 A 2665/05 -, amtl. Umdruck, S. 5; VG Greifswald, Urt. v. 4. November 2004 - 1 A 1099/02 -, amtl. Umdruck, S. 7). Denn um die Frage der Genehmigungsbedürftigkeit eines (Gesamt-) Vorhabens geht es hier nicht.

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3. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 4, § 162 Abs. 3 VwGO. Da die Beigeladene keinen Antrag gestellt und sich mithin keinem Prozesskostenrisiko ausgesetzt hat, erscheint es billig, sie ihre außergerichtlichen Kosten selbst tragen zu lassen.

26

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).

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