Beschluss vom Verwaltungsgericht Sigmaringen - 8 K 1034/22

Tenor

Es wird festgestellt, dass der Widerspruch des Antragstellers gegen die Hausverfügung des Präsidenten des Landgerichts ... vom 4. April 2022 aufschiebende Wirkung hat.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auf 5.000 EUR festgesetzt.

Gründe

 
I.
Der Antragsteller wendet sich im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes gegen die durch Hausverfügung des Präsidenten des Landgerichts ... vom 4. April 2022 angeordnete Pflicht zum Tragen einer medizinischen Maske im Gebäude des Landgerichts ....
Der Antragsteller ist als Rechtsanwalt im Landgerichtsbezirk ... zugelassen.
Am 4. April 2022 erließ der Präsident des Landgerichts ... folgende Hausverfügung:
„Personen,
-die Symptome einer Corona-Erkranung zeigen oder
-die nach der Corona-Verordnung Absonderung des Landes-Baden-Württemberg oder nach der Coronavirus-Einreiseverordnung des Bundes zur Absonderung verpflichtet sind,
dürfen das Gebäude des Landgerichts und des Amtsgerichts nicht betreten.
Alle Personen müssen im Gebäude eine medizinische Maske (FFP2-Maske oder OP-Maske) tragen.“
Eine Begründung oder Rechtsbehelfsbelehrung enthält die Hausverfügung nicht.
Mit Schreiben vom 4. April 2022 wandte sich der Antragsteller an den Präsidenten des Landgerichts ... mit der Bitte um Mitteilung der Rechtsgrundlage für die weiterhin geltende Pflicht zum Tragen einer Maske im Gerichtsgebäude des Landgerichts ... bzw. um Abhilfe hinsichtlich dieser Pflicht. Da er keine Rechtsgrundlage für die Anordnung der Pflicht zum Tragen einer medizinischen Maske im Gebäude des Landgerichts ... gefunden habe, sei diese Anordnung nach seiner Rechtsauffassung nicht haltbar. Als Rechtsanwalt aus ... sei er bei seiner Berufsausübung von der Anordnung der Maskenpflicht selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen.
Hierauf teilte der Präsident des Landgerichts ... dem Kläger mit Schreiben vom 5. April 2022 mit, die Weitergeltung der Maskenpflicht entspreche einer ausdrücklichen Empfehlung des Justizministeriums. Gesetzliche Grundlage für die Anordnung der Pflicht zum Tragen einer
Maske außerhalb des Sitzungssaales sei das Hausrecht. Im Sitzungssaal selbst und für den unmittelbar vorgelagerten Bereich entscheide der bzw. die jeweilige Vorsitzende auf der Grundlage von § 176 GVG.
Mit einem weiteren Schreiben an den Präsidenten des Landgerichts ... vom 7. April 2022 bat der Antragsteller ausdrücklich um einen rechtsmittelfähigen Bescheid.
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Am 26. April 2022 hat der Antragsteller den Erlass einer einstweiligen Anordnung beantragt. Zur Begründung trägt der Antragsteller vor, mit Inkrafttreten der Änderungen des § 28a Abs.
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8 IfSG am 3. April 2022 gebe es keine Rechtsgrundlage für das Tragen einer Maske vom Betreten bis zum Verlassen des Gerichtsgebäudes. Hierbei handle es sich um einen wesentlichen rechtlichen bzw. ideellen Nachteil, weil jedermann weiterhin Eingriffe in Grundrechte dulden müsse und weil durch eine derartige Rechtsanwendung das Vertrauen der Rechtssuchenden in die Funktionsfähigkeit der Rechtspflege bzw. des Rechtsstaates erheblichen Schaden erleide. Es stehe fest, dass es in Baden-Württemberg keine „Hot-Spot-Regelungen“ gebe und die gegenwärtig einschlägigen infektionsschutzrechtlichen Regelungen nur die Anordnung einer Maskenpflicht für Krankenhäuser, Pflegeheime, den öffentlichen Nah- und Fernverkehr sowie Justizvollzugsanstalten vorsähen. Ein Abwarten auf eine Entscheidung in der Hauptsache sei wegen grundsätzlicher Bedeutung und rechtsstaatlicher Grundsätze unzumutbar. Auch bestehe die Gefahr, dass auch in Zukunft mögliche Außervollzugsetzungen von unnötigen Corona-Schutzmaßnahmen ebenfalls nicht unverzüglich umgesetzt würden.
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Der Antragsteller beantragt ausdrücklich,
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den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung vorläufig zu verpflichten, es zu unterlassen, gegenüber dem Antragsteller und anderen Verfahrensbeteiligten sowie Besuchern – ab Eingang des Gerichtsgebäudes bis zu dessen Verlassen – das Tragen einer medizinischen Maske (FFP2 oder sogenannte OP-Masken) anzuordnen, und
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den Antragsgegner ebenfalls vorläufig zu verpflichten, unverzüglich die entsprechenden Änderungshinweise auf der Homepage des Gerichts vorzunehmen sowie die derzeitigen Hinweisschilder am Eingang des Gerichtsgebäudes mit der Aufschrift „Hier herrscht Maskenpflicht“ zu entfernen.
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Der Antragsgegner beantragt,
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den Antrag abzulehnen.
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Zur Begründung trägt der Antragsgegner vor, der Antrag sei bereits unzulässig, da der Antragsteller seinen Antrag nicht gegen den richtigen Antragsgegner gerichtet habe. Die Anordnung der Maskenpflicht sei vom Hausrecht des Landgerichtspräsidenten gedeckt. Der Präsident des Landgerichts ... halte die Maskenpflicht zur Vermeidung der weiteren Verbreitung des Coronavirus für erforderlich. Diese Einschätzung entspreche sowohl der Empfehlung des Ministeriums der Justiz und für Migration vom 31. März 2022 als auch der Einschätzung diverser weiterer Gerichtspräsidenten.
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Hinsichtlich des weiteren Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die Akte des Antragsgegners Bezug genommen.
II.
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Der Antrag hat in der tenorierten Weise Erfolg.
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1. Der auf einstweiligen Rechtsschutz gerichtete Antrag des Antragstellers ist zulässig. Der Antrag ist dahingehend auszulegen, dass die Feststellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die Hausverfügung vom 4. April 2022 begehrt wird.
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a) Der vorliegende Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz ist gegen den richtigen – passiv prozessführungsbefugten – Antragsgegner gerichtet. Gem. § 78 Abs. 1 Nr. 1 VwGO analog ist der Antrag gegen den Bund, das Land oder die Körperschaft, deren Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, zu richten. Mithin ist der Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz im vorliegenden Verfahren gegen das Land Baden-Württemberg als Rechtsträger des Landgerichts Tübingen, vertreten durch die Präsidentin des OLG (§ 1 Abs. 2 Satz 1 der Anordnung der Landesregierung über die Vertretung des Landes in gerichtlichen Verfahren und förmlichen Verfahren vor den Verwaltungsbehörden i.V.m. Ziff. I. Abs. 1 Nr. 1 der Bekanntmachung der Ministerien über die Vertretung des Landes in gerichtlichen Verfahren und förmlichen Verfahren vor den Verwaltungsbehörden vom 28.02.2012), zu richten. Mit Schriftsatz vom 8. Mai 2012 hat der Antragsteller ausdrücklich erklärt, dass der Antrag gegen das Land Baden-Württemberg, vertreten durch die Präsidentin des OLG, zu richten sei. Da der vorliegende Antrag nicht fristgebunden ist, kann dahingestellt bleiben, ob der Antrag ursprünglich zulässig war oder nicht. Zudem dürfte in der Antragsschrift vom 26. April 2022 lediglich eine unschädliche fehlerhafte Bezeichnung des richtigen Antragsgegners vorgelegen haben, da sich der richtige Antragsgegner nach dem objektiven Erklärungswert unschwer durch Auslegung feststellen ließ. Ist die Feststellung des richtigen Antragsgegners durch Auslegung möglich, so hat das Gericht von Amts wegen das Rubrum zu korrigieren und die richtige Bezeichnung in dieses aufzunehmen (Funke-Kaiser in: Bader/Funke-Kaiser/Stuhlfauth/von Albedyll, VwGO, 8. Aufl. 2021, § 78 Rn. 16), wie es auch vorliegenden Verfahren geschehen ist. Die VwGO differenziert hinsichtlich den Anforderungen an die Bezeichnung des Beklagten bzw. Antragsgegners nicht zwischen anwaltlich vertretenen und nicht anwaltlich vertretenen Klägern bzw. Antragstellern; allerdings ist bei anwaltlich nicht vertretenen Klägern bzw. Antragstellern noch sorgfältiger zu ermitteln, ob eine unschädliche fehlerhafte Bezeichnung vorliegt und ob sich der richtige Beklagte bzw. Antragsgegner durch Auslegung ermitteln lässt.
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b) Da es sich bei der streitgegenständlichen Anordnung der Maskenpflicht um einen Verwaltungsakt gem. § 35 LVwVfG handelt, ist ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO statthaft. Eine entsprechende Auslegung des Antrags des Antragstellers entgegen seiner ausdrücklichen Formulierung ist möglich, da das Gericht nicht an die Fassung des gestellten Antrags gebunden ist und diesen ggf. nach dem erkennbaren Ziel des Rechtsschutzbegehrens umzudeuten hat (Kopp/ Schenke, VwGO, 26. Auflage 2020, § 123 Rn. 4).
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Bei der Anordnung der Maskenpflicht im Gebäude des Landgerichts ... handelt es sich um einen Verwaltungsakt nach § 35 LVwVfG, da diese Anordnung eine hoheitliche Maßnahme mit Entscheidungscharakter auf dem Gebiet des öffentlichen Rechts ist. Da der Präsident des Landgerichts ... beim Erlass der Anordnung der Maskenpflicht sein Hausrecht ausgeübt hat, war er als Behörde und nicht als Organ der Rechtsprechung tätig (Kopp/ Ramsauer, VwVfG, 21. Auflage 2020, § 35 Rn. 69). Die Ausübung des Hausrechts durch den Behördenleiter oder seinen Stellvertreter ist als öffentlich-rechtlich zu qualifizieren, soweit diese der Sicherung der Zweckbestimmung einer in den Formen des öffentlichen Rechts tätigen Einrichtung dient (Kopp/ Ramsauer, a.a.O., § 35 Rn. 74). Die Anordnung der Maskenpflicht soll dem Infektionsschutz im Gerichtsgebäude und damit der Sicherheit aller am Gerichtsverfahren beteiligter Personen vor dem Coronavirus dienen. Mithin soll die Anordnung der Maskenpflicht das subjektive Recht des Einzelnen gegen den Staat auf Entscheidung seines Privatrechtsstreits vor dem Landgericht Tübingen (Justizgewährungsanspruch) sowie den Strafanspruch des Staates unter Pandemiebedingungen sichern. Die Anordnung der Maskenpflicht ist vor diesem Hintergrund als öffentlich-rechtlich zu qualifizieren. Bei der streitgegenständlichen Anordnung der Maskenpflicht im Gebäude des Landgerichts ... handelt es sich um eine Allgemeinverfügung im Sinne des § 35 Satz 2 LVwVfG, da Adressaten der Anordnung alle Personen sind, die im zeitliche Geltungsbereich der Regelung das Gebäude des Landgerichts Tübingen betreten. Mithin richtet sich die Regelung an einen nach allgemeinen Merkmalen bestimmbaren Personenkreis bzw. es wird die Benutzung des Gerichtsgebäudes durch die Allgemeinheit geregelt.
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Ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO setzt jedoch voraus, dass ein gegenüber dem Antragsteller noch nicht bestandskräftiger Verwaltungsakt vorliegt, der entweder kraft Gesetzes (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 3, S. 2 VwGO) oder kraft behördlicher Anordnung des Sofortvollzugs (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO) sofort vollziehbar ist. Besteht in Bezug auf einen Verwaltungsakt bereits aufschiebende Wirkung gem. § 80 Abs. 1 VwGO, gehen die Beteiligten aber fälschlich davon aus, der Verwaltungsakt sei vollziehbar, so ist ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung grundsätzlich in einen Antrag auf Feststellung der aufschiebenden Wirkung umzudeuten.
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Die Hausverfügung vom 4. April 2022 ist nicht kraft Gesetzes sofort vollziehbar; die Voraussetzungen von § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 3, S. 2 VwGO liegen offensichtlich nicht vor und der Sofortvollzug wurde der Hausverfügung vom 4. April 2022 wurde nicht nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO angeordnet. Mithin hat der Widerspruch des Antragstellers gegen die Hausverfügung vom 4. April 2022 aufschiebende Wirkung. Da der Antragsgegner offensichtlich von der sofortigen Vollziehbarkeit der Anordnung der Maskenpflicht in der Hausverfügung vom 4. April 2022 ausgeht und sich der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers nicht bewusst zu sein scheint, war der Antrag des Antragstellers als Antrag auf Feststellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs auszulegen.
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c) Auch die übrigen Zulässigkeitsvoraussetzungen eines Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO liegen vor. Insbesondere ist die Hausverfügung vom 4. April 2022 gegenüber dem Antragsteller nicht bestandskräftig, da der Antragsteller fristgemäß (vgl. § 70 Abs. 1 Satz 1 VwGO) Widerspruch bei der Behörde, die den Verwaltungsakt erlassen hat, dem Präsidenten des Landgerichts ..., erhoben hat. Die Schreiben des Antragstellers vom 4. April 2022 und vom 7. April 2022 an den Präsidenten des
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Landgerichts ... sind als Widerspruch gegen die Hausverfügung vom 4. April 2022 auszulegen, da der Antragsteller in seinem Schreiben vom 4. April 2022 mit seiner Formulierung „[…], so dass nach meiner Rechtsauffassung diese Anordnungen nicht haltbar sind.“ und „Aus den vorgenannten Gründen möchte ich […] um Aufklärung über die […] gesetzliche Grundlage bzw. Abhilfe bitten, […]“ eindeutig zum Ausdruck bringt, dass er mit der in der Hausverfügung vom 4. April 2022 angeordneten Maskenpflicht nicht einverstanden ist; zudem hat der Antragsteller in seinem Schreiben vom 7. April 2022 ausdrücklich um einen rechtsmittelfähigen Bescheid gebeten.
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2. Der auf Feststellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 4. April 2022 gerichtete Antrag ist auch begründet, da der Widerspruch aufschiebende Wirkung hat (siehe oben). Eine Interessenabwägung findet insoweit nicht statt (Kopp/ Schenke, a.a.O., § 80 Rn. 181).
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Im Hinblick darauf, dass die Hausverfügung vom 4. April 2022 jederzeit um eine Anordnung des Sofortvollzugs nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO ergänzt werden könnte, hat die Kammer dennoch eine summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage vorgenommen und kommt zu dem Ergebnis, dass die Hausverfügung vom 4. April 2022 voraussichtlich rechtswidrig sein dürfte.
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Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende
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Wirkung eines Rechtsbehelfs ganz oder teilweise wiederherstellen, wenn gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO durch Behördenentscheidung der Sofortvollzug angeordnet wurde. Das Gericht trifft dabei eine eigene Ermessensentscheidung. Es hat abzuwägen zwischen dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung des streitgegenständlichen Verwaltungsaktes und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Bei dieser Abwägung sind die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens zu berücksichtigen. Ergibt die im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO allein erforderliche summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage, dass der Widerspruch voraussichtlich erfolglos bleiben wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid schon bei summarischer Prüfung als rechtswidrig, so besteht kein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer allgemeinen Interessenabwägung.
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Die Interessenabwägung würde hier im Fall der Anordnung des Sofortvollzugs durch den Antragsgegner bei im Übrigen gleichbleibender Sach- und Rechtslage nach summarischer Prüfung voraussichtlich zu Gunsten des Antragstellers ausfallen.
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a) Für die streitgegenständliche Anordnung der Maskenpflicht dürfte es nach der vorläufigen Einschätzung der Kammer bereits an einer Ermächtigungsnorm fehlen. Weder das Infektionsschutzgesetz selbst noch die derzeit geltende Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-CoV-2 (Corona-Verordnung – CoronaVO) vom 29. April 2022 in der Fassung vom 2. Mai 2022 bieten dem Präsidenten des Landgerichts ... eine einschlägige Ermächtigungsgrundlage zur Anordnung der streitigen Maskenpflicht (so auch VG Gießen, Beschluss vom 02. Mai 2022, Az. 3 L 793/22.GI, juris Rn. 23).
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Zu Recht hat der Antragsteller diesbezüglich darauf hingewiesen, dass die derzeitige Fassung des § 28a Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 IfSG die Maskenpflicht nur noch für ausgewählte Bereiche – etwa für Arztpraxen, Krankenhäuser, Pflegeheime oder auch Fahrzeuge des öffentlichen Personennahverkehrs – als Schutzmaßnahme iSd § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG benennt und Gerichte in diesen Bereich gerade nicht eingeschlossen sind. An diese Regelung im IfSG anknüpfend hat auch der Verordnungsgeber – im Rahmen seiner Ermächtigung nach § 32 Satz 1 IfSG – in § 3 CoronaVO eine Maskenpflicht „lediglich“ in geschlossenen Fahrzeugbereichen von Verkehrsmitteln des öffentlichen Personennahverkehrs (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 CoronaVO), Arztpraxen (§ 3 Abs. 1 Nr. 2 CoronaVO), Einrichtungen und Fahrzeugen sowie an Einsatzorten des Rettungsdienstes (§ 3 Abs. 1 Nr. 3 CoronaVO) und Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe (§ 3 Abs. 1 Nr. 4 CoronaVO) angeordnet. Für die des Weiteren in § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 IfSG aufgezählten Einrichtungen und Unternehmen nach § 23 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bis 5, 11 IfSG sowie nach § 36 Abs. 1 Nr. 2 bis 4 und Nr. 7 IfSG ist in § 5 CoronaV das Sozialministerium bzw. das Justizministerium (für § 36 Abs. 1 Nr. 4 IfSG) zur Festlegung von Pflichten zum Tragen von Atemschutzmasken durch Verordnung ermächtigt worden. Besondere Verordnungsermächtigungen für den Fall, dass der Landtag gem. § 28a Abs. 8 Satz 1 IfSG feststellt, dass durch eine epidemische Ausbreitung der Coronavirus-Krankheit 2019 eine konkrete Gefahr einer sich dynamisch ausbreitenden Infektionslage landesweit besteht, sind in § 6 CoronaVO geregelt. In keiner dieser Verordnungsermächtigungen ist die Anordnung von Maskenpflichten in Gerichtsgebäuden vorgesehen. Angesichts der abschließenden Regelung der Bereiche, in denen die Verpflichtung zum Tragen einer Atemschutzmaske oder einer medizinischen Gesichtsmaske nach § 28a Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 IfSG unabhängig von einer durch den Deutschen Bundestag nach § 5 Abs. 1 Satz 1 IfSG festgestellten epidemischen Lage von nationaler Tragweite angeordnet werden kann und angesichts der detaillierten Regelungen hierzu in der CoronaVO ist es nach vorläufiger Prüfung der Rechtslage durch die Kammer sehr fraglich, ob das gewohnheitsrechtlich anerkannte Hausrecht (BVerfG, Beschluss vom 14. März 2012, Az. 2 BvR 2405/11, juris Rn. 24; BVerwG, Beschluss vom 17. Mai 2011, Az. 7 B 17.11, juris Rn. 8; VG Berlin, Beschluss vom 15. März 2021, Az. 1 L 181/21, juris Rn. 7) des Gerichtspräsidenten eine geeignete Ermächtigungsnorm für die Anordnung einer Maskenpflicht im Gerichtsgebäude ist.
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Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus dem vom Antragsgegner zitierten Urteil des Verfassungsgerichtshofs für das Land Baden-Württemberg (Urteil vom 4. April 2022, Az. 1 GR 69/21). In dieser Entscheidung kommt der Verfassungsgerichtshof für das Land Baden-Württemberg zu dem Ergebnis, dass das Hausrecht des Landtagspräsidenten nach Art. 32 Abs. 2 Satz 1 LV eine hinreichende Rechtsgrundlage für Regelungen in der Hausordnung darstellt, welche die Zutrittsberechtigung von Mitarbeitern der Fraktionen zu den Räumlichkeiten des Landtags an die Durchführung einer polizeilichen Zuverlässigkeitsüberprüfung knüpfen. Das Urteil des Verfassungsgerichtshofs für das Land Baden-Württemberg vom 4. April 2022 (Az. 1 GR 69/21) macht jedoch keine Aussage dazu, ob in § 28a Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 IfSG nicht vorgesehene Maskenpflichten über das Hausrecht angeordnet werden können oder ob § 28a Abs. 7 Satz 1 Nr. 1 IfSG eine abschließende Regelung trifft, die dem entgegensteht. Gleiches gilt für den vom Antragsgegner angeführten Beschluss des OVG Nordrhein-Westfalen vom 10. Januar 2022, Az. 13 B 17/22, wonach die Rechtsgrundlage für die Anordnung einer Maskenpflicht das Hausrecht des Gerichtspräsidenten sei, da diese Entscheidung unter der Geltung einer anderen Fassung des IfSG, die noch eine allgemeine Maskenpflicht im öffentlichen Raum – unabhängig von einer durch den Deutschen Bundestag festgestellten epidemischen Lage von nationaler Tragweite – vorsah (vgl. § 28a Abs. 7 IfSG in der vom 12. Dezember 2021 bis 18. März 2022 geltenden Fassung), ergangen ist.
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b) Die Kammer hat des Weiteren Zweifel an der formellen Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Hausverfügung vom 4. April 2022, da anhand der dem Gericht vorliegenden Unterlagen nicht feststellbar ist, ob die Hausverfügung vom 4. April 2022 ordnungsgemäß öffentlich bekannt gemacht wurde (vgl. § 41 Abs. 3 Satz 2, Abs. 4 Satz 1 LVwVfG).
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Die öffentliche Bekanntgabe eines schriftlichen Verwaltungsaktes – wie hier der Hausverfügung vom 4. April 2022 – wird gem. § 41 Abs. 4 Satz 1 LVwVfG dadurch bewirkt, dass sein verfügender Teil ortsüblich bekannt gemacht wird. Der verfügende Teil umfasst den Entscheidungssatz, die Angabe der Behörde, die entschieden hat und die Bezeichnung der Adressaten bzw. der sonst Betroffenen (Kopp/ Ramsauer, a.a.O., § 41 Rn. 49).
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Durch die bloße Mitteilung der Hausverfügung an die Rechtsanwaltskammer ... und den Anwaltverein werden bereits nicht alle potentiellen Adressaten der Hausverfügung vom 4. April 2022 erreicht, da insbesondere auch die interessierte Öffentlichkeit die Möglichkeit haben muss, von der Hausverfügung Kenntnis zu erlangen. Daher stellt die Mitteilung der Hausverfügung an die Rechtsanwaltskammer ... und den Anwaltverein keine geeignete ortsübliche Bekanntmachung der Hausverfügung dar. Eine ortsübliche Bekanntmachung der Hausverfügung wäre zwar über die Internetseite des Landgerichts ... möglich gewesen. Dort befindet sich aber gerade kein Link zum verfügenden Teil der Hausverfügung vom 4. April 2022 (vgl. https://landgericht-tuebingen.justiz-bw.de/pb/,Lde/Startseite) und auch über die Suchfunktion gelangt man nicht zu der streitgegenständlichen Hausverfügung.
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Nachweise bezüglich einer ordnungsgemäßen Bekanntgabe der Hausverfügung auf anderem Wege hat der Antragsgegner nicht vorgelegt.
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c) Vor allem aber dürfte sich die streitgegenständliche Maskenpflicht nach vorläufiger Überprüfung der Rechtslage durch die Kammer als rechtswidrig erweisen, da die Hausverfügung vom 4. April 2022 ermessensfehlerhaft ergangen sein dürfte.
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Die Entscheidung über die Ausübung des „Ob“ und des „Wie“ des Hausrechts stünde – wenn es denn als einschlägige Ermächtigungsgrundlage heranziehbar wäre – im Ermessen des Gerichtspräsidenten.
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Ob die Ermessensausübung im Einzelfall pflichtgemäß oder fehlerhaft erfolgte, lässt sich zuvorderst anhand der nach § 39 Abs. 1 LVwVfG erforderlichen Begründung des Verwaltungsakts ermitteln, die gem. § 39 Abs. 1 Satz 2 LVwVfG die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe zu enthalten hat, welche die Behörde zu ihrer Entscheidung bewogen haben und die bei Ermessensentscheidungen auch die Gesichtspunkte erkennen lassen soll, von denen die Behörde bei der Ausübung ihres Ermessens ausgegangen ist (§ 39 Abs. 1 Satz 2 LVwVfG). Eine bezüglich der Ermessensausübung fehlende oder unzureichende Begründung indiziert einen Ermessensnicht- oder -fehlgebrauch, sofern sich nicht aus den Umständen etwas anderes ergibt (vgl. VG Gießen, Beschluss vom 02. Mai 2022, Az. 3 L 793/22.GI, juris Rn. 28; VG Würzburg, Beschluss vom 4. März 2021, Az. W 5 S 21/294, juris, Rn. 26 m. w. N.). So liegt der Fall hier.
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Bei der Hausverfügung vom 4. April 2022 fehlt es bereits an jeglicher Begründung, so dass insofern in keiner Weise feststellbar ist, ob bzw. in welchem Maß der Präsident des Landgerichts ... Ermessen ausgeübt hat. Etwas Anderes ergibt sich auch nicht aus dem Schriftsatz des Antragsgegners vom 4. Mai 2022. In diesem Schriftsatz führt der Antragsgegner lediglich aus, der Präsident des Landgerichts ... halte das Fortbestehen der Pflicht zum Tragen einer medizinischen Maske zur Vermeidung der weiteren Verbreitung des Coronavirus für notwendig, ohne jedoch diese – von der Einschätzung des Bundesgesetzgebers und der CoronaVo des Landes Baden-Württemberg abweichende - Einschätzung zu begründen. Auch der bloße Verweis auf die Empfehlung des Ministeriums der Justiz und für Migration vom 31. März 2022, die der Antragsgegner der Kammer nicht zugänglich gemacht hat, stellt keine Begründung der streitgegenständlichen Hausverfügung dar, da sich weder aus der Hausverfügung selbst noch aus dem Schriftsatz des Antragsgegners vom 4. Mai 2022 ergibt, welche in dieser Empfehlung enthaltenen Argumente sich der Antragsgegner zu eigen macht.
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Zudem erlaubt die Regelung des § 114 Satz 2 VwGO, wonach es der Verwaltungsbehörde möglich ist, ihre Ermessenserwägungen auch noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren zu ergänzen, gerade keine vollständige Nachholung der Erwägungen bei – hier ersichtlich gegebenem – vorangegangenem Ermessensnichtgebrauch (vgl. Kopp/ Schenke, a.a.O., § 114 Rn. 50).
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Klargestellt wird abschließend, dass es dem Antragsgegner letztlich auch verwehrt bleibt, sich auf die Regelung des § 39 Abs. 2 Nr. 5 LVwVfG (Nichtbegründung einer Allgemeinverfügung bei öffentlicher Bekanntmachung) zu berufen. Die dort enthaltene Bedingung des Nichtbedürfens einer Begründung ist nämlich verfassungskonform dahingehend einzuschränken, dass es einer Begründung nur dann nicht bedarf, wenn sie aus praktischen Gründen – wie etwa bei Verkehrszeichen – nicht möglich ist. Beim Erlass einer schriftlichen Allgemeinverfügung bleibt die Beifügung einer Begründung, die keine solchen Schwierigkeiten bereitet, gleichwohl erforderlich (VG Gießen, Beschluss vom 02. Mai 2022, Az. 3 L 793/22.GI, juris Rn. 30 m.w.N.) bzw. das Absehen von einer Begründung ist in solchen Fällen in der Regel ermessensfehlerhaft (Kopp/ Ramsauer, a.a.O., § 39 Rn. 55). So liegt der Fall auch hier. Gründe dafür, dass dem Präsidenten des Landgerichts ... eine Begründung der Allgemeinverfügung nicht hätte möglich sein können, sind in keiner Weise ersichtlich.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
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Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus § 52 Abs. 2, § 53 Abs. 2 Nr. 2 GKG. Dabei ist für das Begehren des Antragstellers der Regelstreitwert in Ansatz zu bringen (vgl. VG Freiburg, Beschluss vom 11. März 2022, Az. 1 K 315/22, juris Rn. 22 m.w.N.). Für eine Herabsetzung des Streitwerts im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013) besteht wegen der mit der Sache typischerweise verbundenen Vorwegnahme der Hauptsache kein Anlass.

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