Beschluss vom Verwaltungsgericht Würzburg - W 8 S 20.50245

Tenor

I. Unter Abänderung des Beschlusses vom 30. März 2020 (W 8 S 20.50115) wird die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Nr. 3 des Bescheides des Bundesamtes für ... vom 5. März 2020 angeordnet.

II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.

1. Der Antragsteller ist nach eigenen Angaben iranischer Staatsangehöriger, der sich gegen eine Dublin-Entscheidung des Bundesamtes für ... mit Abschiebungsanordnung nach Italien wendet und vorliegend die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage W 8 K 20.50114 unter Abänderung des Beschlusses im Sofortverfahren vom 30. März 2020 (W 8 S 20.50115) begehrt.

Mit Bescheid vom 5. März 2020 lehnte die Antragsgegnerin den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab (Nr. 1) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2). Die Abschiebung nach Italien wurde angeordnet (Nr. 3). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde angeordnet und auf fünfzehn Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4).

2. Am 18. März 2020 ließ der Antragsteller im Verfahren W 8 K 20.50114 Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid erheben. Zur Begründung ließ der Antragsteller auf die Anhörung beim Bundesamt für ... verweisen und darüber hinaus im Wesentlichen ausführen: Die Abschiebung nach Italien könne nur angeordnet werden, wenn feststehe, dass die Abschiebung auch erfolgen könne. Dies sei aber im Fall Italiens wegen des Corona-Virus nicht möglich. Das Bundesministerium habe deswegen auch einen Abschiebungsstopp nach Italien angeordnet. Ungeachtet dessen bestehe seitens Italiens wegen der Corona-Problematik auch nicht die Bereitschaft, aus Deutschland einen abgeschobenen Flüchtling zu empfangen.

Mit Schriftsatz vom 6. April 2020 ließ der Antragsteller weiter Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand stellen und zur Begründung ausführen: Er habe nicht ohne Verschulden erkennen können, dass die Zustellung am 10. März 2020 erfolgt und die Klagefrist demnach schon am 17. März 2020 abgelaufen sei. In dem ihm überreichten Umschlag sei nämlich als Tag der Zustellung der 20. März 2020 vermerkt. Ihm sei nicht möglich gewesen, die Klagefrist korrekt zu berechnen.

Mit Schriftsatz vom 5. Juni 2020 ließ der Antragsteller noch mitteilen, dass seine Frau und Tochter ein Abschiebungsverbot nach Italien erhalten hätten. Zwar lebe der Antragsteller von seiner Frau getrennt. Er besitze aber noch das gemeinsame Sorgerecht zu seiner Tochter und nehme sein Umgangsrecht wahr.

Im vorhergehenden Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO (W 8 S 20.50222) ließ der Antragsteller mit Schriftsatz vom 9. September 2020 zur Begründung im Wesentlichen vorbringen: Die Antragsgegnerin habe mit Schreiben vom 24. August 2020 den Widerruf auf Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO erklärt. Es bestehe ein Rechtsschutzbedürfnis für den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung. Sowohl für die Ehefrau als auch für seine Tochter seien Abschiebungsverbote nach Italien festgestellt. Der Antragsteller sei mit seiner Ehefrau verheiratet. Außerdem hätten sie ein gemeinsames Kind, für das der Antragsteller ein Sorgerecht habe. Das gemeinsame Kind leide unter Autismus. Der Antragsteller nehme sein Umgangs- und Sorgerecht wahr und besuche regelmäßig seine Tochter. Die Trennung von seiner Tochter sei weder dem Antragsteller noch seiner Tochter zuzumuten. Die Identität sei geklärt. Das Sorgerecht ergebe sich daraus, dass die Familie aus dem Iran gekommen sei und es sich bei der Tochter um ein eheliches Kind handele. Der Antragsteller habe nach islamischem Recht im Iran auch das Sorgerecht, welches in der Bundesrepublik Deutschland zu respektieren sei.

Im vorliegenden Verfahren ließ der Antragsteller am 6. Oktober 2020 beantragen,

Unter Aufhebung des Beschlusses vom 30. März 2020 (W 8 S 20.50115) wird die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Nr. 3 des Bescheides vom 5. März 2020 angeordnet.

Zur Begründung ließ der Antragsteller im Wesentlichen ausführen: Die Überstellungsfrist sei bereits abgelaufen. Die Antragsgegnerin sei für die Durchführung des Asylverfahrens der zuständige Mitgliedsstaat. Die mit Schreiben vom 21. April 2020 erklärte Aussetzung der Abschiebungsanordnung habe nicht zur Unterbrechung des Fristlaufs geführt. Auf die diesbezügliche Rechtsprechung werde verwiesen. Die ablehnende Entscheidung im Sofortverfahren sei dem Antragsteller am 2. April 2020 zugestellt worden. Spätestens an diesem Tag habe die sechsmonatige Dublin-Überstellungsfrist wieder neu zu laufen begonnen. Die sechs Monate seien am 2. Oktober 2020 abgelaufen. Darüber hinaus füge der Antragsteller auch eine schriftliche Erklärung seiner von ihm getrennt lebenden Ehefrau bei, woraus sich ergebe, dass der Antragsteller seine Frau in Bamberg körperlich nicht verletzt habe und die gemeinsame Tochter den gemeinsamen Umgang mit ihrem Vater benötige.

3. Die Antragsgegnerin teilte mit Schriftsatz vom 2. April 2020 (siehe auch Schriftsatz vom 24.4.2020) mit, dass das Bundesamt gegenüber der Antragstellerseite die Vollziehung der Abschiebungsanordnung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO ausgesetzt habe. Im Hinblick auf die Entwicklung der Corona-Krise seien derzeit Dublin-Überstellungen nicht zu vertreten. Die zeitweise Aussetzung des Überstellungsverfahrens impliziere nicht, dass der zuständige Dublin-Staat nicht mehr zur Übernahme bereit und verpflichtet wäre. Vielmehr sei der Vollzug vorübergehend nicht möglich.

Mit Schriftsatz vom 3. August 2020 brachte die Antragsgegnerin weiter vor: Es lägen keine Nachweise zum Sorgerecht vor. Im Hinblick auf die familiäre Bindung sei dem Antragsteller zuzumuten, im Falle einer etwaigen Überstellung im Rahmen des Familiennachzugs wieder einzureisen.

Mit Schriftsatz vom 24. August 2020 teilte die Antragsgegnerin mit, dass das Bundesamt gegenüber dem Antragsteller seinen Widerruf der Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung gemäß § 80 Abs. 4 VwGO i.V.m. Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO erklärt habe. Im Hinblick auf die Entwicklung der Corona-Krise seien Dublin-Überstellungen nach Italien wieder zu vertreten. Der Grund für die Aussetzungserklärung sei weggefallen.

Am 13. Januar 2020 beantragte die Antragsgegnerin im vorliegenden Verfahren, den Antrag nach § 80 Abs. 7 VwGO abzulehnen.

Zur Begründung führte sie im Wesentlichen aus: Die Überstellungsfrist sei noch nicht abgelaufen. Die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung habe die Überstellungsfrist unterbrochen. Die Überstellungsfrist von sechs Monaten werde durch den Widerruf der Aussetzungsentscheidung neu in Lauf gesetzt. In der Rechtsprechung des EuGH sei geklärt, dass die Mitgliedsstaaten über eine zusammenhängende Frist von sechs Monaten verfügen müssten, die sie im vollen Umfang zur Regelung der technischen Probleme für die Bewerkstelligung der Überstellung sollen nutzen dürfen.

4. Mit Beschluss vom 30. März 2020 (W 8 S 20.50115) lehnte das Gericht im Sofortverfahren den Antrag des Antragstellers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage ab.

Gegen einen vom Gericht mit Datum vom 11. Mai 2020 erlassenen Gerichtsbescheid ließ der Antragsteller mit Schriftsatz vom 27. Mai 2020 im Verfahren W 8 K 20.50114 mündliche Verhandlung beantragen.

Mit Beschluss vom 16. September 2020 lehnte das Gericht im Verfahren W 8 S 20.50222 den Antrag des Antragstellers auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung ab.

Wegen der Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die Gerichtsakte (einschließlich der Akten des Klageverfahrens W 8 K 20.50114 und der Sofortverfahren W 8 S 20.50115 und W 8 S 20.50222) und die beigezogenen Behördenakten (einschließlich der Akten der Ehefrau des Antragstellers) sowie die ebenfalls beigezogenen jeweiligen Ausländerakten Bezug genommen.

II.

Der Antrag auf Abänderung des im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach § 80 Abs. 5 VwGO ergangenen Beschlusses vom 30. März 2020 (W 8 S 20.50115), der sich auf die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung in Nr. 3 des streitgegenständlichen Bescheides bezieht, ist zulässig und begründet.

Das Gericht kann gemäß § 80 Abs. 7 Satz 1 VwGO Beschlüsse nach § 80 Abs. 5 VwGO jederzeit ändern oder aufheben. Jeder Beteiligte kann die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachte Umstände beantragen (§ 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO).

Der Antrag ist begründet.

Vorab wird jedoch noch angemerkt, dass nach Überzeugung des Gerichts weiterhin keine Abschiebungshindernisse im Hinblick auf die Ehefrau und das gemeinsame Kind bestehen. Die kurze Aussage der vom Antragsteller getrennt lebenden Ehefrau, dass sie der Antragsteller in Bamberg nicht körperlich verletzt habe, erklärt nicht die von der Ehefrau mit Lichtbildern unterlegten schweren Verletzungen im Brustbereich, die der Antragsteller seiner Ehefrau auch andernorts zugebracht haben könnte und auch nicht die Drohungen und das gewalttätige Verhalten des Antragstellers, die zur auch vom Gewaltschutzkoordinator der ANKER-Einrichtung Oberfranken befürworteten Trennung geführt haben. Weiter ist nicht ausgesagt, dass die Bedrohungen geendet hätten. Auch der dürre Satz, die „Tochter braucht ihren Vater zu sehen“, genügt bei weitem nicht zur Substanziierung, dass und inwieweit der Antragsteller insbesondere sein Umgangsrecht ausübt bzw. ausüben will und dass dieser Umgang für die Erhaltung des Kindeswohls notwendig ist. Auf die betreffenden Ausführungen im Beschluss vom 16. September 2020 (VG Würzburg, B.v. 16.9.2020 - W 8 S 20.50222 - juris) wird Bezug genommen.

Unabhängig davon ist der Antrag gleichwohl begründet, weil die Überstellungsfrist mittlerweile abgelaufen ist.

Die Antragsgegnerin ist durch Ablauf der Überstellungsfrist aus Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers zuständig geworden. Zwar hat die Antragsgegnerin den Asylantrag des Antragstellers zunächst zutreffend gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a AsylG als unzulässig abgelehnt, da Italien gemäß Art. 12 Abs. 2 i.V.m. Art. 22 Abs. 1 und 7 Dublin III-VO für die inhaltliche Prüfung des Asylantrags des Antragstellers zuständig war. Auf die Ausführungen des Gerichts im Gerichtsbescheid vom 11. Mai 2020 (VG Würzburg, G.v.11.5.2020 - W 8 K 20.50114 - juris) wird Bezug genommen (§ 84 Abs. 4 VwGO).

Die Zuständigkeit ist jedoch aufgrund des Ablaufs der sechsmonatigen Überstellungsfrist aus Art. 29 Abs. 1 Satz 1 Dublin III-VO nach Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO auf die Antragsgegnerin übergegangen. Maßgeblich für den Fristbeginn ist vorliegend die Ablehnung des Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung mit Beschluss vom 30. März 2020, der dem Antragsteller nach eigenem Bekunden am 2. April 2020 zuging, als das fristauslösende Ereignis. Die Überstellungsfrist endete damit sechs Monate später mit Ablauf des 2. Oktober 2020 (vgl. Art. 42 Buchst. b Dublin III-VO). Gründe für die Verlängerung der Überstellungsfrist auf ein Jahr bzw. 18 Monate wegen Inhaftierung oder Flüchtigsein des Antragstellers (vgl. Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Dublin III-VO) liegen nicht vor.

Die von der Antragsgegnerin mit Schriftsatz vom 2. April 2020 (vgl. auch Schriftsatz vom 24.4.2020) verfügte Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung führt nicht zu einer Unterbrechung der Überstellungsfrist mit der Folge, dass diese mit dem Widerruf der Aussetzung durch Schreiben der Antragsgegnerin vom 20. August 2020 neu zu laufen beginnen und ein Zuständigkeitsübergang auf die Antragsgegnerin erst mit Ablauf des 19. Februar 2021 erfolgen würde. Diese Rechtsfolge vermag die Aussetzung der Abschiebungsanordnung und deren Widerruf nicht zu bewirken (so auch OVG SH, B.v. 9.7.2020 - 1 LA 120/20 - juris sowie schon VG Würzburg, U.v. 11.8.2020 - W 8 K 19.50795 - juris m.w.N.; siehe ansonsten zuletzt etwa VG Dresden, B.v. 13.10.2020 - 6 L 712/20.A - Milo; Saarl VG, B.v. 1.10.2020 - 5 L 814/20 - juris; VG Karlsruhe, U.v. 1.10.2020 - A 9 K 343/20 - juris; B.v. 15.9.2020 - A 9 K 4825/19 - juris; VG Ansbach, U.v. 23.9.2020 - AN 14 K 18.50955 - juris; VG Bremen, U.v. 18.9.2020 - 2 K 1112/19 - juris; SH VG, U.v. 14.9.2020 - 5 A 57/20 - juris; VG Greifswald, U.v. 28.8.2020 - 3 A 1865/19 HGW - juris; VG Berlin, B.v. 20.8.2020 - 32 L 173/20 A - juris, jeweils m.w.N.; Neumann, Offene Fragen rund um die Aussetzung der sofortigen Vollziehung in Dublin-Verfahren durch das BAMF, ZAR 2020, 314; Lehnert/Werdermann, Aussetzungen der Dublin-Überstellungen durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge während der Corona-Krise, NVwZ 2020, 1308; Hupke, Coronabedingte Aussetzungen von Dublin-Überstellungen, Asylmagazin 8/2020, 257; Pettersson, Abschiebungen und Corona - Auswirkungen der Pandemie auf die Asylrechtsprechung, ZAR 2020, 230; alle m.w.N.; a. A. etwa VG Bremen, B.v. 29.9.2020 - 6 V 1878/20 - juris; VG Münster, B.v. 2.9.2020 - 10 L 704/20.A - juris; VG Karlsruhe, U.v. 26.8.2020 - A 1 K 1026/20 - juris sowie BAMF, Referat 32 A, Aussetzungsentscheidungen des Bundesamtes - ein Überblick, Entscheiderbrief 09/2020, 4; jeweils m.w.N.).

Zwar haben nach § 80 Abs. 4 VwGO die Behörden grundsätzlich die Befugnis, die Vollziehung auszusetzen, soweit nicht bundesgesetzlich etwas anderes bestimmt ist. Regelungen des Asylgesetzes schließen dabei eine behördliche Aussetzung nach § 80 Abs. 4 VwGO nicht aus. Jedoch setzt das vorrangige Unionsrecht diesbezüglich gewisse Grenzen (vgl. BVerwG, U.v. 8.1.2019 - 1 C 16.18 - BVerwGE 164, 165 - juris Rn. 23 ff). Unionsrechtlich setzt Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO die Möglichkeit einer behördlichen Aussetzung der Vollziehung gerade voraus und steht der Anwendung von § 80 Abs. 4 VwGO nicht entgegen. Gleichwohl setzt das Unionsrecht insbesondere in den Art. 27 und 28 Dublin III-VO dem nach nationalem Recht eröffneten weiten Ermessensspielraum Grenzen. Denn die behördliche Aussetzungsentscheidung begünstigt den jeweiligen Antragsteller nicht ausschließlich, indem aufenthaltsbeendende Maßnahmen aufgrund der Abschiebungsanordnung zunächst nicht vollzogen werden können. Vielmehr erfolgt auch eine jedenfalls mittelbare Belastung, weil eine Unterbrechung der Überstellungsfrist einen möglicherweise erstrebten Zuständigkeitsübergang nicht erfolgen lässt und zudem die inhaltliche Prüfung des Asylantrags weiter verzögert wird. Weitere Grenzen folgen aus dem von Art. 27 Abs. 3 und 4 i.V.m. Art. 29 Abs. 1 UA. 1 Dublin III-VO angestrebten Ziel eines angemessenen Ausgleichs zwischen einerseits der Gewährung effektiven Rechtsschutzes und der Ermöglichung einer raschen Bestimmung des für die inhaltliche Prüfung des Asylantrags zuständigen Mitgliedstaats (vgl. Erwägungsgrund 5 zur Dublin III-VO) und andererseits dem Ziel Sekundärmigration zu verhindern (BVerwG, U.v. 27.4.2016 - 1 C 24.15 - Buchholz 451.902 Europ. Ausländeru. Asylrecht Nr. 82). Eine behördliche Aussetzungsentscheidung darf hiernach auch unionsrechtlich jedenfalls dann ergehen, wenn Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Abschiebungsanordnung bestehen (so bereits BVerwG, U.v. 9.8.2016 - 1 C 6.16 - BVerwGE 156, 9 - juris Rn. 18), denn dann haben die Belange eines Antragstellers auf Gewährung effektiven Rechtsschutzes offenkundig Vorrang vor dem Beschleunigungsgedanken. Die Wirksamkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes erlaubt eine behördliche Aussetzung aus sachlich vertretbaren Erwägungen, die nicht rechtlich zwingend sein müssen, auch unterhalb dieser Schwelle, wenn diese den Beschleunigungsgedanken und die Interessen des zuständigen Mitgliedstaats nicht willkürlich verkennen und auch sonst nicht missbräuchlich sind (vgl. zu alledem BVerwG, U.v. 8.1.2019 - 1 C 16.18 - BVerwGE 164, 165).

Vorstehende Voraussetzungen erfüllt die pauschale gegenüber allen Personen, die sich im „Dublin-Verfahren“ befinden und hiergegen einen Rechtsbehelf eingelegt haben (vgl. Schreiben der Direktorin des Bundesamtes für ... an die Präsidentinnen und Präsidenten der Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichte und Verwaltungsgerichtshöfe vom 18. März 2020: „vorübergehend“), erklärte Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung ohne konkreten Endpunkt aufgrund der Entwicklungen in der „Corona-Krise“, gleichwohl nicht.

Bereits der Wortlaut von Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO eröffnet lediglich die Möglichkeit, die Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss eines Rechtsbehelfs oder einer Überprüfung auszusetzen. Die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung dient in diesen Fällen damit letztlich der Sicherstellung effektiven Rechtsschutzes, indem eine umfassende Klärung von Tatsachen- oder Rechtsfragen nicht allein durch den Zuständigkeitswechsel aufgrund von Zeitablauf unmöglich gemacht wird (vgl. VG Greifswald, U.v. 28.8.2020 - 3 A 1865/19 HGW - juris Rn. 25; VG München, U.v. 7.7.2020 - M 2 K 19.51274 - juris Rn. 15). Eine derartige Konstellation betraf im Übrigen auch die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 8.1.2019 - 1 C 16.18 - BVerwGE 164, 165), als dort die Vollziehung der Abschiebungsanordnung bis zu einer Entscheidung über eine Verfassungsbeschwerde bzw. den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung beim Bundesverfassungsgericht betreffend eine ablehnende Entscheidung im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes ausgesetzt wurde. Für eine derartige Auslegung des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO spricht zudem seine systematische Stellung innerhalb der Dublin III-VO im dortigen Abschnitt IV - Verfahrensgarantien unter der Überschrift „Rechtsmittel“ (vgl. OVG SH, B.v. 9.7.2020 - 1 LA 120/20 - juris Rn. 10; VG Greifswald, U.v. 28.8.2020 - 3 A 1865/19 HGW - juris Rn. 26). Zu berücksichtigen bei der Auslegung sind ferner die Grundsätze und Systematik des „Dublin-Systems“ an sich (EuGH, U.v. 7.6.2016 - C-63/15 - NVwZ 2016, 1157 - juris Rn. 35 m.w.N.). Dieses ist unter anderem geprägt durch den Beschleunigungsgrundsatz (vgl. Erwägungsgrund 5 zur Dublin III-VO), welcher in einem Spannungsverhältnis mit dem Prinzip der Gewährung effektiven Rechtsschutzes steht. Insoweit sind nicht alleine die mitgliedsstaatlichen Interessen an der Überstellung, sondern auch die Interessen der Asylantragsteller zu berücksichtigen, schon um eine von der Dublin III-VO nicht gewollte „refugee in orbit“-Situation zu vermeiden, in der ein Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes inhaltlich für längere Zeit ungeprüft bleibt. Die Fristenregelungen der Dublin III-VO entfalten Individualschutz im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit des Dublin-Systems sowie den Schutz der Antragsteller, deren Asylbegehren möglichst rasch durch den zuständigen Mitgliedsstaat geprüft werden soll (EuGH, U.v. 7.6.2016 - C-63/15 - NVwZ 2016, 1157 - juris Rn. 52; VGH BW, U.v. 29.7.2019 - A 4 S 749/19 - juris Rn. 124).

Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin sind nicht jedwede sachlich vertretbaren, willkürfreien und nicht rechtsmissbräuchlichen Erwägungen - wie etwa die Vollzugsschwierigkeiten aufgrund der COVID-19-Pandemie oder auch der Gesundheitsschutz der zu überstellenden Personen - dazu geeignet, eine Aussetzung nach Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO zu stützen (vgl. VG Karlsruhe, U.v. 1.10.2020 - A 9 K 343/20 - juris Rn. 31; B.v. 15.9.2020 - A 9 K 4825/19 - juris Rn. 22 m.w.N. auch zur Gegenmeinung), da zum einen auch das Bundesverwaltungsgericht eine solche auch nur vor dem Hintergrund der Gewährung effektiven Rechtsschutzes ausdrücklich als zulässig erachtet hat und sich zum anderen wie dargestellt aus Wortlaut und Systematik des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO nicht ergibt, dass eine Aussetzung der Abschiebungsanordnung mit der Folge der Unterbrechung der Überstellungsfrist in unionsrechtskonformer Weise auch dann erfolgen kann, wenn diese alleine aufgrund einer vorübergehenden und von den Adressaten der Überstellungsentscheidung nicht zu vertretenden tatsächlichen Unmöglichkeit der Überstellung ausgesprochen wird (vgl. insbesondere auch OVG SH, B.v. 9.7.2020 - 1 LA 120/20 - juris Rn. 15 ff.; VG Karlsruhe, U.v. 1.10.2020 - A 9 K 343/20 - juris Rn. 22; VG Bremen, U.v. 18.9.2020 - 2 K 1112/19 - juris Rn. 47). Diese Auffassung wird wiederum gestützt durch den Leitfaden der Europäischen Kommission „COVID-19: Hinweise zur Umsetzung der einschlägigen Bestimmungen im Bereich der Asyl- und Rückführungsverfahren und zur Neuansiedlung“ vom 17. April 2020 (2020/C-126/02). Dort heißt es unter Punkt 1.2 Dublin-Überstellungen ausdrücklich, dass keine Bestimmung der Dublin III-VO es erlaubt, in einer Situation wie sie sich aus der Corona-Pandemie ergibt, von der grundsätzlichen Regelung des Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO abzuweichen, wonach, wenn die Überstellung nicht innerhalb der hierfür vorgesehenen Frist erfolgt, ein Zuständigkeitsübergang auf den ersuchenden Mitgliedsstaat erfolgt.

Ein weiteres Indiz ist, dass die Antragsgegnerin die Aussetzung der Vollziehung nicht bis zur Rechtskraft einer etwaigen Hauptsacheentscheidung, sondern auf Widerruf und damit womöglich länger als bis zur Ermöglichung eines wirksamen Hauptsacherechtsschutzes erklärt hat. Sie dient damit nicht dem effektiven Rechtsschutz des Antragstellers, sondern anderen Gründen (vgl. VG Karlsruhe, U.v. 1.10.2020 - A 9 K 343/20 - juris Rn. 35; B.v. 15.9.2020 - A 9 K 4825/19 - juris Rn. 26; SH VG, U.v. 14.9.2020 - 5 A 57/20 - juris Rn. 21).

Dementsprechend ist vorliegend keine derartige Konstellation gegeben, die zu einer Unterbrechung der Überstellungsfrist führen würde, da die Aussetzung durch die Antragsgegnerin letztlich mit Vollzugsschwierigkeiten aufgrund von Einreisebeschränkungen sowie allgemeinen Erwägungen hinsichtlich des europaweiten Infektionsgeschehens im Zuge der COVID-19-Pandemie begründet wurde. Erfolgt die Aussetzung der Vollziehung der Abschiebungsanordnung - wie hier - allein aufgrund einer etwaigen tatsächlichen Unmöglichkeit der Überstellung, hält sich diese nicht im oben näher ausgeführten (unions-)rechtlichen Rahmen und vermag die Überstellungsfrist aus Art. 29 Abs. 1 Dublin III-VO nicht zu unterbrechen (vgl. insbesondere OVG SH, B.v. 9.7.2020 - 1 LA 120/20 - juris Rn. 8).

Diese Auslegung des Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO fügt sich im Übrigen auch in die bislang in Zusammenhang mit einer tatsächlichen Unmöglichkeit der Überstellung innerhalb der Frist des Art. 29 Abs. 1 UA. 1 Dublin III-VO ergangene obergerichtliche Rechtsprechung ein (etwa OVG NRW, B.v. 8.12.2017 - 11 A 1966/15.A - juris Rn. 8 f.; VGH BW, U.v. 13.10.2016 - A 11 S 1596/16 - juris Rn. 49; NdsOVG, B.v. 20.12.2016 - 8 LB 184/15 - juris Rn. 60 ff.), wonach es im Falle einer im maßgeblichen Beurteilungszeitraums hinreichend sicher feststehenden tatsächliche Unmöglichkeit einer fristgerechten Überstellung, der angesprochene Beschleunigungsgedanke der Dublin III-VO gebietet, bereits zu diesem Zeitpunkt von einer Unmöglichkeit der Überstellung und damit dem künftigen Zuständigkeitsübergang (vgl. Art. 29 Abs. 2 Dublin III-VO) auszugehen. Auch wenn diese Rechtsprechung nicht zu Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO ergangen ist, sondern zu einer Ermessensreduzierung im Rahmen des Selbsteintritts gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO, lässt sich ihr jedenfalls entnehmen, dass alleine die tatsächliche Unmöglichkeit der Überstellung nicht geeignet ist, den Grundsatz der Beschleunigung, wie er in der Dublin III-VO enthalten ist, einzuschränken (so auch OVG SH, B.v. 9.7.2020 - 1 LA 120/20 - juris Rn. 18).

Hinzu kommt, dass Art. 29 Abs. 1 UA. 1 Dublin III-VO die Frage nach der tatsächlichen Möglichkeit der Überstellung von der Frage der aufschiebenden Wirkung einer rechtlichen Prüfung der Überstellungsentscheidung trennt und sich aus dem Wortlaut ergibt, dass unabhängig von der praktischen Möglichkeit der Überstellung die Überstellungsfrist spätestens sechs Monate nach Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs durch einen anderen Mitgliedstaat oder der endgültigen Entscheidung über eine rechtliche Prüfung, die aufschiebende Wirkung hat, endet (vgl. VG Bremen, U.v. 18.9.2020 - 2 K 1112/19 - juris Rn. 47).

Soweit der Gerichtshof der Europäischen Union entschieden hat, dass der überstellende Mitgliedstaat über eine Frist von sechs Monaten verfügen sollte, um die Überstellung zu bewerkstelligen (EuGH, U.v. 29.1.2009 - C-19/08 - NVwZ 2009, 639 - juris Rn. 43), steht dies dem gefundenen Ergebnis nicht entgegen. Diese Vorabentscheidung, die noch zur Auslegung der sogenannten Dublin II-VO (Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist) ergangen ist, enthält keine Aussage darüber, wie in Fällen zu verfahren ist, in denen die Überstellung aus tatsächlichen Gründen vorübergehend unmöglich ist. Sie betrifft eine Fallkonstellation, in der die Frage nach der Unterbrechung der Überstellungsfrist in Zusammenhang mit einem gerichtlich anhängigen Hauptsache-Rechtsbehelf aufkam. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat insoweit entschieden, dass, wenn die Rechtsvorschriften des ersuchenden Mitgliedstaats vorsehen, dass ein Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat, die Überstellungsfrist zur Wahrung ihrer praktischen Wirksamkeit nicht bereits ab der vorläufigen gerichtlichen Entscheidung läuft, mit der die Durchführung des Überstellungsverfahrens ausgesetzt wird, sondern erst ab der gerichtlichen Entscheidung, mit der über die Rechtmäßigkeit des Verfahrens entschieden wird und die dieser Durchführung nicht mehr entgegenstehen kann (EuGH, U.v. 29.1.2009 - C-19/08 - NVwZ 2009, 639 - juris Rn. 44 ff.). Da insoweit auch diese Entscheidung in Zusammenhang mit einem mitgliedstaatlichen Rechtsbehelfsverfahren stand, kann sie nicht auf solche Fälle übertragen werden, in denen der Anlass für eine Unterbrechung der Überstellungsfrist allein ein tatsächlicher ist, der nicht der Gewährung effektiven Rechtsschutzes dient.

Die Stellungnahme der Antragsgegnerin vom 13. Oktober 2020 und die darin zitierte Rechtsprechung führt zu keiner anderen Beurteilung. Wenn darin auf das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. August 2016 (1 C 6/16 - BVerwGE 156, 9 - juris Rn. 18) Bezug genommen wird, stellt dies keine mit dem hiesigen Fall vergleichbare Konstellation dar. Denn in dem der Entscheidung zu Grunde liegenden Fall war wiederum die Aussetzung der Abschiebungsanordnung bis zu einer endgültigen Entscheidung in der Hauptsache nach Zulassung der Berufung Gegenstand. Dass ein solcher Fall von Art. 27 Abs. 4 Dublin III-VO umfasst ist, ergibt sich bereits - wie vom Bundesverwaltungsgericht dargestellt - aus dem Wortlaut der Vorschrift selbst. Das Urteil des EuGH vom 13. September 2017 (C-60/16 - Khir Amayry - NVwZ 2018, 46) hat ebenfalls die Aussetzung einer Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss eines Rechtsbehelfsverfahrens zum Gegenstand. Der Grundsatz, dass eine zusammenhängende Überstellungsfrist von sechs Monaten zur Verfügung stehen soll, gilt wie ausgeführt nicht absolut (vgl. im Übrigen auch schon VG Würzburg, U.v. 11.8.2020 - W 8 K 19.50795 - juris).

Nach alledem ist die Zuständigkeit Italiens entfallen, so dass die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung anzuordnen war. Im Weiteren wird die Antragsgegnerin vielmehr verpflichtet sein, ein Asylverfahren in nationaler Zuständigkeit durchzuführen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).

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