Beschluss vom Bundesfinanzhof (10. Senat) - X B 159/09
Tatbestand
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I. Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) begehren die Zulassung der Revision gegen ein Urteil, mit dem das Finanzgericht (FG) durch den Einzelrichter den Zugang eines Einspruchs für nicht erwiesen erachtet hat.
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Nachdem die Kläger für das Jahr 2000 keine Einkommensteuererklärung abgegeben hatten, setzte der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt --FA--) im Wege einer Schätzung der Besteuerungsgrundlagen mit einem unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehenden Bescheid vom 30. September 2002 die Einkommensteuer 2000 auf 10.808,71 € fest. Mit Bescheid vom 25. Juni 2003 hob das FA den Vorbehalt der Nachprüfung auf. Die Steuererklärung ging im Mai 2004 beim FA ein. Etwa zeitgleich teilten die damaligen steuerlichen Vertreter der Kläger dem FA mit, es lägen zwar für 2000 und 2001 unanfechtbare Veranlagungen vor, doch ergebe sich aus den Steuererklärungen, dass die Steuern für beide Jahre nur 1.514,32 € betrügen. Sie beantragten daher den Erlass der überschießenden Beträge. In den Folgejahren sind die Kläger davon ausgegangen, die Bescheide für 2000 und 2001 seien bestandskräftig geworden.
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Am 28. Dezember 2007 reichten die Kläger dem FA die Ablichtung eines auf den 31. Oktober 2002 datierten Schreibens vor, ausweislich dessen der Kläger Einspruch gegen einen Vorauszahlungsbescheid und den Einkommensteuer-Bescheid für 2000 vom 30. September 2002 sowie gegen den Umsatzsteuer-Bescheid vom 8. Oktober 2002 eingelegt habe. Ferner reichten sie im März 2008 eine eidesstattliche Versicherung einer Zeugin zum Einwurf des Einspruchsschreibens in den Postkasten des FA am 31. Oktober 2002 ein. Das FA verwarf unter dem 17. Juli 2008 den Einspruch als unzulässig. Ein Schreiben vom 31. Oktober 2002 sei nicht zu den Akten gelangt, der fristgerechte Zugang des Einspruchs nicht erwiesen.
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Im Klageverfahren machten die Kläger geltend, sie seien jahrelang selbst von der Bestandskraft des Bescheides ausgegangen, weil sie von dem damals zuständigen Mitarbeiter des Steuerberaters die Auskunft erhalten hätten, dass sie nicht nur gegen den Einkommensteuer-Bescheid, sondern auch gegen die Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung Einspruch hätten einlegen müssen. Erst nach Aufklärung über diesen Irrtum hätten sie den Einspruch gegen den Bescheid weiterverfolgt und deswegen auch erst so spät die eidesstattliche Versicherung der Zeugin vorgelegt.
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Mit Beschluss vom 20. Mai 2009 übertrug der Senat des FG das Verfahren dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung. Ausweislich eines Aktenvermerks wurde der Beschluss am 25. Mai 2009 versandt. In den Akten befindet sich darüber hinaus ein Sendebericht ebenfalls vom 25. Mai 2009, wonach ein Telefax von insgesamt drei Seiten an eine Telefaxnummer, die der in dessen Briefkopf angegebenen Telefaxnummer des damaligen Bevollmächtigten entspricht, erfolgreich "vermittelt" worden sei. Mit Telefaxschreiben vom 28. Mai 2009, dem Bevollmächtigten zugegangen laut Empfangsbekenntnis am selben Tage, lud das FG zur mündlichen Verhandlung vor dem Einzelrichter.
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Das FG hat in der Verhandlung in Anwesenheit des Bevollmächtigten durch Vernehmung der Zeugin Beweis erhoben und die Klage abgewiesen. Es hat unter anderem ausgeführt, es sei nicht vorstellbar, dass die Kläger über Jahre Vollstreckungsversuche aus den streitigen Steuerforderungen hinnähmen, einen Erlassantrag stellen ließen und in einem Zivilverfahren betreffend Honoraransprüche ihres Steuerberaters weiterhin von Bestandskraft ausgingen, ohne auf den noch offenen Einspruch aufmerksam zu werden. Mit einem Missverständnis hinsichtlich der Bedeutung der Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung sei dies nicht zu erklären, da die Kläger zumindest zeitweise steuerlich beraten gewesen seien. Die Zeugin habe den Einwurf des Einspruchsschreibens nicht sicher bestätigen können.
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Mit der Nichtzulassungsbeschwerde machen die Kläger zum einen geltend, das FG-Urteil leide an einem Verfahrensmangel gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Es habe zu Unrecht der Einzelrichter statt des Senats entschieden. Ein Beschluss nach § 6 FGO sei nicht wirksam bekannt gegeben worden; jedenfalls hätten weder die Kläger noch der Bevollmächtigte einen solchen erhalten.
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Zum anderen beanstanden die Kläger, das FG habe den Sachverhalt nicht hinreichend aufgeklärt. Der Beweis über den Zugang eines Steuerbescheides könne auf Indizien gestützt werden. Der Kläger habe in seinem Schreiben vom 4. Januar 2003 ausdrücklich auf seinen Einspruch vom 31. Oktober 2002 Bezug genommen. Dieses Schreiben sei ausweislich des Antwortschreibens des FA vom 6. Februar 2003 auch zugegangen und als Antrag auf Vollstreckungsaufschub gewertet worden. Diese Vorgänge seien im Urteil nicht erörtert worden. Ebenso wenig sei erörtert worden, ob weitere Ermittlungen zum Verbleib des Einspruchs beim FA stattgefunden haben, ob er möglicherweise in eine andere Akte geraten sei, zumal der Einspruch sich nicht nur gegen den Einkommensteuer-Bescheid, sondern auch gegen einen Umsatzsteuer-Bescheid gerichtet habe.
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Die Rechtssache habe außerdem grundsätzliche Bedeutung, da sich die Beweislast für den Zugang des Einspruchs umkehren könne, wenn die weiteren Möglichkeiten zur Ermittlung des Sachverhalts in der Sphäre des FA lägen.
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Das FA tritt der Nichtzulassungsbeschwerde entgegen. Der Beschluss betreffend die Übertragung des Rechtsstreits auf den Einzelrichter sei spätestens mit Durchführung der mündlichen Verhandlung vor dem Einzelrichter formlos bekannt gegeben worden. Seiner Sachaufklärungspflicht sei das FG nachgekommen; es habe festgestellt, dass der Einspruch sich nicht in den Akten befinde. Zudem hätten die Kläger einen etwaigen Verstoß nicht gerügt. Welcher konkreten Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung zukomme, sei nicht hinreichend dargestellt.
Entscheidungsgründe
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II. Die Beschwerde ist zulässig und begründet.
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1. Unbegründet ist die auf die Einzelrichterentscheidung bezogene Verfahrensrüge nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO i.V.m. § 119 Nr. 1 FGO. Der Einzelrichter war gesetzlicher Richter.
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Zur Wirksamkeit eines Beschlusses nach § 6 FGO genügt die formlose Bekanntgabe (Beschlüsse des Bundesfinanzhof --BFH-- vom 10. August 1994 II R 29/94, BFHE 175, 16, BStBl II 1994, 862; vom 10. September 1996 IV R 51/94, BFH/NV 1997, 242, und vom 14. Juni 2006 V B 193/05, BFH/NV 2006, 1854). Diese ist erfolgt. Zum einen kommt für das dem Bevollmächtigten am 25. Mai 2009 erfolgreich übermittelte Telefax nach Aktenlage mangels anderer zu übermittelnder Schriftstücke lediglich dieser Beschluss in Betracht. Zum anderen ergab sich die Übertragung auf den Einzelrichter aus der Ladung, deren Zugang durch Empfangsbekenntnis nachgewiesen ist.
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2. Begründet sind die weiteren Verfahrensrügen; die Entscheidung verstößt gegen den klaren Inhalt der Akten und gegen die Sachaufklärungspflicht nach § 76 FGO. Auf diesen Verfahrensmängeln i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO kann die Entscheidung beruhen.
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Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 1. Halbsatz FGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Zum Gesamtergebnis des Verfahrens gehört auch die Auswertung des Inhalts der dem Gericht vorliegenden Akten. Ein Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten liegt vor, wenn das FG seiner Entscheidung einen Sachverhalt zu Grunde gelegt hat, der dem schriftlichen oder protokollierten Vorbringen der Beteiligten nicht entspricht, oder wenn es eine nach den Akten klar feststehende Tatsache unberücksichtigt gelassen hat und die angefochtene Entscheidung darauf beruht (vgl. Senatsurteil vom 30. Juli 2003 X R 7/99, BFHE 204, 419, BStBl II 2004, 408, m.w.N.).
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Nach § 76 Abs. 1 Satz 1, 5 FGO erforscht das Gericht den Sachverhalt von Amts wegen und ist an das Vorbringen und an die Beweisanträge der Beteiligten nicht gebunden. Allerdings haben nach § 76 Abs. 1 Satz 2, 3 FGO die Beteiligten bei der Sachaufklärung mitzuwirken. Kommen sie dieser Pflicht nicht nach, reduziert sich die Ermittlungspflicht des FG. Stellen Beteiligte, die in der mündlichen Verhandlung rechtskundig vertreten sind, keine auf eine weitere Sachaufklärung gerichteten Anträge, kommt eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht nur in Betracht, wenn sich dem FG eine weitere Sachaufklärung auch ohne Antrag hätte aufdrängen müssen (ständige Rechtsprechung des BFH, vgl. u.a. Senatsbeschluss vom 25. März 2010 X B 176/08, BFH/NV 2010, 1455, m.w.N.).
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a) Das FG hat es zu Unrecht unterlassen, dem Inhalt und dem Verbleib des Schreibens vom 4. Januar 2003 nachzugehen.
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Zwar befindet sich das im Beschwerdeverfahren im Wege neuen --unzulässigen-- Sachvortrages vorgelegte Schreiben vom 4. Januar 2003 nicht in den Akten, die dem FG vorgelegen haben. Jedoch enthalten die Einkommensteuer-Akten einen Hinweis auf ein solches Schreiben und dessen Inhalt. Mit Schreiben vom 13. April 2008, eingegangen beim FA am 30. April 2008 (Bl. 43 der Einkommensteuer-Akten) hatte der Kläger persönlich ausgeführt, es treffe nicht zu, dass er sich innerhalb eines Jahres ("ab Einreichung meines Einspruchs vom 31.10.2002") nicht beim FA gemeldet hätte. Er verweise auf sein Schreiben vom 4. Januar 2003 als Antwort auf ein Schreiben des FA vom Vortage, auf ein Gespräch an Amtsstelle vom 24. März 2003 sowie auf seine Schreiben vom 27. März 2003 und vom 16. August 2003. Die Ausführungen "innerhalb eines Jahres" bezogen sich erkennbar darauf, dass das FA in einem Schreiben vom 27. März 2008 den Klägern mitgeteilt hatte, entscheidend sei, dass er sich innerhalb eines Jahres nicht mehr beim FA gemeldet habe.
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Aufgrund dieses Anhaltspunktes hätte das FG durch entsprechende Aufklärungsverfügung und ggf. Beiziehung der betreffenden Akten der Frage nachgehen müssen, ob die in dem Schreiben vom 13. April 2008 genannten Schreiben aus dem Jahre 2003 bei dem FA eingegangen waren, welchen Inhalt sie hatten und ob hieraus Erkenntnisse über den streitigen Zugang des Einspruchs zu gewinnen waren. Das Schreiben vom 13. April 2008 enthielt zwar keine genaue Beschreibung des Inhalts der darin zitierten Schreiben. Da aber das FG seine Entscheidung wesentlich auf das Verhalten der Kläger im Rahmen des Vollstreckungsverfahrens gestützt hat, hatte es Existenz und Inhalt dieser Schreiben zu überprüfen.
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Die Nachforschung nach diesen Schreiben musste sich dem FG aufdrängen, so dass die Kläger ihr diesbezügliches Rügerecht durch rügelose Verhandlung nicht verloren haben.
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Die Entscheidung kann i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO auf diesem Aufklärungsmangel beruhen. Sollte sich herausstellen, dass der Kläger zwischen dem Erlass des Bescheides vom 30. September 2002 und der Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung vom 25. Juni 2003 auf einen (fristgerechten) Einspruch hingewiesen hat, anschließend jedoch nicht mehr, so erscheint die weitere Einlassung der Kläger, sie hätten später jahrelang nicht mehr auf den Einspruch hingewiesen, da sie hinsichtlich der Bedeutung der Aufhebung des Nachprüfungsvorbehalts geirrt hätten, möglicherweise in einem anderen Licht.
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b) Das gilt insbesondere angesichts des Umstandes, dass das FG den Vortrag der Kläger, sie seien auf Grund einer Fehlinformation ihres Steuerberatungsbüros von der Bestandskraft der Bescheide ausgegangen, nicht in die Gesamtwürdigung des Sachverhalts einbezogen hat.
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Das FG hat seine Entscheidung im Wesentlichen darauf gestützt, ein Irrtum der Kläger über die Bestandskraft der Bescheide sei schon deshalb nicht vorstellbar, weil die Kläger steuerlich beraten gewesen seien. Den Vortrag der Kläger, gerade der steuerliche Berater oder ein Mitarbeiter des Büros habe eine entsprechende fehlerhafte Auskunft erteilt, hat es dagegen weder näher geprüft noch in seine Abwägung einbezogen.
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Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die behaupteten Fehlinformationen bei den Klägern zu einem Irrtum geführt haben, mit der nicht angefochtenen Aufhebung des Nachprüfungsvorbehalts habe sich der Einspruch gegen den unter dem Vorbehalt der Nachprüfung stehenden Bescheid erledigt. Gelegentlich wird die Auffassung vertreten, dass nicht der unter dem Vorbehalt stehende Bescheid, sondern der Bescheid über die Aufhebung des Vorbehalts verfahrensrechtlich "das Wesentliche" sei und angefochten werden müsse. Dies beruht vermutlich auf dem Umstand, dass bis zur Aufhebung des Nachprüfungsvorbehalts eine Änderung auf Antrag jederzeit möglich ist. Vor diesem Hintergrund ist es nicht von vornherein ausgeschlossen, dass es die von den Klägern behauptete Falschinformation seitens des Steuerbüros oder ein auf einer entsprechenden unklaren Information beruhendes Missverständnis auf seiten der Kläger gegeben hat. Das FG hätte diese Möglichkeit daher in Betracht ziehen müssen.
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3. Ob die Überlegungen der Kläger zu einer aus dem Sphärengedanken folgenden Umkehr der Beweislast hinsichtlich des Zugangs des Einspruchsschreibens zu einer Zulassung der Beschwerde wegen grundsätzlicher Bedeutung i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO führen könnten, bedarf vor diesem Hintergrund keiner Entscheidung mehr.
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4. Der Senat hebt gemäß § 116 Abs. 6 FGO das angefochtene Urteil auf und verweist den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurück.
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Referenzen
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- 1994 II R 29/94 1x (nicht zugeordnet)
- FGO § 76 3x
- FGO § 115 4x
- 1996 IV R 51/94 1x (nicht zugeordnet)
- FGO § 116 1x
- FGO § 96 1x
- 2010 X B 176/08 1x (nicht zugeordnet)
- 2003 X R 7/99 1x (nicht zugeordnet)
- 2006 V B 193/05 1x (nicht zugeordnet)
- FGO § 119 1x