Urteil vom Verwaltungsgericht Schwerin (15. Kammer) - 15 A 3569/17 As SN

Tenor

Die Beklagte wird unter entsprechend teilweiser Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 10. August 2017 verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 Prozent des auf Grund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

1

Die Klägerin begehrt über den bereits bewilligten subsidiären Schutz hinaus die Verpflichtung der Beklagten, ihr den Flüchtlingsstatus zuzuerkennen.

2

Die am 4. Januar 1998 geborene Klägerin ist nach eigenen Angaben Staatsbürgerin Eritreas der Volksgruppe Tigrinya. Sie hat zum Reiseweg angegeben, dass sie Eritrea am 1. April 2015 verlassen hat und über Äthiopien, dem Sudan, Libyen schließlich nach Italien gereist sei. Nach einem Aufenthalt von zwei Monaten sei sie nach Deutschland weiter gereist, wo sie am 17. Januar 2017 angekommen sei.

3

Am 23. Januar 2017 stellte sie beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) einen Asylantrag. Die Übernahme des Asylverfahrens lehnte Italien wegen Ablaufs der Frist des Art. 21 Abs. 1 der Dublin III-VO ab. Den Asylantrag begründete sie in der Anhörung am 30. Juni 2017 wie folgt: Bei Ausreise aus Eritrea sei sie noch minderjährig gewesen. Zuvor sei sie im Gefängnis gewesen. Sie sei aus dem Schulunterricht verhaftet worden, weil ihr vorgeworfen worden sei, das Land illegal verlassen zu wollen. Freundinnen seien vorher bereits geflohen. Sie sei in zwei Gefängnissen gewesen. Im Gefängnis seien sie unter Gewaltanwendung verhört worden. Sie seien mit Stromkabeln geschlagen worden. In der Anhörung beschrieb die Klägerin die Gefängnisse näher. Ihr habe man gesagt, sie solle gestehen, ansonsten müsse sie zur Militärausbildung. Bei Arbeiten an einem Staudamm sei ihnen die Flucht gelungen. Bei Rückkehr würde sie längere Zeit inhaftiert und wahrscheinlich zum Militär gezwungen.

4

Mit Bescheid vom 10. August 2017 erkannte das Bundesamt der Klägerin den subsidiären Schutz zu, lehnte aber den Asylantrag im Übrigen ab. Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf den Inhalt des Bescheides verwiesen. Der Bescheid wurde unter der Anschrift C.-H.-R […], A-Stadt durch Zustellurkunde am 14. August 2017 zugestellt.

5

Die Klägerin hat am 5. September 2017 Klage erhoben. Zur Begründung hat sie auf den Inhalt der Verwaltungsvorgänge verwiesen und auf ihre unerlaubte Ausreise aus Eritrea unter Entziehung aus dem Nationaldienst dargelegt. Sie befürchte bei Rückkehr nach Eritrea politisch relevante Verfolgungen wegen dieser Taten.

6

Das Gericht hat von der örtlichen Ausländerbehörde eine Auskunft zur Frage des Wohnsitzes der Klägerin eingeholt. Danach wohnte die Klägerin zum Zeitpunkt der Zustellung des Bescheides unter der Anschrift G.-straße, […] A-Stadt.

7

Hinsichtlich der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichtakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren, sowie die Sitzungsniederschrift Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

8

I. Das Gericht konnte die Sache verhandeln und entscheiden, obwohl die Beklagte in der mündlichen Verhandlung nicht vertreten gewesen ist. Die Beklagte ist unter Hinweis auf § 102 Abs. 2 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) ordnungsgemäß geladen worden.

9

II. Die Klage ist zulässig, insbesondere ist sie am 5. September 2017 auch fristgerecht erhoben worden. Der streitgegenständliche Bescheid ist am 14. August 2017 nicht der Klägerin persönlich, sondern ihr unter der (unzutreffenden) Anschrift der Ausländerbehörde zugestellt worden. Die Klägerin wohnte zu diesem Zeitpunkt unter der im Tatbestand genannten Anschrift, die im Übrigen auch in den Verwaltungsvorgängen vermerkt ist (vgl. Beiakte 1, Bl. 91 [unten]). Die Ausländerbehörde hat den Bescheid der Klägerin sodann formlos übersandt. Damit ist die Zustellung nicht ordnungsgemäß erfolgt. Dieser Zustellmangel ist gemäß § 8 des Verwaltungszustellungsgesetzes (VwZG) mit Zugang des Bescheides bei der Klägerin geheilt worden. Der Zugang war nach den glaubhaften Angaben der Klägerin am 31. August 2017. Damit endete die Klagefrist des § 74 Abs. 1 des Asylgesetzes (AsylG) am 14. September 2017.

10

III. Die Klage ist auch begründet, soweit der Antrag der Klägerin auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft abgelehnt worden ist. Insoweit ist der angefochtene Bescheid rechtswidrig und verletzt die Klägerin auch in ihren Rechten (vgl. § 113 Abs. 5 VwGO). Sie hat Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

11

1. § 3 Abs. 1 AsylG bestimmt, dass ein Ausländer Flüchtling ist, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Dabei ist unerheblich, ob er ein zur Verfolgung führendes Merkmal tatsächlich aufweist, sofern ihm ein solches Merkmal von seinem Verfolger zugeschrieben wird (§ 3b Abs. 2 AsylG).

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a) Es kommt bei der Frage der Verfolgung der Klägerin nicht darauf an, ob sie Eritrea verfolgt oder unverfolgt verlassen hat, sondern allein auf die Frage, mit welchen Maßnahmen sie im Falle ihrer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu rechnen hätte. Bezüglich dieser Prognose kann auch nicht allein auf ein bei objektiver Betrachtung der Klägerin zuzurechnendes Verhalten – z.B. eine exilpolitische Betätigung – abgestellt werden, sondern es ist vielmehr in den Blick zu nehmen, wie die eritreischen Staatsorgane unter Berücksichtigung der Erkenntnislage wahrscheinlich das Verhalten der Klägerin würdigen würden.

13

b) Nach politikwissenschaftlicher Einschätzung ist Eritrea ein totalitäres Regime.

14

Näher Hirt, Sanktionen gegen Eritrea: Anstoß für Reformen oder „Akt der Verschwörung?“, GIGA-Focus (Afrika) 1/2010, S. 1 (2); Dangmann, Eritrea, in: Gieler (Hrsg.), Staatenlexikon Afrika, 2016, S. 151 (161 f.);ausführlich zu totalitären Systemen: Linz, Totalitäre und autoritäre Regime, Potsdamer Textbücher 4, (2000), 20 ff.; ders., Typen politischer Regime und die Achtung der Menschenrechte, in: Jesse (Hrsg.), Totalitarismus im 20. Jahrhundert, 2. Aufl. 1999, 519 (550 f.) je mwN.

15

Insoweit ist die Unberechenbarkeit des Handels der staatlichen Organe Eritreas kennzeichnend und typisch. Aus einer Vielzahl von mündlichen Verhandlungen ist für das Gericht deutlich geworden, dass in Eritrea beispielsweise kritisches Hinterfragen von staatlichen Anordnungen ebenso wie die Ablehnung des Empfangs der Waffe während des nationalen Dienstes und insbesondere der Verdacht, dass der Betroffene sich dem nationalen Dienst entziehen will oder einem anderen bei der Entziehung oder der illegalen Ausreise behilflich war, häufig zu Inhaftierung und auch länger währenden, unbestimmten Haftzeiten führen. Kennzeichnend ist dabei augenscheinlich, dass diese Strafen nicht in einem rational nachvollziehbaren formalisierten Verfahren ausgesprochen werden, sondern vielmehr in wenig vorhersehbarer Weise von einzelnen Entscheidungsträgern vor Ort getroffen werden.

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Ausführlich EASO, Fokus Eritrea (Mai 2015), S. 32 ff.; 38 f., 41 ff.; ferner Schweizerische Flüchtlingshilfe (Rico Tuor), Eritrea: Wehrdienst und Desertion (Februar 2009), S. 11 ff.

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Als Folge dieser Unberechenbarkeit staatlicher Organe Eritreas ist die häufige Einlassung von Klägern zu werten, sie könnten nicht sagen, warum sie inhaftiert oder auch später wieder freigelassen worden seien. Dies ist weniger Ausdruck eines farblosen Vorbringens erfundener Sachverhalte als vielmehr die Ratlosigkeit, warum in ihrem Fall die staatlichen Organe konkret mit der dargestellten Härte gehandelt haben.

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2. Die Klägerin hat danach Anspruch auf Zuerkennung des Flüchtlingsstatus,

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a) Nach Auffassung des Gerichts ist die Klägerin eritreische Staatsangehörige. Dies wird auch von der Beklagten nicht angezweifelt. Die Klägerin hat insoweit auch glaubhafte Angaben gemacht. Aufgrund ihres Lebensalters unterliegt sie nach den Erkenntnissen des Gerichts der Dienstpflicht zum nationalen Dienst.

20

b) Gemäß Art. 6 der Proklamation Nr. 82/1995 über den Nationalen Dienst.

21

Gesetzblatt Eritrea Nr. 11 vom 23. Oktober 1995, englische Übersetzung: http://www.refworld.org/docid/3dd8d3af4.html; zum Nationaldienst siehe EASO, Fokus Eritrea (Mai 2015), S. 32 ff; Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Eritrea: Nationaldienst vom 30. Juni 2017, 1 ff.-

22

unterliegen Männer und Frauen vom 18. bis zum 50. Lebensjahr einer allgemeinen Dienstpflicht. Diese Dienstpflicht unterteilt sich gemäß Art. 2 Abs. 3 und 4 der Proklamation Nr. 82/1995 in einen aktiven Wehrdienst ("active national service") und einen Reservistendienst ("reserve military service"). Der aktive Wehrdienst besteht aus einer sechsmonatigen Grundausbildung ("training") und einem sich daran anschließenden zwölfmonatigen Wehrdienst ("active military service") und ist von allen eritreischen Staatsbürgern vom 18. bis zum 40. Lebensjahr abzuleisten (Art. 8 der Proklamation Nr. 82/1995). Personen, die den aktiven Dienst beendet haben, sind bis zum Ablauf ihres 50. Lebensjahres zum Reservistendienst verpflichtet (Art. 23 der Proklamation Nr. 82/1995), wobei Angaben von Flüchtlingen darauf hindeuten, dass die Altersgrenze zumindest bei Männern tatsächlich erst bei Ablauf des 55. oder 57. Lebensjahres liegt. Die Aufgaben der Reservisten bestehen u.a. in der Verstärkung der regulären Armee im Falle eines Angriffs, der Abwehr interner Angriffe auf die Einheit und die Souveränität Eritreas sowie der Hilfe in Notfällen (Art. 25 der Proklamation Nr. 82/1995). Tatsächlich werden Reservisten zunehmend beim Bau von Dämmen und Straßen sowie in der Landwirtschaft, aber auch in allen Bereichen der Verwaltung und Wirtschaft, insbesondere der Bauwirtschaft, eingesetzt werden. Es ist zudem gängige Praxis, dass Dienstpflichtige weit länger als die vorgesehenen 18 Monate, zum Teil über zehn Jahre, Dienst leisten müssen.

23

Vgl. näher etwa VG Minden, Urteil vom 13. November 2014 – 10 K 2815/13.A –, juris Rn. 14 ff. mwN, SFH, aaO, S. 4 ff.

24

c) Das Gericht glaubt der Klägerin, dass sie Eritrea auf illegalem Weg verlassen hat. Daher müsste die Klägerin, weil sie im wehrdienstfähigen Alter ist, damit rechnen, nach ihrer Rückkehr in ihre Heimat zum Nationaldienst herangezogen zu werden. Zum einen müssen nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes Personen, die Eritrea illegal verlassen haben, den Nationaldienst auf jeden Fall nachholen.

25

Vgl. AA, Stellungnahme an das Gericht vom 10. Oktober 2017, Antwort zur Frage I 1 a) und b).

26

Zum anderen könnte die Klägerin bei Razzien (sog. Giffas) aufgegriffen werden, wenn sie nicht freiwillig Nationaldienst leisten sollte. ACCORD hat in einer Überblicksdarstellung unter Bezugnahme auf eine Stellungnahme der norwegischen Landinfo darauf hingewiesen, dass auch Frauen bei Giffas aufgegriffen werden, wobei aber die Angaben der Anzahl, der räumlichen Verteilung und des Umfangs von derzeitigen Razzien nicht eindeutig sind.

27

Zitiert und dargestellt bei ACCORD, Anfragebeantwortung zu Eritrea: Informationen zum Militärdienst (wie erfolgt die Rekrutierung? [Teilfrage entfernt]; bekannte Maßnahmen der Behörden, wenn der Einberufung nicht Folge geleistet wird) [a-10148] vom 9. Mai 2017, S. 5 f.

28

d) Die Klägerin gehört nach den Erkenntnissen des Gerichts zur sozialen Gruppe von Frauen, die im Militärdienst sexueller Gewalt ihrer Vorgesetzten ausgesetzt sein können. Der Verfolgungsgrund der geschlechtsspezifischen Verfolgung wird nach § 3 a Abs. 2 Nr. 1 und § 3 b Abs. 1 Nr. 4 Halbsatz 2 AsylG als Verfolgung einer sozialen Gruppe angesehen.

29

Vgl. näher Marx, AsylG, 9. Aufl. 2017, § 3b Rn. 22; Möller, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, AsylVfG/AsylG, § 3b Rn.12 ff.; ebenso VG Schwerin, Urteile vom 3. Februar 2017 - 15 A 3692/16 As SN -, Umdruck, S. 10 und - 15 A 3443/16 As SN - Umdruck, S. 10 je mwN; VG Schwerin, Urteil vom 08. Dezember 2017 – 15 A 1278/17 As SN –, juris, Rn. 36 ff.

30

aa) Soweit in der Rechtsprechung die Auffassung vertreten wird, dass zu diesem Tatbestand eine maßgebende politische Motivation hinzutreten muss,

31

So VG Köln, Urteil vom 12. Juli 2018 – 8 K 15907/17.A –, juris LS 4 und Rn. 37 ff.

32

ist dies nach dem Wortlaut des Asylgesetzes unzutreffend. Nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG ist „ein Ausländer Flüchtling, wenn er aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen [...] seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Die Definition des Verfolgungsgrundes wird in § 3 b Abs. 1 [nach] Nr. 4 AsylG gegeben, wenn es dort heißt: „als bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; […] eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft; […].“ Ein weitergehender besonderer politischer Grund wird dort nicht gefordert. Dies würde auch den Intentionen des Gesetzgebers widersprechen. In § 60 Abs. 1 Satz 3 a. F. des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) vom 25. Februar 2008 (BGBl. I. 162) war bestimmt, dass eine

33

„Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe […] auch dann vorliegen [kann], wenn die Bedrohung des Lebens, der körperlichen Unversehrtheit oder der Freiheit allein an das Geschlecht anknüpft.“

34

Dabei ging diese Bestimmung zulässigerweise über den Mindeststandard des Art. 10 Abs. 1 d) der damals maßgebenden Richtlinie 2004/93/EG hinaus, weil danach geschlechtsbezogene Aspekte für sich allein genommen nicht ausreichten, um die Bestimmung anzuwenden.

35

Dazu Göbel-Zimmermann/Masuch, in: Huber, AufenthG 2010, § 60 Rn. 27 mwN; vgl. auch Nr. 60.1.4 der damaligen Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum AufenthG.

36

Es war nach den Gesetzesmaterialien ausdrücklich beabsichtigt, Opfer sexueller Gewalt in diesem Kontext besser zu schützen. Im Regierungsentwurf zum Zuwanderungsgesetz (BT-Drucks. 15/420, S. 91) wird zu § 60 AufenthG a. F. ausgeführt:

37

„Absatz 1 Satz 1 entspricht inhaltlich der Regelung in § 51 Abs. 1 AuslG. Ausdrücklich genannt wird jedoch aus Gründen der Klarstellung das Merkmal „Geschlecht“, das bisher mit Blick auf die internationale Staatenpraxis bei der Anwendung des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 und die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Bundesverwaltungsgericht Az.: 9 C 28.99 vom 25. Juli 2000 und 9 C 21.00 vom 21. Februar 2001) als Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe zu berücksichtigen war. Letzteres gilt auch für Verfolgung auf Grund der sexuellen Identität. Die Sätze 3 bis 5 verdeutlichen darüber hinaus, dass der Schutz des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 auch auf Fälle von nichtstaatlicher Verfolgung erstreckt werden soll. Auch insoweit schließt sich Deutschland damit nunmehr der Auffassung der überwiegenden Zahl der Staaten in der Europäischen Union an […].“

38

Diesen nationalen Standard hat der Gesetzbegeber bei Neufassung des Asylgesetzes nicht verlassen wollen, wie es im entsprechenden Entwurf zu § 3b AsylG heißt:

39

„Die Vorschrift setzt Artikel 10 der Richtlinie um. Artikel 10 Absatz 1 Buchstabe d der Richtlinie [gemeint: RL 2011/95/EU] enthält gegenüber der Vorläufervorschrift eine Änderung bei den Regelungen zur geschlechtsspezifischen Verfolgung. Danach sind geschlechtsbezogene Aspekte, einschließlich der geschlechtlichen Identität, bei der Bestimmung einer sozialen Gruppe angemessen zu berücksichtigen. Da diese Regelung für Antragsteller weniger günstig ist als die geltende deutsche Regelung, wurde sie nicht übernommen. Stattdessen wurde die geltende Regelung (§ 60 Absatz 1 Satz 3 des Aufenthaltsgesetzes) modifiziert beibehalten und ihr Regelungsbereich auf das Merkmal geschlechtliche Identität ausgedehnt. […]“

40

BT-Drucks. 17/13063, S. 19 f.; dazu auch NK-AuslR/Winfried Möller 2. Aufl. 2016, AsylVfG § 3b Rn. 14.

41

bb) Im Übrigen liegt einer Verfolgung durch Eingriffe in die sexuelle Selbstbestimmung auch der Verfolgungsgrund der politischen Überzeugung zugrunde. Durch solche politischen Ordnungen wird der unterprivilegierte Status der Frauen in patriarchalisch, totalitär-theokratischen Ordnungen festgeschrieben, der sich gegen die Überzeugungen der Frauen richtet (dazu Marx, AsylG, § 3 b Rn. 28, 33, 34). Gerade in Eritrea als totalitärem System ist dies auch der Fall: Nach einem Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe ist sexuelle Gewalt gegen Frauen in Eritrea weit verbreitet und wird nicht verfolgt.

42

Vgl näher SFH, Schnellrecherche vom 13. Februar 2018 zu Eritrea: Sexualisierte Gewalt gegen Frauen, S. 2 ff.

43

e) Frauen in Eritrea werden nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen im Nationaldienst häufig durch (militärische) Vorgesetzte sexuell missbraucht.

44

Ebenso bereits VG Schwerin, Urteil vom 08. Dezember 2017 – 15 A 1278/17 As SN –, juris Rn. 36 ff. und vom 3. Februar 2017 - 15 A 3692/16 As SN -, Umdruck, S. 10 und - 15 A 3443/16 As SN Umdruck, S. 10 je mwN jeweils auch juris; ebenso jetzt auch VG C-Stadt, Urteil vom 13. Februar 2019 – 19 A 984/18 –, juris Rn. 54 ff. unter Hinweis auf Hamburgisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 21. September 2018 – 4 Bf 186/18.A –, juris Rn. 46; VG Düsseldorf, Urteil vom 02. August 2018 – 6 K 3894/17.A –, juris LS und Rn. 51 ff.; VG Arnsberg, Urteil vom 27. Juni 2018 – 12 K 3982/16.A –, juris LS 2 und Rn. 43 ff.; a. A., da eine politische Motivation fehle: VG Köln, Urteil vom 12. Juli 2018 – 8 K 15907/17.A –, juris Rn. 37 f.

45

So schreibt die Schweizerische Flüchtlingshilfe unter Hinweis auf weitere Quellen in der bereits zitierten neueren Darstellung zum eritreischen Nationaldienst, dass sexuelle Gewalt und Straflosigkeit sehr verbreitet sei:

46

„Human Rights Watch, Amnesty International und US Department of State berichten übereinstimmend, dass Frauen im Rahmen des Nationaldienstes einem massiven Risiko von sexueller Gewalt durch Befehlshaber und Kameraden ausgesetzt sind. Die UN-Untersuchungskommission zu Eritrea berichtet von einer grossen Anzahl von Fällen von sexueller Gewalt gegen Frauen in den Militärcamps, in der Armee und in Haft. Ein ehemaliger Ausbilder sagte gegenüber der Kommission, dass sexuelle Gewalt in Sawa geradezu «normal» sei. Frauen im Nationaldienst müssen für Kommandanten kochen und putzen und würden dabei oft Opfer von sexuellem Missbrauch. Denjenigen, die sich der sexuellen Ausbeutung verweigern, drohen laut der UN-Untersuchungskommission mentale und körperliche Misshandlungen, die teilweise Folter gleichkomme. Die Sonderberichterstatterin zu Eritrea erwähnt in diesem Zusammenhang auch schlechte Behandlung, psychologische Gewalt oder Verweigerung von Urlaub für Familienbesuche. Die Konsequenzen der sexuellen Gewalt sind für die Frauen verheerend: Sie leiden unter langanhaltender physischen und psychischen Konsequenzen. Diejenigen die ungewollt schwanger werden, werden von ihren Familien stigmatisiert und aus der Gemeinschaft ausgeschlossen, während die Täter angesichts fehlender Beschwerdeverfahren meist straflos davon kommen. Einige Frauen versuchen, ungewollte Kinder mit traditionellen Methoden abzutreiben.“

47

SFH, Eritrea: Nationaldienst, S. 12 f.

48

Im amnesty-Report 2017/18 (Stand: 12/2017) wird insbesondere zu den Zuständen im Schüler-Ausbildungslager Sawa ausgeführt:

49

„Die Schüler unterlagen militärischer Disziplin und erhielten ein Waffentraining. Für Frauen waren die Bedingungen in dem Ausbildungslager besonders hart: Sie waren u. a. sexueller Versklavung und Folter sowie anderen Formen sexualisierter Gewalt ausgesetzt.“

50

Auch die EASO berichtet über sexuelle Gewalt durch Vorgesetzte gegen Frauen im Nationaldienst. Wer sich weigere, könne bestraft werden.

51

Vgl. EASO, Länderfokus Eritrea (Mai 2015), S. 34 und 39.

52

Das Auswärtigen Amt hat im vorletzten Lagebericht ebenfalls ausgeführt, dass die

53

„Commission of Inquiry der VN […] von Berichten über sexuelle Nötigung und Gewalt bis hin zu Vergewaltigung gegenüber weiblichen Rekruten [spricht]. Nach Aussagen von Betroffenen wurden weibliche Rekruten unter Androhung eines verschärften Militärdienstes oder der Aussetzung von Heimatreisen zum Geschlechtsverkehr mit Vorgesetzten gezwungen. Eine Weigerung führte in manchen Fällen zu Internierung, Misshandlungen und Folter, z.B. Nahrungsentzug oder dem Aussetzen extremer Hitze.“

54

AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea (Stand: November 2016) vom 21. November 2016, S. 12.

55

Im letzten Bericht hat das AA etwas zurückhaltender formuliert:

56

„Die Commission of Inquiry der VN spricht von Berichten über sexuelle Nötigung

57

und Gewalt bis hin zu Vergewaltigung gegenüber weiblichen Rekruten. Nach Aussagen von Betroffenen wurden weibliche Rekruten unter Androhung eines verschärften Militärdienstes oder der Aussetzung von Heimatreisen zum Geschlechtsverkehr mit Vorgesetzten gezwungen. Eine Weigerung führte in manchen Fällen zu Internierung, Misshandlungen und Folter, z.B. Nahrungsentzug oder dem Aussetzen extremer Hitze (so die Commission of Inquiry, dies wird von anderen Quellen nicht bestätigt). Nach dem letzten Bericht der früheren VN-Sonderberichterstatterin Keetaruth stellt die anhaltende Leugnung der Existenz sexueller Ausbeutung und Gewalt in der Armee durch die Regierung eine Verweigerung der Rechte der

58

Frauen dar, die dringend abgestellt werden müsse.“

59

AA, Bericht über die asyl- und abschieberelevante Lage in Eritrea (Stand: Februar 2019) vom 22. März 2019, S. 15.

60

Ferner hat das Auswärtige Amt in einer Stellungnahme gegenüber dem Verwaltungsgericht Schleswig unter dem 27. Juli 2018 zur Frage, ob Dienstleistende im Nationaldienst (Männer und Frauen) regelmäßig Opfer von sexueller Gewalt würden, ausgeführt:

61

„Diese Frage ist nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes zu verneinen.

62

Entgegen dem VN-Report von 2015, der sich nur auf Aussagen von Flüchtlingen und Migranten im Ausland stützte, gibt es dafür keinerlei Anhaltspunkte. Diesen Punkt haben EU-Botschafter in einem Bericht von 2016 ausdrücklich verneint.“

63

5. Im vorliegenden Fall gilt nach allem Folgendes:

64

a) Aus einer Gesamtschau der genannten Erkenntnisquellen folgt die beachtliche Wahrscheinlichkeit, dass die Klägerin im Nationaldienst Eritreas sexuellen Übergriffen ausgesetzt sein wird. Der Klägerin ist daher die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, weil ihr sie sich nach ihrem glaubhaften Vortrag trotz ihrer damaligen Minderjährigkeit die Einziehung in den Nationaldienst drohte. Bei Rückkehr müsste sie jedenfalls mit ihrer Einziehung zum Nationaldienst rechnen, wobei ihr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mindestens eine Verletzung ihres sexuellen Selbstbestimmungsrechtes drohen würde.

65

b) Ohne dass hier abschließend zu klären wäre, ob Frauen in Eritrea regelmäßig Opfer sexueller Gewalt im Nationaldienst werden, ist darauf hinzuweisen, dass zu Verfolgungshandlungen nach § 3 a Nr. 6 AsylG auch solche zählen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen. Dazu gehören nach einhelliger Ansicht auch Vergewaltigungen (vgl. nur Marx, AsylG, § 3 a Rn. 46 mwN). Diesen Handlungen wird in Eritrea nach den vorliegenden Erkenntnisquellen staatlicherseits nicht entgegengetreten, so dass § 3 c Nr. 3 AsylG einschlägig ist. Nach dem Eindruck des Gerichts sind nach den vorliegenden verschiedenen Berichten die sexuellen Übergriffe jedenfalls so häufig, dass nicht von einem sog. Amtswalterexzeß durch vereinzelte und spontane Vorgänge gesprochen werden kann (dazu näher Marx, AsylG § 3d Rn. 39).

66

III. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte gemäß § 154 Abs. 1 VwGO als Unterliegende zu tragen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 VwGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 11, 709 Satz 2, 711 ZPO.

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