Beschluss vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - A 9 S 1047/16

Tenor

Der Klägerin wird für das Verfahren des zweiten Rechtszugs Prozesskostenhilfe ohne Ratenzahlung bewilligt und Rechtsanwalt ... beigeordnet.

Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Stuttgart vom 1. April 2016 - A 5 K 4575/14 - wird abgelehnt.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Zulassungsverfahrens.

Gründe

 
Der Klägerin ist nach §§ 114, 115, 119 Abs. 1 Satz 2 und § 121 Abs. 1 ZPO, § 166 VwGO Prozesskostenhilfe zu bewilligen.
Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung bleibt ohne Erfolg. Der allein in Anspruch genommene Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) rechtfertigt aus den mit dem Antrag angeführten Gründen die Zulassung der Berufung nicht.
Grundsätzliche Bedeutung kommt einer Rechtssache zu, wenn es für ihre Entscheidung maßgebend auf eine konkrete, über den Einzelfall hinausgehende Rechts- oder Tatsachenfrage ankommt, deren Klärung im Interesse der Einheit oder der Fortbildung des Rechts geboten erscheint (vgl. BVerfG, Beschlüsse der 2. Kammer des Ersten Senats vom 09.06.2016 - 1 BvR 2453/12 -, NVwZ 2016, 1243, 1245, und vom 24.01.2007 - 1 BvR 382/05 -, NVwZ 2007, 805 f.). Die nach § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG gebotene Darlegung dieser Voraussetzungen (vgl. BVerfG, Beschluss der 2. Kammer des Zweiten Senats vom 16.05.2007 - 2 BvR 1782/04 -, juris Rn. 13) verlangt, dass unter Durchdringung des Streitstoffes eine - gegebenenfalls erneut oder ergänzend - klärungsbedürftige konkrete Rechts- oder Tatsachenfrage aufgezeigt wird, die für die Entscheidung des Verwaltungsgerichts von Bedeutung war und die auch für die Entscheidung im Berufungsverfahren erheblich sein wird, und dass ein Hinweis auf den Grund gegeben wird, der ihre Anerkennung als grundsätzlich bedeutsam rechtfertigen soll (vgl. BVerwG, Beschluss vom 10.11.2011 - 5 B 29.11 -, juris; Senatsbeschluss vom 18.06.2012 - A 9 S 792/12 -). Diesen Anforderungen entspricht der Antrag nicht.
Der Antrag wirft als grundsätzlich klärungsbedürftig folgende Fragen auf:
„Innerhalb welcher Zeit ist nach durchgeführter Anhörung gem. § 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG über den Asylantrag zu entscheiden? Gibt es eine zeitliche Grenze, nach deren Überschreitung die Asylentscheidung rechtswidrig wird?“
„Muss die Asylentscheidung von dem Bediensteten gefällt werden, der die Anhörung gem. § 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG persönlich durchgeführt hat? Oder kann über den Asylantrag auf der Grundlage (lediglich) des schriftlichen Anhörungsprotokolls entschieden werden?“
Hierzu führt die Beklagte aus, diese Fragen seien für eine Vielzahl von Verfahren von Bedeutung. Derzeit komme es verbreitet zu starken Verzögerungen bei der Bearbeitung von Asylanträgen. Die Einhaltung einer Fünf-Monats-Grenze zwischen Anhörung und Entscheidung - wie vom Verwaltungsgericht gefordert - sei in der gegenwärtigen Überlastungssituation weitestgehend illusorisch. Das Gleiche gelte für die geforderte Einheit von Anhörer und Entscheider. Die Überlastungssituation zwinge sie zu einem flexiblen Personaleinsatz. Die Einrichtung sogenannter „Entscheidungszentren“ bei ihr beruhe gerade auf dem Prinzip, „bereits angehörte Altfälle durch an wenigen Standorten zentralisierte Entscheiderpools bescheiden zu lassen“. Die Person des Anhörers und die des Entscheiders fielen dabei regelmäßig auseinander. Die vom Verwaltungsgericht vorgenommene „Zurückverweisung“ an das Bundesamt stelle vor diesem Hintergrund alles andere als eine Problemlösung dar, würde diese doch zu einer zusätzlichen, erheblichen Verfahrensverzögerung führen. Denn zu Ende gedacht müsste bei „Verbrauch“ der Fünf-Monats-Frist nicht nur ein neuer Bescheid erlassen, sondern auch die Anhörung erneut vorgenommen werden, falls der seinerzeitige Anhörer für die Entscheidung nicht mehr zur Verfügung stehe oder ihm unterstellt werde, dass er sich an die Anhörung nicht mehr zuverlässig erinnern könne.
Für die Forderung nach Einhaltung einer Fünf-Monats-Frist zwischen Anhörung und Entscheidung sowie einer Personenidentität zwischen Anhörer und Entscheider sei auch keine Rechtsgrundlage erkennbar. Weder das Asylgesetz noch das EU-Recht verhielten sich zu diesen Fragen. Vielmehr gestatte Art. 14 Abs. 1 RL 2013/32/EU (Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26.06.2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes) für den Fall einer Überlastungssituation sogar, dass Anhörungen vorübergehend von Bediensteten einer anderen Behörde durchgeführt würden. Der vom Verwaltungsgericht angestellte Vergleich mit § 138 Nr. 6 VwGO gehe fehl. Denn die auf diese Vorschrift gestützte fünfmonatige Begründungsfrist beziehe sich auf Urteile, deren Tenor am Schluss der mündlichen Verhandlung bereits verkündet worden sei und die noch der schriftlichen Begründung bedürften. Anders als nach § 116 Abs. 1 VwGO werde im Anhörungstermin nach § 24 Abs. 1 Satz 3 AsylG jedoch grundsätzlich keine Entscheidung verkündet. Diese ergehe vielmehr gemäß § 31 Abs. 1 AsylG im schriftlichen Verfahren. Da die Entscheidung - vom Sonderfall der neuen „Ankunftszentren“ abgesehen - regelmäßig mit zeitlichem Abstand erfolge, fordere § 25 Abs. 7 Satz 1 AsylG eine Niederschrift, die die wesentlichen Angaben des Ausländers enthalte. Gefordert sei gemäß Art. 17 Abs. 1 RL 2013/32/EU entweder ein Wortprotokoll oder eine ausführliche und objektive Niederschrift mit allen wesentlichen Angaben. Das Protokoll müsse folglich so abgefasst sein, dass eine Entscheidung allein aufgrund des Protokolls ergehen könne. Die bloße „Erinnerung“ des Entscheiders an den Ablauf der Anhörung dürfe mithin bei der Entscheidung keine Rolle spielen. Sie halte daran fest, dass es für die Bescheidung nach erfolgter Anhörung keine rechtlich festgelegte Zeitgrenze gebe, und dass die Bescheidung durch einen Bediensteten erfolgen könne, der an der Anhörung nicht selbst teilgenommen habe. Da das Verwaltungsgericht insoweit anderer Auffassung sei, bedürften die aufgeworfenen Fragen der Klärung in einem Berufungsverfahren.
Mit diesem Vorbringen legt die Beklagte den Zulassungsgrund nicht hinreichend dar. Sie zeigt schon die Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Fragen nicht auf.
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Das Verwaltungsgericht hat sein Urteil unter anderem damit begründet, zwischen der Anhörung der Klägerin nach § 25 AsylG durch Frau H. am 04.09.2012 und dem Erlass des Bescheids vom 10.10.2014, der unter dem Namen W. ergangen sei, hätten mehr als zwei Jahre gelegen. Es sei Ausdruck des menschlichen Wesens an sich, dass die Erinnerung mit fortschreitender Zeit zunehmend verblasse. Im vorliegenden Fall sei die Anhörung der Klägerin bereits am 04.09.2012 von einer Mitarbeiterin des Bundesamts durchgeführt worden, die allerdings die dann erst am 10.10.2014 erfolgte Entscheidung nicht getroffen habe. Der Zeitraum zwischen der Anhörung der Klägerin und der Fällung der Entscheidung betrage mehr als zwei Jahre und übersteige die Frist für gerichtliche Verfahren (Fünf-Monats-Frist zur Absetzung von Entscheidungsgründen) um ein Fünffaches. Der Bescheid vom 10.10.2014 sei „daher“ im Rechtssinne nicht mit einer Begründung versehen und verletze die Klägerin in ihrem Recht auf verfahrensfehlerfreie Prüfung ihres Asylantrags. Vor diesem Hintergrund hätte sich der Zulassungsantrag bereits näher damit auseinandersetzen müssen, inwieweit für das Verwaltungsgericht neben den besonderen Einzelfallumständen überhaupt die von der Beklagten als verallgemeinerungsfähig benannten Rechtsfragen leitend waren und inwieweit sich diese losgelöst von Einzelfallumständen beantworten lassen (vgl. auch BayVGH, Urteil vom 23.07.1997 - 24 B 96.32748 -, BeckRS 1997, 25163, und Bodenbender, in: GK AsylG, 109. Aktualisierung 2016, § 25 Rn. 4, zur Einzelfallabhängigkeit der Frage, ob eine Verschiedenheit von Anhörer und Entscheider die Rechtmäßigkeit eines Ablehnungsbescheides berührt).
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Unabhängig davon lässt das Antragsvorbringen eine Befassung mit der zu den aufgeworfenen Fragen bereits vorhandenen Rechtsprechung und Literatur vermissen. Insbesondere geht es nicht darauf ein, dass das Bundesverwaltungsgericht die Zulässigkeit der Personenverschiedenheit von Anhörer und Entscheider bereits als nicht klärungsbedürftig bezeichnet hat, weil sich die Beantwortung der Frage unmittelbar aus dem Asyl(verfahrens)gesetz ergebe (Beschluss vom 13.05.1996 - 9 B 174.96 -, JurionRS 1996, 21040, mit dem Hinweis auf § 5 Abs. 2 Satz 1, § 24 Abs. 1 Satz 2 AsylVfG a.F.; vgl. auch BayVGH, Urteil vom 23.07.1997, a.a.O., der sich der Entscheidung anschließt und dies näher begründet). Danach gehöre die Anhörung des Asylsuchenden nicht zu den Aufgaben des Entscheiders beim Bundesamt, auch wenn ihm diese Aufgabe zusätzlich übertragen werden könne und dies auch sinnvoll sein möge, weil es in Asylsachen nicht selten entscheidend auf die Glaubwürdigkeit des Antragstellers ankomme. Verfassungsrechtliche Bedenken dagegen, dass die Durchführung der Anhörung beim Bundesamt nicht zwingend zu den Aufgaben des Entscheiders gehöre, seien nicht ersichtlich (BVerwG, Beschluss vom 13.05.1996, a.a.O.). Auch in dem damals zugrunde liegenden Verfahren war die Beklagte Beteiligte.
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Hat das Bundesverwaltungsgericht eine Rechtsfrage schon entschieden, erfordert die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache die Darlegung konkreter geänderter Umstände, die die erneute grundsätzliche Klärung der Rechtsfrage in einem Berufungsverfahren als notwendig erscheinen lassen (vgl. - übereinstimmend teils zum Revisions-, teils zum Berufungszulassungsrecht, teils zur Klärung durch das BVerwG, teils zu der durch BVerfG oder EuGH - BVerwG, Beschlüsse vom 22.08.1986 - 3 B 47.85 -, NVwZ 1987, 55 und vom 25.11.1992 - 6 B 27.92 -, Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 306; OVG Hamburg, Beschluss vom 19.11.2001 - 4 Bf 202/01 -, GewArch 2002, 164; NdSOVG, Beschluss vom 10.02.2011 - 11 LA 491/10 -, NVwZ 2011, 572; Pietzner/Bier, in: Schoch/Schneider/Bier, VwGO, 31. EL Juni 2016, § 133 Rn. 33; Stuhlfauth, in: Bader u.a., VwGO, 6. Aufl. 2014, § 124a Rn. 85).
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Im vorliegenden Fall hat zwar das Bundesverwaltungsgericht nicht selbst in dem dafür vorgesehenen (Berufungs-) Verfahren eine Klärung herbeigeführt. Da es jedoch ausdrücklich eine Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Rechtsfrage (wenn auch zum damaligen Asylverfahrensgesetz) verneint hat, hätte der Zulassungsantrag auch dem mit genügenden Darlegungen Rechnung tragen müssen. Ob die Darlegungsanforderungen im gleichen Maße heraufgesetzt sind wie bei einer bereits im Berufungsverfahren erfolgten Klärung, kann dahinstehen (vgl. zu dem insoweit u.a. zu berücksichtigenden Zusammenhang zwischen den Zulassungsgründen der Grundsatzbedeutung und der Divergenz NdSOVG, Beschluss vom 10.02.2011, a.a.O.). Denn der Zulassungsantrag erwähnt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Personenverschiedenheit von Anhörer und Entscheider nicht einmal. Ob zum Beispiel die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ernst zu nehmender Kritik ausgesetzt gewesen ist oder seit deren Ergehen neue bedeutsame Gesichtspunkte zutage getreten sind (vgl. BVerwG, Beschluss vom 29.12.1970 - I B 96.70 -, BayVBl 1971, 423; Kopp/Schenke, VwGO, 22. Aufl. 2016, § 124 Rn. 10), ist dem Zulassungsvorbringen dementsprechend nicht zu entnehmen. Zumindest einer gewissen Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung und gegebenenfalls ihrer Rezeption hätte es indes bedurft, zumal die hier zitierte Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts nicht nur veröffentlicht, sondern auch (jedenfalls) in einem ebenfalls veröffentlichten Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs in Bezug genommen wurde.
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Aus den vorstehend zitierten Überlegungen des Bundesverwaltungsgerichts, mit denen sich der Zulassungsantrag nicht auseinandersetzt, ergibt sich zugleich, dass es auf das persönliche Erinnerungsvermögen des einzelnen Anhörers bei der Entscheidung über einen Asylantrag nicht notwendig ankommt, so dass eine Übertragung der Rechtsprechung zur äußersten „Absetzungsfrist“ für ein vollständiges Urteil im Verwaltungsprozess auf die Abfassung eines asylrechtlichen Bescheids offensichtlich ausscheidet (vgl. zu dem insoweit in Rede stehenden Rückgriff auf § 552 ZPO a.F. bzw. § 551 Abs. 2 Satz 3 ZPO Gemeinsamer Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes, Beschluss vom 27.04.1993 - GmS-OGB 1/92 -, BVerwGE 92, 367; BVerwG, Beschlüsse vom 20.09.1993 - 6 B 18.93 -, NJW 1994, 273, vom 18.08.1999 - 8 B 124.99 -, NVwZ 1999, 1334, vom 09.08.2004 - 7 B 20.04 -, juris, und vom 24.11.2005 - 9 B 20.05 -, juris). Für eine vergleichbare Frist im behördlichen Asylverfahren gibt es auch keinen gesetzlichen Anhaltspunkt (vgl. im Übrigen zur gerichtlichen Spruchreifmachung selbst bei unterbliebener Anhörung OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 13.01.2017 - 4 A 3051/15.A -, juris).
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Den Zulassungsgrund der Divergenz (§ 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG) hat die Beklagte weder geltend gemacht noch dargelegt.
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Die Kostenentscheidung für das gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfreie Zulassungsverfahren beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Der Gegenstandswert bestimmt sich nach § 30 RVG.
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Der Beschluss ist unanfechtbar.

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