Urteil vom Verwaltungsgericht Trier (7. Kammer) - 7 K 3017/18.TR
Tenor
Der Bescheid der Beklagten vom 30. April 2018 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Beklagten wird nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des vollstreckungsfähigen Betrages abzuwenden, soweit nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Tatbestand
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Der Kläger, nach eigenen Angaben nigerianischer Staatsangehöriger, vom Volk der Ibo und christlichen Glaubens, reiste am 31. März 2018 in die Bundesrepublik Deutschland ein und äußerte am 3. April 2018 ein Asylgesuch, von dem die Beklagte am selben Tag schriftlich Kenntnis erlangte. Am 12. April 2018 stellte er einen förmlichen Asylantrag.
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Ein Abgleich der Eurodac-Daten und der Fingerabdrücke ergab, dass Anhaltspunkte für die Zuständigkeit eines anderen Staates gemäß der Verordnung Nr. 604/2013 des europäischen Parlaments und des Rates (Dublin III-Verordnung) vorlagen. Am 13. April 2018 wurde ein Übernahmeersuchen nach der Dublin III-Verordnung an Italien gerichtet, worauf die italienischen Behörden nicht antworteten.
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Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge lehnte mit Bescheid vom 30. April 2018, am 4. Mai 2018 in der Aufnahmeeinrichtung Hermeskeil eingegangen und dem Kläger am 8. Mai 2018 ausgehändigt, den in der Bundesrepublik gestellten Asylantrag als unzulässig ab, stellte das Nichtvorliegen von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 AufenthG fest, ordnete die Abschiebung des Klägers nach Italien an und befristete das Einreise- und Aufenthaltsverbot auf sechs Monate ab dem Tag der Abschiebung.
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Hiergegen hat der Kläger am 11. Mai 2018 Klage erhoben und einen Eilantrag gestellt, welcher mit Beschluss der Kammer vom 24. Mai 2018 – 7 L 3018/18.TR – abgelehnt wurde.
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In der Folgezeit forderte die zuständige Ausländerbehörde, die Kreisverwaltung des Landkreises Trier-Saarburg, den Kläger mit Schreiben vom 17. September 2018 auf, sich zur Durchführung der Abschiebung am 20. September 2018 um 04:45 Uhr in der Aufnahmeeinrichtung Hermeskeil, Trierer Straße 20, 54411 Hermeskeil, vor Haus 10 mit seinem Reisegepäck einzufinden. Dieser Aufforderung kam der Kläger nicht nach. Infolgedessen verlängerte das Referat 32 C des Bundesamtes am 20. September 2018 die Überstellungsfrist gemäß Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-Verordnung auf 18 Monate, weil der Kläger flüchtig sei.
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Der Kläger verweist zur Begründung seiner Klage im Wesentlichen auf seinen Vortrag beim Bundesamt sowie seine in Deutschland befindliche Lebensgefährtin und den gemeinsamen Sohn.
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Der Kläger beantragt,
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den Bescheid der Beklagten vom 30. April 2018 aufzuheben,
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hilfsweise, die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des genannten Bescheides zu verpflichten, festzustellen, dass im Hinblick auf die Person des Klägers die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 des Aufenthaltsgesetzes vorliegen,
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weiter hilfsweise, über die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots erneut unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts zu entscheiden.
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Die Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Zur Begründung verweist sie auf ihre Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid.
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Der Kläger hat bei Klageerhebung sein Einverständnis mit einer Entscheidung durch die Berichterstatterin und mit Schreiben vom 30. Juli 2018 mit einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren erklärt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zur Gerichtsakte gereichten Schriftsätze sowie auf die elektronische Bundesamtsakte verwiesen. Diese lagen dem Gericht vor und waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.
Entscheidungsgründe
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Das Gericht entscheidet im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO) durch die Berichterstatterin (§ 87 a Abs. 2, 3 VwGO). Das Einverständnis der Beklagten ergibt sich hierbei aus der „Allgemeinen Prozesserklärung des Bundesamtes in Verwaltungsstreitsachen wegen Verfahren nach dem Asylgesetz“ vom 25. Februar 2016 in der Fassung vom 27. Juni 2017.
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Die Klage ist zulässig und begründet.
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Sie ist als Anfechtungsklage zulässig. Der Kläger besitzt ein subjektives Recht, sich auf den Ablauf der Überstellungsfrist und den Zuständigkeitsübergang zu berufen (vgl. EuGH, Urteil vom 25. Oktober 2017 – C-201/16 –, juris).
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Des Weiteren ist sie auch begründet, denn der Bescheid des Bundesamtes vom 30. April 2018 erweist sich zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Asylgesetz – AsylG –) als rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 S. 1 VwGO).
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1. Die unter Ziff. 1 des streitgegenständlichen Bescheides vom 30. April 2018 ergangene Entscheidung der Beklagten, dass der Asylantrag des Klägers unzulässig ist sowie die unter Ziff. 3 des Bescheides angeordnete Abschiebung des Klägers nach Italien erweisen sich als rechtswidrig, da die Beklagte zwischenzeitlich infolge Ablaufs der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 S. 1 Dublin III-Verordnung zuständig geworden ist.
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Nach dieser Vorschrift ist der ehemals zuständige Mitgliedstaat nicht mehr zur Aufnahme oder Wiederaufnahme des Asylbewerbers verpflichtet und die Zuständigkeit geht auf den ersuchenden Mitgliedstaat über, wenn die Überstellung nicht innerhalb der Frist von sechs Monaten nach Entstehen der Aufnahme- oder Wiederaufnahmeverpflichtung durchgeführt wird. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
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Die Sechsmonatsfrist ist am 24. November 2018 abgelaufen. Sie begann gemäß Art. 29 Abs. 1 letzter HS Dublin III-Verordnung mit der unanfechtbaren Ablehnung des Eilantrags mit Ablauf des 24. Mai 2018. Entgegen der Auffassung der Beklagten hat sich die Überstellungsfrist auch nicht gemäß Art. 29 Abs. 2 S. 2 Dublin III-Verordnung verlängert.
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Nach dem Wortsinn setzt ein Flüchtig-Sein voraus, dass die betreffende Person der Möglichkeit des staatlichen Zugriffs entzogen ist. Grundvoraussetzung ist mithin eine Form des unbekannten Aufenthaltes (vgl. VG Berlin, Beschluss vom 10. August 2018 – 34 L 296.18 A –, juris Rn. 9; VG Minden, Beschluss vom 16. März 2018 - 10 L 258/18.A -, juris Rn. 19). Daneben setzt das Wort „Flucht“ im hier maßgeblichen Kontext des Art. 29 Abs. 2 S. 2 Dublin III-Verordnung einer Überstellung in einen anderen Mitgliedstaat den Willen der betreffenden Person voraus, jemandem zu entkommen oder sich etwas gezielt zu entziehen (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17 –, a. o. O.). Da beim Nachweis der Absichten der betreffenden Person erhebliche Schwierigkeiten entstehen können, dürfen die zuständigen Behörden im Falle einer gescheiterten Überstellung wegen Verlassens der zugewiesenen Wohnung ohne ordnungsgemäße Anzeige ihrer Abwesenheit annehmen, dass die betreffende Person beabsichtigt hat, sich ihnen zu entziehen, um ihre Überstellung zu vereiteln. Voraussetzung für diese (widerlegliche) Vermutung ist jedoch, dass die betreffende Person ordnungsgemäß über die ihr insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet worden ist (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17 –, a.a.O.). Nach diesen Grundsätzen ist ein Kläger dann „flüchtig“ im Sinne von Art. 29 Abs. 2 S. 2 Dublin III-Verordnung, wenn er sich den für die Durchführung seiner Überstellung zuständigen nationalen Behörden gezielt entzieht, um die Überstellung zu vereiteln. Dies kann angenommen werden, wenn die Überstellung nicht durchgeführt werden kann, weil der Kläger die ihm zugewiesene Wohnung verlassen hat, ohne die zuständigen nationalen Behörden über seine Abwesenheit zu informieren, sofern er über die ihm insoweit obliegenden Pflichten unterrichtet wurde (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17 –, a. a. O.). Aufgrund dieser Vermutung kommt es daher auch nicht darauf an, ob der Kläger wusste, dass eine Abschiebung bevorsteht und ihm nachgewiesen werden kann, dass er sich der Abschiebung entziehen wollte (vgl. auch VG Göttingen, Beschluss vom 21. März 2019 – 2 B 85/19 –, juris). Vielmehr obliegt es dem Kläger, nachzuweisen, dass er den zuständigen Behörden seine Abwesenheit aus stichhaltigen Gründen nicht mitgeteilt hat, und nicht in der Absicht, sich den Behörden zu entziehen (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 – C-163/17 –, a. a. O.).
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Diese Voraussetzungen liegen hier allein aufgrund des Umstandes, dass der Kläger sich am 20. September 2018 nicht selbst zu der beabsichtigten Überstellung gestellt hat, nicht vor.
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Es fehlt bereits am Erfordernis des unbekannten Aufenthaltes, denn es ist nichts dafür ersichtlich, dass der Kläger sich zum Zeitpunkt der beabsichtigten Überstellung nicht in der ihm zugewiesenen Unterkunft aufgehalten hat, sondern untergetaucht gewesen wäre. Seine Anschrift war der Kreisverwaltung des Landkreises Trier-Saarburg hierbei, wie sich unschwer aus dem an diese Adresse gerichteten Schreiben vom 17. September 2018 ergibt, durchgängig bekannt. Auch der Vorwurf der Beklagten zielt letztlich nicht darauf ab, dass der Kläger die Aufnahmeeinrichtung ohne vorige Anzeige verlassen habe, sondern ihm wird zur Last gelegt, dass er nicht zur „Selbstgestellung“ vor Haus 10 der Aufnahmeeinrichtung erschienen ist.
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Diese Verweigerung der „Selbstgestellung“ führt jedoch nicht dazu, dass der Kläger als „flüchtig“ i. S. v. Art. 29 Abs. 2 Dublin III-Verordnung anzusehen ist (so auch VG Berlin, Beschluss vom 18. April 2019 – 28 L 88.19 A –, Rn. 21; VG Gießen, Beschluss vom 18. Dezember 2018 – 8 L 5528/18.GI.A –, Rn. 12; VG Hamburg, Urteil vom 20. November 2018 – 9 A 1450/18 –, Rn. 25 ff.; wohl auch VG Cottbus, Beschluss vom 5. Juni 2018 – 5 L 212/18.A –, Rn. 18; VG Trier, Beschluss vom 16. Oktober 2018 – 7 L 5184/18.TR –, Rn. 15; a.A.: VG Potsdam a.a.O.; alle zitiert nach juris).
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Der Kläger hat sich dem Zugriff der zur Überstellung zuständigen Behörden durch die Verweigerung der Selbstgestellung nämlich nicht entzogen. Der Staat war weder rechtlich noch tatsächlich daran gehindert, die Überstellung durchzuführen. Vielmehr wäre es der Kreisverwaltung Trier-Saarburg möglich gewesen, den Kläger in seinem Zimmer abzuholen und gegebenenfalls unter Anwendung unmittelbaren Zwangs nach Italien zu überstellen, da ihm gegenüber im streitgegenständlichen Bescheid die Abschiebung nach Italien angeordnet worden war (§ 34a AsylG). Dies beinhaltet erforderlichenfalls die zwangsweise Durchsetzung der Ausreisepflicht (vgl. VG Trier, Beschluss vom 16. Oktober 2018 – 7 L 5184/18.TR –, Rn. 15, juris). Sehen die zuständigen Behörden – wie hier – von dieser Möglichkeit ab und folgt der Ausländer der Aufforderung zur Selbstgestellung nicht, fällt das Scheitern der Überstellung letztlich in den Verantwortungsbereich der zuständigen Ausländerbehörde. Hingegen ist der Betreffende nicht „flüchtig“ i.S.v. Art. 29 Abs. 2 S. 2 Dublin III-Verordnung. Andernfalls könnte auch als flüchtig in diesem Sinne angesehen werden, wenn ein Ausländer nicht freiwillig ausreist, wozu er mangels Aufenthaltsrechts verpflichtet ist. Auch wenn er damit faktisch seiner Überstellung nach Italien entging, entzog sich der Antragsteller nicht gezielt der Vollstreckung seiner Ausreisepflicht, als er sich nicht freiwillig zu dem in der Selbstgestellung genannten Ort begab, um sodann von dort aus nach Italien verbracht zu werden (vgl. auch VG Berlin, Urteil vom 28. Februar 2019 – 32 K 71.18 A –, Rn. 23, juris).
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Des Weiteren fehlte es in dieser Situation an der Entziehungsabsicht des Klägers. Ungeachtet der Frage, ob die Regelung des § 82 Abs. 4 AufenthG Rechtsgrundlage für die Aufforderung zur Selbstgestellung ist (dafür: VG Potsdam a.a.O. Rn. 9; dagegen: VG Berlin, Beschluss vom 13. Juni 2018 – 3 L 255.18 A –, Rn. 15, juris), lässt seine fehlende „Selbstgestellung“ nicht den Schluss zu, dass er sich gezielt den zuständigen Behörden und damit einer Abschiebung (aus seinem Zimmer heraus und gegebenenfalls unter Anwendung unmittelbaren Zwangs) entziehen wollte. Vielmehr ergibt sich hieraus lediglich, dass er nicht bereit war, die Ausländerbehörde aktiv bei der Abschiebung zu unterstützen, indem er deren Mitarbeitern räumlich entgegenkommt.
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Schließlich ist zu sehen, dass das Unionsrecht die Form der Selbstgestellung zur begleiteten Ausreise nicht kennt (siehe die Modalitäten der Überstellung in Art. 7 der Verordnung (EG) Nr. 1560/2003 i.d.F. der Verordnung (EU) Nr. 118/2014). Zur Überstellung in der Form der selbstorganisierten Ausreise gemäß Art. 7 Abs. 1a) dieser Verordnung hat das Bundesverwaltungsgericht betont, dass diese Art der Ausreise nur auf Initiative bzw. Antrag des Schutzsuchenden erfolgt (BVerwG, Urteil vom 17. September 2015 – 1 C 26/14 –, Rn. 24 f., juris). Demnach ist nicht davon auszugehen, dass der unionale Gesetzgeber für die Nichtbefolgung der Selbstgestellung die für den betroffenen Ausländer einschneidende Verlängerung der Überstellungsfrist auf 18 Monate vorsehen wollte.
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2. Ist mithin nach Ablauf der Überstellungsfrist die Unzulässigkeitsentscheidung rechtswidrig geworden und von daher aufzuheben, sind auch die darauf basierenden weiteren Entscheidungen des in Streit stehenden Bescheides aufzuheben.
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3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit des Urteils wegen der Kosten folgt aus §§ 167 Abs. 1 VwGO, 708 Nr. 11, 711 Zivilprozessordnung – ZPO –.
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Referenzen
- 8 L 5528/18 1x (nicht zugeordnet)
- § 82 Abs. 4 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- Urteil vom Verwaltungsgericht Hamburg (9. Kammer) - 9 A 1450/18 1x
- § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 AufenthG 1x (nicht zugeordnet)
- 7 L 5184/18 2x (nicht zugeordnet)
- 1 C 26/14 1x (nicht zugeordnet)
- 7 L 3018/18 1x (nicht zugeordnet)
- 5 L 212/18 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 154 1x
- VwGO § 101 1x
- 2 B 85/19 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 113 1x
- VwGO § 167 1x
- § 34a AsylG 1x (nicht zugeordnet)
- VwGO § 87a 1x
- 10 L 258/18 1x (nicht zugeordnet)