Beschluss vom Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg - 1 S 467/21

Tenor

Auf den Antrag der Antragstellerin wird § 1d Abs. 8 der Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-CoV-2 (Corona-Verordnung – CoronaVO) vom 30. November 2020 in der Fassung der Achten Verordnung der Landesregierung zur Änderung der Corona-Verordnung vom 13. Februar 2021 ab dem 1. März 2021 vorläufig außer Vollzug gesetzt.

Im Übrigen wird der Antrag abgelehnt.

Der Antragsgegner trägt die Kosten des Verfahrens.

Der Streitwert wird auf 15.000,-- EUR festgesetzt.

Gründe

 
I.
Die Antragstellerin wendet sich - sachdienlich ausgelegt - im vorliegenden Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO gegen § 1d Abs. 8 der Verordnung der Landesregierung über infektionsschützende Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Virus SARS-CoV-2 (Corona-Verordnung - CoronaVO) vom 30.11.2020 in der Fassung der Achten Verordnung der Landesregierung zur Änderung der Corona-Verordnung vom 13.02.2021. Die Vorschrift untersagt den Betrieb von Fahrschulen mit Ausnahme von Onlineunterricht und sieht Ausnahmen vor für die Fahrausbildung zu beruflichen Zwecken insbesondere in den Lkw- und Bus-Fahrerlaubnisklassen (Nr. 1), die Fahrausbildung für Angehörige der Freiwilligen Feuerwehr, des Rettungsdienstes, des Katastrophenschutzes, des Technischen Hilfswerkes oder einer vergleichbaren Einrichtung (Nr. 2), die bereits begonnene Fahrausbildung, die unmittelbar vor Abschluss durch die fahrpraktische Fahrerlaubnisprüfung steht (Nr. 3) und die Durchführung einer nach § 1b Abs. 1 Satz 2 Nr. 8 CoronaVO zulässigen Veranstaltung (Nr. 4). Die Vorschrift gilt seit dem 10.01.2021. Zuvor war die Durchführung von theoretischem und praktischem Fahrschulunterricht unter Einhaltung von Hygienevorgaben nicht untersagt.
Die Antragstellerin ist eine Fahrschule in .... Sie trägt vor, der Inhaber führe die Fahrschule mit einem angestellten Fahrlehrer. Vom 01.01.2020 bis zum 11.01.2021 hätten sich ... Fahrschüler zur Ausbildung angemeldet. Von diesen hätten ... zwischen 40 und 70 % des erforderlichen Ausbildungsstandes erreicht und könnten seit dem 11.01.2021 nicht weiter ausgebildet werden. Geplant sei die Fortsetzung der Ausbildung in den Fastnachtsferien, beginnend ab dem 18.02.2021. Seit Ausbruch der Pandemie betreibe die Antragstellerin ein aufwändiges überobligatorisches Hygienekonzept. Die angefochtene Vorschrift verursache einen Verlust von Umsatz von über ... EUR für die Monate Januar bis März 2021, der weder kompensiert noch wirtschaftlich nachgeholt werden könnte. Durch die angefochtene Bestimmung werde sie in ihrem Recht auf Berufsausübung gemäß Art. 12 Abs. 1 GG existenziell verletzt. Die Vorschrift verstoße gegen höherrangiges Recht. In § 28a Abs. 3 IfSG habe der Gesetzgeber eine Grundentscheidung getroffen, dass bei dem Erlass von Schutzmaßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie ein differenziertes, gestuftes Vorgehen unter Berücksichtigung des regionalen Infektionsgeschehens zu berücksichtigen sei. Diesen gesetzlichen Anforderungen entspreche der Antragsgegner nicht. Die 7-Tage-Inzidenz betrage mit Stand vom 10.02.2021 im Landesdurchschnitt 57,3, im Bodenseekreis 63,5.
Der Antragsgegner ist dem Antrag entgegengetreten. Die Maßnahme nach § 1d Abs. 8 CoronaVO sei ein wichtiger Bestandteil der derzeitigen Strategie der Landesregierung zur Kontaktreduzierung und damit zur Pandemiebekämpfung. Ohne diese Maßnahmen käme es zu einer Vielzahl von Kontakten und damit stiege auch die Gefahr eines erneuten exponentiellen Anstiegs der Infektionszahlen. Das Robert Koch-Institut schätze die Gefährdung der Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland immer noch als sehr hoch ein. Bei der fahrpraktischen Ausbildung könne der Mindestabstand von 1,5 m nicht gewährleistet werden. Mindestens zwei Personen befänden sich über einen längeren Zeitraum von 45 Minuten (Einzelstunde) oder 90 Minuten (Doppelstunde) zusammen. Zudem müsse jedenfalls der Fahrlehrer regelmäßig laut sprechen und stoße dabei Aerosole aus. Bei Brillenträgern bestehe die Gefahr, dass je nach Beschaffenheit des Mundschutzes Brillengläser beschlagen könnten. Bei dadurch entstehenden Gefahrensituationen sei der Mindestabstand erst recht nicht einzuhalten. Für die angegriffene Vorschrift bestehe eine ausreichende Rechtsgrundlage in § 32 Satz 1, § 28 Abs. 1 Satz 1, § 28a Abs. 1 Nr. 14, Abs. 3 IfSG.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die gewechselten Schriftsätze verwiesen.
II.
Der Senat entscheidet über den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 47 Abs. 6 VwGO in der Besetzung mit drei Richtern (§ 9 Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 1 VwGO). Die Besetzungsregelung in § 4 AGVwGO ist auf Entscheidungen nach § 47 Abs. 6 VwGO nicht anwendbar (VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 15.12.2008 - GRS 1/08 - ESVGH 59, 154).
1. Der Antrag der Antragstellerin ist zulässig (a) und überwiegend begründet (b).
a) Der Antrag ist zulässig.
Ein Antrag nach § 47 Abs. 6 VwGO ist zulässig, wenn ein in der Hauptsache gestellter oder noch zu stellender Normenkontrollantrag nach § 47 Abs. 1 VwGO voraussichtlich zulässig ist (vgl. zu dieser Voraussetzung Ziekow, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl., § 47 Rn. 387) und die gesonderten Zulässigkeitsvoraussetzungen für den Antrag nach § 47 Abs. 6 VwGO erfüllt sind. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
aa) Die Statthaftigkeit eines Antrags in der Hauptsache folgt aus § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO, § 4 AGVwGO. Danach entscheidet der Verwaltungsgerichtshof auch außerhalb des Anwendungsbereichs des § 47 Abs. 1 Nr. 1 VwGO über die Gültigkeit von im Rang unter dem Landesgesetz stehenden Rechtsvorschriften. Dazu gehören Verordnungen - wie hier - der Landesregierung.
10 
bb) Die Jahresfrist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO ist gewahrt.
11 
cc) Die Antragstellerin ist antragsbefugt.
12 
Die Antragsbefugnis nach § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO hat jede natürliche oder juristische Person, die geltend machen kann, durch die Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in ihren Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden. Es genügt dabei, wenn die geltend gemachte Rechtsverletzung möglich erscheint (ausf. dazu Senat, Urt. v. 29.04.2014 - 1 S 1458/12 - VBlBW 2014, 462 m.w.N.). Danach liegt eine Antragsbefugnis vor. Es ist möglich, dass die Antragstellerin in ihrem Grundrecht auf Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) verletzt ist.
13 
dd) Für einen Antrag in der Hauptsache und den nach § 47 Abs. 6 VwGO liegt ein Rechtsschutzinteresse vor. Denn die Antragstellerin kann mit einem Erfolg dieser Anträge ihre Rechtsstellung jeweils verbessern.
14 
b) Der Antrag nach § 47 Abs. 6 VwGO ist überwiegend begründet.
15 
Nach § 47 Abs. 6 VwGO kann der Verwaltungsgerichtshof auf Antrag eine einstweilige Anordnung erlassen, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten ist. Prüfungsmaßstab im Verfahren nach § 47 Abs. 6 VwGO sind zunächst die Erfolgsaussichten des Normenkontrollantrags in der Hauptsache, soweit sich diese im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bereits absehen lassen. Ist danach der Normenkontrollantrag voraussichtlich unzulässig oder unbegründet, ist der Erlass einer einstweiligen Anordnung nicht im Sinne von § 47 Abs. 6 VwGO zur Abwehr schwerer Nachteile oder aus anderen wichtigen Gründen dringend geboten. Ergibt diese Prüfung, dass ein Normenkontrollantrag in der Hauptsache voraussichtlich begründet wäre, so ist dies ein wesentliches Indiz dafür, dass der Vollzug der streitgegenständlichen Satzung oder Rechtsvorschrift zu suspendieren ist. In diesem Fall kann eine einstweilige Anordnung ergehen, wenn der (weitere) Vollzug der Rechtsvorschrift vor einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren Nachteile befürchten lässt, die unter Berücksichtigung der Belange des Antragstellers, betroffener Dritter und/oder der Allgemeinheit so gewichtig sind, dass eine vorläufige Regelung mit Blick auf die Wirksamkeit und Umsetzbarkeit einer für den Antragsteller günstigen Hauptsacheentscheidung unaufschiebbar ist. Lassen sich die Erfolgsaussichten des Normenkontrollverfahrens nicht abschätzen, ist über den Erlass einer beantragten einstweiligen Anordnung im Wege einer Folgenabwägung zu entscheiden: Gegenüberzustellen sind die Folgen, die einträten, wenn eine einstweilige Anordnung nicht erginge, der Normenkontrollantrag aber Erfolg hätte, und die Nachteile, die entstünden, wenn die begehrte einstweilige Anordnung erlassen würde, der Antrag nach § 47 Abs. 1 VwGO aber erfolglos bliebe. Die für den Erlass der einstweiligen Anordnung sprechenden Erwägungen müssen die gegenläufigen Interessen dabei deutlich überwiegen, also so schwer wiegen, dass der Erlass der einstweiligen Anordnung - trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache - dringend geboten ist (BVerwG, Beschl. v. 25.02.2015 - 4 VR 5.14 -, ZfBR 2015, 381; Beschl. v. 16.09.2015 - 4 VR 2/15 -, juris; VGH Bad.-Württ., Beschl. v. 09.08.2016 - 5 S 437/16 -, juris m.w.N.; Beschl. v. 13.03.2017 - 6 S 309/17 - juris). Mit diesen Voraussetzungen stellt § 47 Abs. 6 VwGO an die Aussetzung des Vollzugs einer untergesetzlichen Norm erheblich strengere Anforderungen, als § 123 VwGO sie sonst an den Erlass einer einstweiligen Anordnung stellt (BVerwG, Beschl. v. 18.05.1998 - 4 VR 2/98 - NVwZ 1998, 1065).
16 
An diesen Maßstäben gemessen ist der Antrag der Antragstellerin überwiegend begründet. Ein gegen § 1d Abs. 8 CoronaVO gerichteter Normenkontrollantrag hätte in der Hauptsache gegenwärtig aller Voraussicht nach Erfolg (aa). Der Erlass einer einstweiligen Anordnung ist auch im Sinne von § 47 Abs. 6 VwGO dringend geboten (bb).
17 
aa) Ein gegen § 1d Abs. 8 CoronaVO gerichteter Normenkontrollantrag nach § 47 Abs. 1 VwGO würde im Hauptsacheverfahren zum gegenwärtigen Zeitpunkt voraussichtlich Erfolg haben. Die Vorschrift ist mit höherrangigem Recht aller Voraussicht nach nicht mehr vereinbar.
18 
Infektionsschutzrechtliche Maßnahmen gegen die Verbreitung des Coronavirus können auf Ermächtigungsgrundlagen aus dem 5. Abschnitt des Infektionsschutzgesetzes gestützt und auch gegen sog. Nichtstörer gerichtet werden (1). Jedoch sind die sich aus dieser einfachgesetzlichen Ermächtigungsgrundlage ergebenden Voraussetzungen für eine teilweise Betriebsschließung gegenwärtig voraussichtlich nicht erfüllt (2).
19 
(1) Für die Regelung in § 1d Abs. 8 CoronaVO über die teilweise Untersagung des Betriebs von Fahrschulen besteht eine Rechtsgrundlage in § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1, § 28a Abs. 1 Nr. 14, Abs. 3 IfSG, die eine Betriebsuntersagung der hier normierten Art am Maßstab des einfachen Gesetzesrechts gemessen grundsätzlich tragen kann (st. Rspr., vgl. etwa Senat, Beschl. v. 18.01.2021 - 1 S 69/21 - juris).
20 
Wenn - wie im Fall des Coronavirus unstreitig - eine übertragbare Krankheit festgestellt ist, können nach § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 IfSG die notwendigen Schutzmaßnahmen - hierzu zählen im Anwendungsbereich des § 28a IfSG grundsätzlich auch Betriebsschließungen (vgl. § 28a Abs. 1 Nr. 14 IfSG) - zur Verhinderung der Verbreitung der Krankheit durch eine Verordnung der Landesregierung getroffen werden. Mit solchen repressiven Bekämpfungsmaßnahmen gehen zulässigerweise auch stets präventive Wirkungen einher, solche präventiven Folgen sind gerade bezweckt. Daher ist die Landesregierung insbesondere nicht auf Maßnahmen nach § 16 oder § 17 IfSG beschränkt. Dabei ermächtigt § 28 Abs.1 IfSG nach seinem Wortlaut, seinem Sinn und Zweck und dem Willen des Gesetzgebers zu Maßnahmen auch gegenüber Nichtstörern (vgl. ausf. zum Ganzen Senat, Beschl. v. 09.04.2020 - 1 S 925/20 - juris; Beschl. v. 23.04.2020 - 1 S 1003/20 -; je m.w.N.).
21 
(2) Die sich aus dieser einfachgesetzlichen Ermächtigungsgrundlage in § 32 Satz 1 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1, § 28a Abs. 1 Nr. 14, Abs. 3 IfSG ergebenden Voraussetzungen für die in der angefochtenen Verordnungsbestimmung geregelte teilweise Betriebsschließung sind gegenwärtig voraussichtlich nicht erfüllt. Denn die Verordnungsbestimmung dürfte derzeit den sich aus § 28a Abs. 3, 5 IfSG ergebenden Anforderungen nicht mehr entsprechen (vgl. zu diesen: Senat, Beschl. v. 05.02.2021 - 1 S 321/21 -; Beschl. v. 11.02.2021 - 1 S 380/21 -; Beschl. v. 18.02.2021 - 1 S 398/21 -; Beschl. v. 19.02.2021 - 1 S 460/21 -; Beschl. v. 19.02.2021 - 1 S 502/21 -).
22 
(a) Mit den Regelungen des § 28a Abs. 3 IfSG hat der Bundesgesetzgeber die Grundentscheidung getroffen, dass bei dem Erlass von Schutzmaßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie grundsätzlich ein differenziertes, gestuftes Vorgehen geboten ist, das sich an dem tatsächlichen regionalen Infektionsgeschehen orientieren soll (vgl. Senat, Beschl. v. 05.02.2021, a.a.O.; NdsOVG, Beschl. v. 18.01.2021 - 13 MN 11/21 - juris; BayVGH, Beschl. v. 14.12.2020 - 20 NE 20.2907 - juris). Das wird durch die Gesetzesbegründung bestätigt. So heißt es in dem Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD für ein Drittes Gesetz zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite (BT-Drs. 19/23944 vom 03.11.2020, S. 34 f. zu § 28a Abs. 2 des Entwurfs, Hervorhebung durch den Senat):
23 
„Die Maßnahmen nach Absatz 1 finden ihre Rechtfertigung in dem sehr dynamischen Infektionsgeschehen dieser Pandemie mit einem äußerst infektiösen Virus, das insbesondere über Aerosole verbreitet wird.
24 
Das Infektionsgeschehen weist gleichwohl regionale Unterschiede auf. So geht die jüngste Verbreitungswelle maßgeblich von urbanen Räumen aus und setzt sich verzögert auch in ländlichen Räumen fort. Die Möglichkeiten zur Eindämmung hängen dabei von der Inzidenz ab. Dort wo das Infektionsgeschehen noch nicht 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen erreicht hat, ist eine individuelle Kontaktnachverfolgung regelmäßig noch leistbar, so dass schwerwiegende Einschränkungen des öffentlichen Lebens nicht absolut notwendig sind. Wenn die Inzidenz zwischen 35 und 50 Neuinfektionen beträgt, sind starke Einschränkungen zwar schon geboten, um ein exponentielles Wachstum zu verhindern, aber bestimmte Bereiche des öffentlichen Lebens können offengehalten werden, insbesondere bei Vorliegen von Schutz- und Hygienekonzepten. Unterhalb einer Inzidenz von 35 Neuinfektionen können weitere Einschränkungen wegfallen, so dass eine größere ökonomische und soziale Entfaltung und Normalisierung des öffentlichen Lebens möglich wird. Einfache Maßnahmen sind dann gleichwohl notwendig, um dem Infektionsgeschehen möglichst effektiv entgegenzutreten bzw. zumindest eine Erhöhung der Inzidenz zu vermeiden. Landeseinheitliche Maßnahmen bleiben insbesondere bei landesweit übergreifenden oder gleich gelagerten Infektionsgeschehen oder -phänomen unberührt.
25 
Die bisherige Erfahrung in der SARS-CoV-2-Pandemie hat gezeigt, dass sich eine Intensivierung des Infektionsgeschehens häufig absehbar ist. Zeichnen sich eine zunehmende Dynamik und eine Überschreitung von Schwellenwerten ab, sind präventiv wirkende Schutzmaßnahmen angezeigt.
26 
Liegt das Infektionsgeschehen bundesweit über 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen, sollte die Infektionsbekämpfung nach einer bundesweit möglichst einheitlichen Strategie erfolgen, um mögliche infektiologische Wechselwirkungen und Verstärkungen zwischen einzelnen Regionen auszuschließen und die Akzeptanz der erforderlichen schwerwiegenden Maßnahmen in der Bevölkerung zu erhöhen. Vor diesem Hintergrund sind die für den Vollzug des Infektionsschutzgesetzes primär zuständigen Länder aufgefordert, die zu ergreifenden Schutzmaßnahmen abzustimmen und sich auf eine gemeinsame Bekämpfungsstrategie zu verständigen.
27 
Zur Wahrung der Verhältnismäßigkeit ist folglich ein gestuftes Vorgehen geboten, das sich an dem tatsächlichen regionalen Infektionsgeschehen orientiert. Daher sieht die Regelung Schwellenwerte vor, die kann an Schwellenwerte der Inzidenz für die Einführung oder die Fortdauer von Maßnahmen angeknüpft werden.“ (Die wohl fehlerhafte Formulierung findet sich so im Original, Anm. d. Senats.)
28 
Das Ziel des Gesetzgebers, der Exekutive ein gestuftes Vorgehen vorzugeben, das sich an dem tatsächlichen regionalen Infektionsgeschehen orientiert, kommt in der Grundnorm des Satzes 2 des § 28a Abs. 3 IfSG in besonderem Maße zum Ausdruck. Daraus folgt auch, dass der Verordnungsgeber, wenn er eine Schutzmaßnahme dem Grunde nach für erforderlich hält, auch zu prüfen und darzulegen (§ 28 Abs. 5 Satz 1 IfSG) hat, ob diese gerade landesweit angeordnet werden muss oder ob insoweit differenziertere Regelungen in Betracht kommen (Senat, Beschl. v. 05.02.2021, a.a.O.). Hat der Verordnungsgeber zu einem früheren Zeitpunkt bereits landesweite Regelungen getroffen, ist er zudem - wie stets - auch von Verfassungs wegen dazu verpflichtet, fortlaufend und differenziert zu prüfen, ob diese und die dadurch bewirkten konkreten Grundrechtseingriffe auch weiterhin gerechtfertigt oder aufzuheben sind (stRspr., vgl. nur Senat, Beschl. v. 15.10.2020 - 1 S 3156/20 - juris, v. 18.05.2020 - 1 S 1386/20 -, m.w.N., und v. 05.02.2021, a.a.O.).
29 
Gleichzeitig hat der Bundesgesetzgeber die zur Entscheidung berufenen öffentlichen Stellen, insbesondere die zum Erlass von Verordnungen ermächtigten Landesregierungen (vgl. § 28 Abs. 5 Satz 1, § 32 IfSG), dazu verpflichtet, zu berücksichtigen, ob landesweit (Satz 10) oder gar bundesweit (Satz 9) der Schwellenwert von über 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen überschritten ist, und, falls es nach einer Überschreitung zu einer Unterschreitung kommt, seit wann letzteres der Fall ist (s. Satz 11: „solange“). Dabei darf im Falle einer bundesweiten Überschreitung des Wertes von 50 Neuinfektionen je 100.000 Einwohnern binnen sieben Tagen der Verordnungsgeber bei der Entscheidung, ob er bundesweit abgestimmte Maßnahmen durch landesweit einheitliche oder regional differenzierende Regelungen umsetzt, die Wertung des Bundesgesetzgebers berücksichtigen, dass „mögliche infektiologische Wechselwirkungen und Verstärkungen zwischen einzelnen Regionen“ möglichst ausgeschlossen werden sollen (Senat, Beschl. v. 18.02.2021, a.a.O.).
30 
(b) Nach diesem Maßstab dürfte es hier derzeit an den Voraussetzungen nach § 28a Abs. 3, 5 IfSG fehlen.
31 
Der Anwendungsbereich von § 28a Abs. 3 Satz 9 IfSG ist voraussichtlich nicht eröffnet. Zwar liegt eine bundesweite Überschreitung der 7-Tages-Inzidenz vor. Denn diese liegt derzeit bei 61 Fällen je 100.000 Einwohner (vgl. RKI, Lagebericht vom 22.02.2021, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Situationsberichte/Feb_2021/2021-02-22-de.pdf?__blob=publicationFile). Es ist jedoch nicht erkennbar, dass Betriebsuntersagungen für Fahrschulen eine bundesweit abgestimmte Maßnahme im Sinne von § 28 Abs. 3 Satz 9 IfSG sind. Dem Senat ist keine bundesweite Abstimmung zwischen den Ländern hierzu bekannt. Eine dahingehende Beschlussfassung der Regierungschefinnen und -chefs der Länder und der Bundeskanzlerin liegt ersichtlich nicht vor, der Antragsgegner hat eine solche auch nicht behauptet; insbesondere ist auf der Konferenz der Regierungschefinnen und -chefs der Länder und der Bundeskanzlerin vom 05.01.2021, die der Einführung der angefochtenen Vorschrift voranging, ein solcher Beschluss nicht gefasst worden. Der Umstand, dass die überwiegende Zahl der Länder Betriebsuntersagungen für Fahrschulen aus infektionsschutzrechtlichen Gründen vorsieht und dass die Regierungschefinnen und -chefs der Länder und der Bundeskanzlerin allgemein die Beschränkung von Kontakten verabredet haben, reicht voraussichtlich nicht aus, gerade für die Untersagung des Betriebs von Fahrschulen eine bundesweit abgestimmte Maßnahme im Sinne von § 28a Abs. 3 Satz 9 IfSG anzunehmen.
32 
Auch § 28a Abs. 3 Satz 10 IfSG ist nicht anwendbar. Es fehlt an einer landesweiten 7-Tages-Inzidenz von über 50. Diese liegt derzeit bei 44,8 (vgl. Landesgesundheitsamt, Tagesbericht vom 22.02.2021, https://www.gesundheitsamt-bw.de/lga/DE/Fachinformationen/Infodienste_Newsletter/InfektNews/Lagebericht%20COVID19/COVID_Lagebericht_LGA_210222.pdf).
33 
Auch außerhalb des Anwendungsbereichs von § 28a Abs. 3 Sätze 9 und 10 IfSG sind Schutzmaßnahmen nach Maßgabe von § 28a Abs. 3 Sätze 1 bis 8, Sätze 11 und 12 IfSG i.V.m. § 28 Abs. 1 IfSG möglich, solange und soweit dies zur Verhinderung der Verbreitung der Coronavirus-Krankheit-2019 erforderlich ist. Die Voraussetzungen für solche Schutzmaßnahmen sind dem Grunde nach voraussichtlich weiterhin gegeben. Der Senat teilt die Einschätzung des Antragsgegners, dass die Gefährdung für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland weiterhin als sehr hoch einzuschätzen ist, insbesondere da sich aktuell der Rückgang der täglichen Fallzahlen nicht fortsetzt (vgl. RKI, a.a.O.). Auch in Baden-Württemberg entwickelt sich die 7-Tages-Inzidenz derzeit seitwärts bzw. leicht steigend (vgl. Landesgesundheitsamt, Tagesberichte vom 17.02.2021 bis zum 22.02.2021, https://www.gesundheitsamt-bw.de/lga/DE/Fachinformationen/Infodienste_Newsletter/InfektNews/Seiten/Lagebericht_covid-19.aspx). Auch ist nicht zu verkennen, dass der Betrieb von Fahrschulen nicht unerhebliche Infektionsgefahren aufweist. Bei der praktischen Ausbildung kann der Mindestabstand von 1,5 m regelmäßig nicht gewährleistet werden. Über einen Zeitraum von jedenfalls 45 Minuten - oder bei einer Doppelstunde von 90 Minuten - sitzen mindestens zwei Personen in einem kleinen geschlossenen Raum zusammen. Die Ausbildungssituation erfordert während des gesamten Zeitraums Kommunikation zwischen diesen Personen.
34 
Jedoch hat der Antragsgegner nicht, wie es § 28 Abs. 5 Satz 1 IfSG erfordert, begründet, warum es insoweit eines landesweit einheitlichen Vorgehens bedarf. Die Begründung zur 3. Änderungsverordnung vom 08.01.2021 zur CoronaVO (vgl. https://www.baden-wuerttemberg.de/fileadmin/redaktion/dateien/PDF/Coronainfos/210110_Begruendung_zur_3.AenderungsVO_zur_5.CoronaVO.pdf), mit der § 1d Abs. 8 CoronaVO eingefügt wurde, verhält sich hierzu nicht. Die Notwendigkeit eines landesweit einheitlichen Vorgehens ist für den Senat auch nicht offensichtlich. Das Infektionsgeschehen im Land weist nicht unerhebliche Unterschiede auf. Von den 44 Land- und Stadtkreisen hat einer eine 7-Tages-Inzidenz von über 100, zwölf eine zwischen 50 und 100, einundzwanzig eine zwischen 35 und 50 sowie zehn eine unter 35; in sechs dieser zehn Land- und Stadtkreise liegt die 7-Tages-Inzidenz sogar unter 30 (vgl. Landesgesundheitsamt, Tagesbericht vom 22.02.2021, a.a.O.). Konkrete Umstände, dass es bei einer nicht für alle Land- und Stadtkreise geltenden Untersagung des Betriebs von Fahrschulen in nennenswertem Umfang zu Bewegungen von Fahrschülern und Fahrlehrern über Kreis- oder gar Landesgrenzen hinaus und damit zu erheblichen zusätzlichen Infektionsgefahren kommen könnte, vermag der Senat nicht zu erkennen. Die Gruppe der Fahrschüler und derjenigen, die sich derzeit entschließen könnten, sich bei einer Fahrschule anzumelden, macht von vornherein nur einen kleinen Teil der Bevölkerung aus. Diejenigen, die sich bereits in der Fahrschulausbildung befinden, dürften sich typischerweise dafür entscheiden, bei dieser Fahrschule zu bleiben, mit der sie bereits einen Vertrag geschlossen und dabei den üblichen, finanziell erheblichen Grundbetrag bereits bezahlt haben. Wer derzeit überlegt, die Fahrschulausbildung erst zu beginnen, mag zudem - zumal vor einer Entscheidung für eine Fahrschule in einem anderen Stadt- oder Landkreis - überlegen, dieses Vorhaben angesichts einer nicht auszuschließenden deutlichen Verschlechterung der Infektionslage und einer dann ggfs. drohenden erneuten landesweiten Untersagung des Fahrschulbetriebs aufzuschieben und zunächst abzuwarten. Auch dürfte es allenfalls für wenige Fahrschüler und Fahrlehrer praktikabel sein, über Kreisgrenzen hinweg weite Wege zurückzulegen, um Fahrschulleistungen anzubieten oder anzunehmen. Schließlich kann es sich als für solche Wanderungsbewegungen begrenzender Faktor erweisen, dass es bereits aus zeitlichen Gründen für viele Fahrschulen kaum möglich sein dürfte, in größerem Umfang für zusätzliche Fahrschüler Fahrstunden anzubieten.
35 
bb) Der Erlass einer einstweiligen Anordnung ist auch im Sinne von § 47 Abs. 6 VwGO dringend geboten. Bereits aufgrund der weitgehenden Erfolgsaussichten in der Hauptsache besteht ein deutliches Überwiegen der von der Antragstellerin geltend gemachten Belange gegenüber den von dem Antragsgegner vorgetragenen gegenläufigen Interessen.
36 
Die Antragstellerin hat glaubhaft gemacht, dass sie die angefochtenen Regelungen erheblich in ihrem Grundrecht auf Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG trifft. Dieser Belang überwiegt die gegenläufigen Interessen des Antragsgegners. Dessen Interessen sind zwar von sehr hohem Gewicht. Denn die infektionsschutzrechtlichen Regelungen dienen dem Schutz von Leib und Leben einer Vielzahl vom Coronavirus Betroffener und der damit verbundenen Erhaltung der Leistungsfähigkeit des Gesundheitssystems Deutschlands. Hieraus folgt aber nicht, dass die Antragstellerin einen Verstoß gegen ihr Grundrecht auf Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG durch eine voraussichtlich rechtswidrige Regelung bis zum Abschluss eines Hauptsacheverfahrens hinnehmen müsste.
37 
Ausgehend hiervon übt der Senat das ihm durch § 47 Abs. 6 VwGO eröffnete Ermessen dahin aus, dass er die angefochtene Vorschrift mit der aus dem Tenor ersichtlichen zeitlichen Maßgabe außer Vollzug setzt.
38 
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO. Die Antragstellerin ist gemessen an ihrem Antrag wegen der sich aus dem Tenor ergebenden zeitlichen Maßgabe zwar teilweise unterlegen, dies ist aber nur zu einem im Sinne jener Vorschrift geringen Teil geschehen. Denn mit der Entscheidung des Senats wird dem Begehren der Antragstellerin von einer geringfügigen zeitlichen Einschränkung abgesehen im Wesentlichen entsprochen.
39 
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG. Der Streitwert ist gemäß diesen Vorschriften nach der sich aus dem Antrag der Antragstellerin für sie ergebenden Bedeutung der Sache nach Ermessen zu bestimmen. Da sich die Antragstellerin gegen die (teilweise) Untersagung des Betriebs ihrer Fahrschule wendet, nimmt der Senat die Festsetzung des Streitwerts in Anlehnung an Nr. 54.2.1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit vor. Danach ist für eine Gewerbeuntersagung der Streitwert nach dem Jahresbetrag des erzielten oder erwarteten Gewinns, mindestens auf 15.000,-- EUR festzusetzen. Dieser ist im vorliegenden Eilverfahren wegen der begehrten weitgehenden Vorwegnahme der Hauptsache nicht zu reduzieren.
40 
Dieser Beschluss ist unanfechtbar.

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