Urteil vom Verwaltungsgericht Schwerin (4. Kammer) - 4 A 700/18 SN

Tenor

Der Bescheid des Beklagten 19.12.2017 und sein Widerspruchsbescheid vom 14.03.2018 werden aufgehoben.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten gegen Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über vom Beklagten nachträglich erhobene Plagiatsvorwürfe hinsichtlich der im Jahr 2011 erstellten Masterarbeit des Klägers und die daraus gezogenen bzw. ausgesprochenen Rechtsfolgen.

2

Der Kläger wendet sich gegen die mit Bescheid des Beklagten vom 19.12.2017 getroffenen Feststellungen, dass die Master-Thesis des Klägers mit der Note 5,0 im 1. Versuch nicht bestanden und somit auch die Master-Prüfung nicht bestanden ist, gegen die Rücknahme der Verleihung des akademischen Grades des Masters of Business Consulting im Master-Fernstudiengang Business Consulting vom 16.11.2011 sowie des Master-Zeugnisses vom 16.11.2011 mit Wirkung für die Vergangenheit, die Rücknahme des Exmatrikulationsbescheides wegen bestandener Abschlussprüfung vom 25.11.2011 mit Wirkung für die Vergangenheit und die Einziehung der Masterurkunde sowie des Master-Zeugnisses jeweils vom 16.11.2011 einschließlich des Diploma Supplements.

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Der 1955 geborene Kläger studierte ab dem Wintersemester 2009/10 an der Hochschule Wismar im Master-Fernstudiengang Business Consulting. Seine am 26.10.2011 eingereichte Masterarbeit mit dem Thema „Bewertungsverfahren für kleine und mittlere Unternehmen (KMU)“ wurde von beiden Prüfern mit der Note 1,7 bewertet. Unter Berücksichtigung seiner Leistungen im Kolloquium erhielt er die Gesamtnote 1,5 zuerkannt. Ein Plagiatsverdacht war bei der Bewertung der Arbeit nicht aufgekommen. Ihm wurde der akademische Grad des Masters of Business Consulting verliehen sowie eine Master-Urkunde und ein Master-Zeugnis ausgehändigt.

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Im Juli 2017 wandte sich die Steuerberaterkammer Niedersachsen, deren Mitglied der mittlerweile promovierte Kläger inzwischen war, an den Beklagten mit dem Anliegen, dass sich gegenüber der Dissertationsschrift des Kläger ein Plagiatsverdacht ergeben habe, der sich auch auf dessen Masterarbeit erstrecke.

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Der Beklagte ließ darauf hin zwei Sondergutachten von Professor Dr. Z. vom 20.09.2017 und Professor Dr. B. vom 25.09.2017 fertigen, die in der Masterarbeit des Klägers umfangreiche Übernahmen ohne Quellenangabe aus zwei (zeitlich früheren) Diplomarbeiten L. und H. feststellten. Der Prüfungsausschuss machte sich die Sondergutachten zu Eigen. Mit Bescheid vom 19.12.2017 hob der Beklagte seine den Kläger begünstigenden Entscheidungen aus dem Jahre 2011 auf.

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Den dagegen eingelegten Widerspruch wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 14.03.2018 zurück. Dem Kläger sei eine schwerwiegende Täuschung vorzuwerfen. Die Rücknahme der für den Kläger positiven Entscheidung aus dem Jahre 2011 finde in § 48 Abs. 1 VwVfG M-V seine Rechtsgrundlage. Ein rechtswidriger Verwaltungsakt könne danach, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Die Jahresfrist nach § 48 Abs. 4 VwVfG M-V sei vorliegend eingehalten. Nach herrschender Meinung der Verwaltungsgerichte hätten zwar Prüfungsordnungen – wie hier die Prüfungsordnung für den Master-Fernstudiengang Business Consulting der Hochschule Wismar vom 18.03.2005 – PO – gemäß § 1 Abs. 1 VwVfG M-V Anwendungsvorrang vor den allgemeinen verfahrensrechtlichen Bestimmungen des Landesverwaltungsverfahrensgesetzes über die Rücknahme begünstigender Verwaltungsakte. Dieser Auffassung schließe sich der Beklagte aber nicht an. Der Anwendungsvorrang in § 1 Abs. 1 VwVfG M-V beschränke sich auf formelles Gesetzesrecht.

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Am 06.04.2018 hat der Kläger das Verwaltungsgericht angerufen. Als rechtliche Grundlage für die Entscheidung des Beklagten komme allein § 26 Abs. 1 PO in Betracht. Der Kläger bestreite, versucht zu haben, das Ergebnis seiner Arbeit durch Täuschung zu beeinflussen. Die getroffenen Rechtsfolgen des Beklagten seien im Übrigen unverhältnismäßig. Schließlich verletzten die getroffenen Entscheidungen auch die Fristenregelung in § 26 Abs. 4 Satz 3 PO, wonach nach Ablauf einer Frist von fünf Jahren ab dem Datum des Zeugnisses solche Entscheidungen ausgeschlossen seien.

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Der Kläger beantragt,

9

den Bescheid des Beklagten vom 19.12.2017 und seinen Widerspruchsbescheid vom 14.03.2018 aufzuheben.

10

Der Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Er verteidigt die ergangenen Bescheide.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

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Das Gericht entscheidet in der Besetzung des Einzelrichters, nachdem die Kammer nach Anhörung der Beteiligten diesem den Rechtsstreit zur Entscheidung übertragen hat, § 6 Abs. 1 VwGO.

15

Die Entscheidung ergeht ohne mündliche Verhandlung, nachdem die Beteiligten hierzu ihr Einverständnis erklärt haben, § 101 Abs. 2 VwGO.

16

Der am 19.12.2017 ergangene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 VwGO. Das Gericht teilt die Auffassung des Klägers, dass im Dezember 2017 – mehr als fünf Jahre (konkret mehr als sechs Jahre) nach dem Datum des Master-Zeugnisses – wegen Fristablaufs eine Entziehungsentscheidung nicht mehr hat erfolgen dürfen:

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Der Beklagte hat seine streitbefangene Entscheidung auf § 48 Abs. 1 VwVfG M-V gestützt. Diese Vorschrift kommt wegen der Anwendungsbereichsregelung § 1 Abs. 1 VwVfG M-V aber nicht zur Anwendung. Danach gilt das Landesverwaltungsverfahrensgesetz nicht, soweit landesrechtliche Vorschriften inhaltsgleiche oder entgegenstehende Bestimmungen enthalten. Dies ist vorliegend der Fall.

18

Regelungen über die Ungültigkeit der Master-Prüfung bzw. der Aufhebbarkeit diesbezüglich getroffener Entscheidungen bei nachträglich bekannt gewordener Täuschung enthalten sowohl § 26 PO als auch § 26 der Rahmenprüfungsordnung der Hochschule Wismar vom 19.10.2012 – RPO –. Letztere Vorschrift ist nach der dortigen Inkrafttretensregelung § 48 Abs. 2 RPO, nach der zeitlich frühere Prüfungsordnungen nur insoweit bestehen bleiben, als sie über die Rahmenprüfungsordnung hinausgehende, diese ergänzende oder für die Studierenden günstigere Bestimmung enthalten, im Dezember 2017 nicht mehr anzuwenden gewesen. Für die Aufhebung eines Verwaltungsaktes kommt es – vorbehaltlich abweichender ausdrücklicher Regelung – auf die Rechtslage zum Zeitpunkt der Aufhebungsentscheidung an.

19

§ 26 Abs. 1 RPO regelt den Fall einer erst nach Aushändigung des Zeugnisses bekannt gewordenen Täuschung einer Kandidatin oder eines Kandidaten. Als Rechtsfolge wird die Berichtigung der Note vorgesehen, gegebenenfalls kann die Prüfung für „nicht ausreichend und die Prüfung für „nicht bestanden“ erklärt werden. Nach Satz 1 der Vorschrift ist das Zeugnis einzuziehen und gegebenenfalls ein neues zu erteilen. Nach Abs. 4 Satz 2 der Vorschrift sind mit dem unrichtigen Zeugnis auch die Bachelor- oder Master-Urkunde sowie eine ausgestellte englische Übersetzung einzuziehen, wenn die Prüfung aufgrund einer Täuschung für „nicht bestanden“ erklärt wurde. Nach § 26 Abs. 4 Satz 3 RPO ist eine Entscheidung nach Abs. 1 der Vorschrift aber nach einer Frist von fünf Jahren ausgeschlossen.

20

Da die Aushändigung des Zeugnisses vorliegend im November 2011 erfolgte war zum Zeitpunkt des Erlasses des Bescheids vom 19.12.2017 eine Aberkennung/Rückabwicklung der Masterprüfung und -verleihung ausgeschlossen.

21

Mit dieser Regelung hat der Satzungsgeber eine Entscheidung im Zielkonflikt zwischen Rechtssicherheit und Vertrauensschutz einerseits und Richtigkeit und Gerechtigkeit von Verwaltungsakten andererseits getroffen, die von Verfassung wegen nicht zu beanstanden ist. Dass außerhalb dieses speziellen prüfungsrechtlichen Regelungsbereiches der Landesgesetzgeber in § 48 VwVfG mit der Jahresfrist in Abs. 4 eine abweichende Regelung getroffen hat, kann dies unter Berücksichtigung des weiten gesetzgeberischen Ermessens nicht in Frage ziehen.

22

Der hier vertretenen Rechtsauffassung lässt sich auch nicht entgegenhalten, dass es sich bei dieser Vorschrift der Rahmenprüfungsordnung nicht um eine „landesrechtliche Vorschrift“ im Sinne des § 1 Abs. 1 VwVfG M-V handele, sondern um einen Rechtssetzungsakt der Exekutive, konkret der Hochschule. Der förmliche Landesgesetzgeber hat in § 38 Abs. 2 LHG M-V (hier in der Fassung der Bekanntmachung vom 25.01.2011) die Hochschulen zum Erlass einer Rahmenprüfungsordnung ermächtigt (Gesetzesvorbehalt) und ausdrücklich in Nummer 12 der Vorschrift vorgegeben, dass die Rahmenprüfungsordnung die Prüfungsorgane, die Form und das Verfahren der Prüfung sowie die Folgen von Verstößen gegen Prüfungsvorschriften regeln muss. Die zeitliche Beschränkung der Rechtsfolgen bei nachträglich festgestellten Verstößen gegen Prüfungsvorschriften wird von dieser formell-gesetzlichen Ermächtigung gedeckt. Landesrechtliche Vorschriften im Sinne des § 1 Abs. 1 VwVfG M-V sind nicht nur solche Vorschriften, die der formelle Landesgesetzgeber selbst getroffen, sondern auch jene, die aufgrund einer entsprechenden Ermächtigungsnorm des formellen Landesgesetzgebers im Wege einer Rechtsverordnung oder einer Satzung von der Exekutive erlassen werden (vgl. OVG Münster, Urteil vom 10.02.2016 – 19 A 991/12–, juris, Rn. 49; Urteil vom 10.12.2015 – 19 A 254/13 –, juris, Rn. 61 ff.; im Ergebnis so auch: BVerwG, Urteil vom 08.08.1986 – 4 C 16/84 –, juris, Rn 8 f.; aA.: VG Gelsenkirchen, Urteil vom 12.03.2012 – 4 K 3125/08 –, juris, Rn. 211). Der Begriff der „landesrechtlichen Vorschriften“ in § 1 Abs. 1 VwVfG M-V steht allein in Abgrenzung dazu, dass in der entsprechenden Vorschrift § 1 Abs. 1 des Bundesverwaltungsverfahrensgesetzes ein Anwendungsvorrang von „Rechtsvorschriften des Bundes“ aufgeführt ist, soweit ansonsten dieses Bundesgesetz zur Anwendung kommt. Ohne die Erstreckung des Anwendungsvorrangs aus § 1 Abs. 1 VwVfG M-V auf das in Ausführung von § 38 Abs. 2 Nummer 12 LHG M-V ergangene Satzungsrecht der Hochschule Wismar liefe das entsprechende Landesrecht leer. Es wäre ungereimt, einerseits die Regelungen der Folgen von Verstößen gegen Prüfungsvorschriften den Hochschulen vorzubehalten und ihnen zugleich gesetzlich zwingend aufzugeben, andererseits aber gerade dann, wenn die Hochschulen eine solche eigenständige Regelung über die Rückgängigmachung einmal erworbener akademischer Grade ohne Verweisung auf die allgemeinen Bestimmungen über Rücknahme und Widerruf getroffen haben, gleichwohl auf die §§ 48, 49 VwVfG M-V zurückzugreifen und die abweichende Satzungsregelung für unanwendbar zu halten.

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Von dorther ist wegen Fristablaufs und einhergehender Unanwendbarkeit der Sanktionsregelung § 26 RPO trotz deren grundsätzlicher Einschlägigkeit nicht streitentscheidend, dass das Gericht im Übrigen die tatbestandlichen Voraussetzungen der Sanktionsvorschrift für gegeben hält.

24

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 167 VwGO, 709 ZPO.

25

Gründe für die Zulassung der Berufung liegen nicht vor (§ 124 VwGO).

26

Beschluss:

27

Der Streitwert wird gemäß § 52 Abs. 1 GKG auf 15.000 € festgesetzt.

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