Beschluss vom Verwaltungsgericht Stuttgart - 8 K 1093/05

Gründe

 
I.
Der am X geborene Antragsteller befand sich vom 10.05.2004 bis 10.03.2005 in medizinisch-psychotherapeutischer Behandlung in der Therapeutischen Einrichtung E.. Vor Beginn der Behandlung hatte er seinen gewöhnlichen Aufenthalt in L..
Am 28.01.2005 beantragte der Antragsteller die Gewährung von Hilfe für junge Volljährige nach § 41 SGB VIII i.V.m. § 35 a SGB VIII in Form des Betreuten Jugendwohnens im Raum F. und einer Ausbildung im Ausbildungs- und Trainingszentrum in F..
Mit Bescheid vom 15.03.2005 gewährte der Antragsgegner Hilfe für junge Volljährige gemäß § 41 i.V.m. § 35 a SGB VIII in Form des Betreuten Jugendwohnens ab 11.03.2005 befristet bis 10.09.2005. Die Betreuung erfolgt durch den AWO-GfBS Jugendhilfeverbund R., im Betreuungsschlüssel 1 zu 5.
Mit weiterem Bescheid vom 15.03.2005 versagte der Antragsgegner die Übernahme der Ausbildungskosten im Ausbildungs- und Trainingszentrum in F.. Zur Begründung wurde u.a. ausgeführt: Leistungen nach dem SGB VIII im Bereich der Ausbildungsförderung seien nachrangig gegenüber den Leistungen nach dem SGB III. Junge Volljährige, für die Eingliederungshilfe für seelisch behinderte junge Volljährige nach dem SGB VIII geleistet werde, könnten nach dem SGB III gefördert werden, wenn sie voraussichtlich in der Lage sein würden, die Anforderungen der regulären Maßnahmen nach §§ 60, 61 SGB III zu erfüllen. Allein die Tatsache der Unterbringung in einer Form des Betreuten Wohnens bewirke keine Förderungsverpflichtung der Jugendhilfe für die Kosten, die für die Teilnahme an der berufsvorbereitenden Maßnahme oder Ausbildung entstünden. Eine ausschließlich materielle Hilfeleistung könne im Rahmen des SGB VIII nicht finanziert werden.
Der Antragsteller hat gegen den ablehnenden Bescheid am 22.03.2005 Widerspruch erheben und ausführen lassen, er benötigte bis spätestens 15.04.2005 eine Kostenzusage für den Ausbildungsplatz und bitte daher, bis spätestens zum 24.03.2005 die Angelegenheit mit der Bundesagentur zu klären, bzw. verbindlich die Kostenübernahme zu bestätigen.
Am 24.03.2005 hat der Antragsteller beim Verwaltungsgericht Stuttgart um einstweiligen Rechtsschutz nachsuchen und beantragen lassen,
den Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, dem Antragsteller vorläufig, längstens bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache, Hilfe für junge Volljährige gemäß § 41 SGB VIII i.V.m. § 35 a SGB VIII in der Form zu gewähren, dass die Ausbildungskosten für die Ausbildung als Industriemechaniker im Ausbildungs- und Trainingszentrum F. übernommen werden.
Der Antragsgegner hat mit Schreiben vom 06.04.2005, hier eingegangen am 08.04.2005, beantragt,
den Antrag zurückzuweisen.
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Zur Begründung macht er im Wesentlichen geltend: Zwar sei ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht worden, jedoch kein Anordnungsanspruch. Neben dem Betreuten Jugendwohnen bestehe kein Jugendhilfebedarf. Der Antragsteller sei weder seelisch behindert im Sinne von § 35 a SGB VIII noch von einer solchen Behinderung bedroht. Der Antragsteller habe ein Drogenproblem gehabt, brauche aber die beantragte besondere Ausbildungsform nicht und könne jederzeit auf dem freien Arbeitsmarkt eine Lehrstelle finden. Aus § 10 Abs. 1 SGB VIII ergebe sich der Nachrang der Hilfe für junge Volljährige gegenüber Leistungen nach dem SGB III. Auch der Vorrang des SGB II sei gegeben. Die Pflicht zum Tätigwerden nach § 14 SGB IX greife nicht, da die Übernahme der Ausbildungskosten bereits bei der Bundesagentur für Arbeit beantragt worden sei.
II.
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Der Antragsteller hat einen Anspruch auf Gewährung der begehrten Eingliederungshilfe (Anordnungsanspruch) sowie die Dringlichkeit einer vorläufigen Entscheidung (Anordnungsgrund) glaubhaft gemacht (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
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Eine vorläufige Entscheidung ist dringlich, da der Antragsteller bis zum 15.04.2005 eine Kostenzusage benötigt, damit der Ausbildungsplatz nicht an einen anderen Bewerber vergeben wird. Auch der Antragsgegner geht im Übrigen davon aus, dass ein Anordnungsgrund glaubhaft gemacht worden ist.
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Auch ein Anordnungsanspruch ist glaubhaft gemacht worden. Das Gericht entscheidet wegen der hohen Eilbedürftigkeit ohne weitere Ermittlungen nach Aktenlage. Danach hat der Antragsteller mit überwiegender Wahrscheinlichkeit einen Anspruch auf Gewährung der begehrten Hilfe.
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Die Voraussetzungen für die Gewährung von Hilfe für junge Volljährige nach § 41 Abs. 1 SGB VIII liegen vor, davon geht auch der Antragsgegner aus, wie sich aus seinem gewährenden Bescheid vom 15.03.2005 ergibt.
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Aber auch die Voraussetzungen für die Gewährung in Form der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte junge Volljährige gemäß § 35 a SGB VIII liegen mit hoher Wahrscheinlichkeit grundsätzlich vor. Davon ist der Antragsgegner wiederum selbst mit seinem gewährenden Bescheid vom 15.03.2005 ausgegangen. Soweit er das Vorliegen der Voraussetzungen erstmals mit seiner Antragserwiderung im vorliegenden Verfahren in Frage stellt, überzeugen seine Ausführungen aus folgenden Gründen nicht: Mit amtsärztlicher Bescheinigung vom 01.11.2004 hat die Leiterin der sozialpsychiatrischen Abteilung des Gesundheitsamts des M. ausdrücklich das Vorliegen einer seelischen Behinderung i.S.d. § 35 a (SGB VIII) bestätigt und die Durchführung einer stationären Nachsorge im Anschluss an die durchgeführte Langzeitentwöhnungstherapie amtsärztlicherseits befürwortet als nötig, um den Erfolg der Therapie nicht zu gefährden und dauerhaft abstinentes Leben zu ermöglichen. Zugleich hat sie ausgeführt, dass ambulante Maßnahmen aufgrund der Schwere der Störung nicht ausreichend seien und die Dauer der Maßnahme nicht weniger als ein Jahr betragen solle. Der Antragsgegner wendet gegen das Gutachten ein, es sei für den heutigen Zeitpunkt nicht einschlägig und die Schlussfolgerung seelischer Behinderung sei nicht mit Tatsachen ausgefüllt worden, schließlich könne die Ärztin allenfalls die medizinische, nicht aber die rechtliche Frage beantworten. Des Weiteren bezieht sich der Antragsgegner auf ein Schreiben der Therapeutischen Einrichtung vom 20.01.2005, ein Schreiben des Trainings- und Ausbildungszentrums vom 31.01.2005, ein Schreiben der Agentur für Arbeit vom 25.02.2005 und auf den Hilfeplan und Aktenvermerk vom 24.02.2005. Der Antragsgegner entnimmt diesen Schreiben seine Beurteilung, dass sich kein Sachverhalt ergebe, (wonach) auch nur annähernd eine Bedrohung von seelischer Behinderung vorliegen könnte. Diese Beurteilung vermag das Gericht nicht nachzuvollziehen.
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Gemäß §§ 41 i.V.m. 35 a Abs. 1 SGB VIII haben junge Volljährige Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn 1. ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht, und 2. daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.
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Für die Entscheidung des vorliegenden Falles genügt es schon, dass zumindest eine seelische Behinderung im Sinne dieser Vorschrift droht. Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob gegenwärtig beim Antragsteller trotz Abstinenz eine solche seelische Störung in Form der Drogenabhängigkeit (vgl. hierzu Vondung in: LPK = SGB VIII, 2. Aufl., 2003, § 35 a, Nr. 6 b) noch akut vorhanden ist oder aber nur droht. Die amtsärztliche Bescheinigung vom 01.11.2004 geht aufgrund der Diagnose "Polytoxikomanie, gegenwärtig abstinent in geschützter Umgebung ICD – 10 F 19.21" davon aus, dass beim Antragsteller im Anschluss an die damals durchgeführte Langzeitentwöhnungstherapie stationäre Nachsorge erforderlich ist, um den Erfolg der Therapie nicht zu gefährden und dauerhaft abstinentes Leben zu ermöglichen. Auch der spätere Sozialtherapeutische Verlaufsbericht vom 20.01.2005 geht davon aus, dass der Antragsteller auch nach Beendigung des Rehabilitationsprogrammes dringend einen drogenfreien Raum benötigt, der verhindern soll, dass er erneut in eine Drogenabhängigkeit abgleitet, und der seinen abstinenten Lebenswandel unterstützt. Auch das Trainings- und Ausbildungszentrum hält es in seiner Stellungnahme vom 31.01.2005 für angezeigt, dass der Antragsteller die Möglichkeit erhält, die Ausbildung in ihrer Einrichtung mit dem Angebot eines geschützten Rahmens und sozialpädagogischer Begleitung machen zu können, und weist im Übrigen darauf hin, dass es eine Ausbildungseinrichtung für cleane Suchtabhängige ist, welche zum Personenkreis ... des § 35 a SGB VIII gehören. Schließlich wird auch im Aktenvermerk sowie im Hilfeplan vom 24.02.2005 ausdrücklich darauf hingewiesen, dass sich Schnittstellen zwischen Betreutem Jugendwohnen und Ausbildung im Ausbildungs- und Trainingszentrum ergäben über Urinkontrollen und Gesprächsangebote, die einem Rückfall, wofür gerade in der Anfangszeit ein erhöhtes Risiko besteht, entgegenwirken sollen. Nur wegen der noch offenen Frage der Finanzierung wird hinsichtlich der TAZ-Ausbildung in diesem Jugendhilfeplan keine Entscheidung getroffen, nachdem die Agentur für Arbeit die Kostenübernahme abgelehnt hatte. Dass schließlich die Agentur für Arbeit mit Bescheid vom 28.02.2005 beim Antragsteller das Vorliegen der Voraussetzungen für eine von ihr zu fordernde Reha-Maßnahme verneint, steht einer Feststellung der Voraussetzungen des § 35 a SGB VIII nicht entgegen. Denn für das Arbeitsförderungsrecht des SGB III (und das Sozialhilferecht) gelten gesonderte Regelungen zu den Begriffen der Behinderung bzw. der drohenden Behinderung (vgl. Götze in: Hauck/Noftz, Sozialgesetzbuch 9, Stand Dezember 2004, § 2, Nr. 14). § 19 SGB III verlangt, dass gerade die "Aussichten am Arbeitsleben teilzuhaben oder weiter teilzuhaben", wegen Art oder Schwere der Behinderung nicht nur vorübergehend "wesentlich" gemindert sind.
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Aufgrund der vorgenannten Stellungnahmen geht das Gericht weiter davon aus, dass die vom Antragsteller begehrte Maßnahme im Übrigen geeignet und erforderlich ist. Es ist auch keine kostengünstigere Alternative ersichtlich.
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Dem Erlass der einstweiligen Anordnung steht auch keine vorrangige Leistungspflicht der Bundesagentur für Arbeit entgegen. Deren ablehnendem Bescheid vom 25.02.2005 hat der Antragsteller zwar auf entsprechenden Hinweis des Antragsgegners widersprochen. Es ist aber überwiegend wahrscheinlich, dass der Antragsteller zwar die Voraussetzung des § 35 a SGB VIII, nicht aber die Voraussetzungen des § 19 SGB III erfüllt. Eine abschließende Entscheidung hierüber ist nicht Sache des vorliegenden Eilverfahrens. Im Übrigen dürfte sich aus dem Wortlaut der Nachrangregelung des § 10 Abs. 1 SGB VIII noch kein Recht der öffentlichen Jugendhilfeträger ergeben, Leistungen bereits deshalb zu verweigern, weil Ansprüche gegen andere Sozialleistungsträger bestehen bzw. Verpflichtungen anderer vorrangig wären (vgl. hierzu Bieritz-Harder in: Hauck/Noftz, SGB VIII Stand Mai 2004, K § 10, Nr. 19).
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Das Gericht verpflichtet den Antragsgegner im einstweiligen Anordnungsverfahren regelmäßig nur zur vorläufigen und darlehensweisen Hilfegewährung. Auf Grund der amtsärztlichen Bescheinigung vom 01.11.2004 wird die Dauer der Maßnahme zunächst auf ein Jahr nach Beendigung der medizinisch-psychotherapeutischen Behandlung in Eppenhain beschränkt.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 S. 3 VwGO. Das Verfahren ist gemäß § 188 VwGO gerichtskostenfrei.
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Die Gewährung von Prozesskostenhilfe beruht auf § 166 VwGO i.V.m. §§ 114, 121 Abs. 2 ZPO.

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