Beschluss vom Bundesgerichtshof (9. Zivilsenat) - IX ZB 34/16
Tenor
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Auf die Rechtsbeschwerde des Beklagten wird der Beschluss der 4. Zivilkammer des Landgerichts Bremen vom 5. April 2016 in der Fassung vom 22. Juni 2016 aufgehoben.
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Die Sache wird zur erneuten Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens - an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
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Die gerichtlichen Kosten des Rechtsbeschwerdeverfahrens bleiben außer Ansatz (§ 21 Abs. 1 Satz 1 GKG).
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Der Streitwert wird auf 1.048,15 € festgesetzt.
Gründe
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I.
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Die klagende Versicherungsgesellschaft nimmt den beklagten Rechtsanwalt auf Erstattung von Vorschusszahlungen in Anspruch, die sie an ihn für die Vertretung einer Versicherungsnehmerin in einem gerichtlichen Verfahren entrichtet hatte. Das Amtsgericht hat den Beklagten mit Urteil vom 25. Juni 2014 zur Zahlung von 1.048,15 € nebst Zinsen sowie vorgerichtlicher Kosten von 98,55 € verurteilt. Gegen das ihm am 7. Juli 2014 zugestellte Urteil hat der Beklagte mit Schriftsatz vom 5. August 2016, der am selben Tag bei dem Landgericht Bremen eingegangen ist, Berufung eingelegt. Durch am 4. September 2014 verfassten und dem Landgericht zugegangenen Schriftsatz hat er unter Hinweis auf urlaubsbedingte Abwesenheit und damit einhergehende Arbeitsüberlastung beantragt, die Berufungsbegründungsfrist um einen Monat zu verlängern. Schließlich hat der Kläger mit Schriftsatz vom 7. Oktober 2014, ebenfalls an diesem Tage bei dem Landgericht eingegangen, die Berufung begründet und die Abweisung der Klage beantragt. Das Landgericht hat den Parteien durch Hinweisbeschluss vom 8. Juni 2015 mitgeteilt, dass es die Berufung des Beklagten als begründet erachte, und den Abschluss eines Vergleichs vorgeschlagen.
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Durch Verfügung vom 8. März 2016 hat der Vorsitzende der Berufungskammer den Beklagten dahin unterrichtet, dass der Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist nicht bewilligt worden sei, weil sich die Akte noch bei dem Amtsgericht befunden habe. Folglich sei die Berufung nicht rechtzeitig begründet worden. Diese Verfügung ist dem Beklagten am 29. März 2016 zugegangen. Mit am 7. April 2016 verfassten und beim Landgericht eingegangenen Schriftsatz hat der Beklagte einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist gestellt und begründet. Zwischenzeitlich hat das Landgericht die Berufung des Beklagten durch Beschluss vom 5. April 2016 als unzulässig verworfen. Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Beklagten.
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II.
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Die Rechtsbeschwerde ist gemäß § 522 Abs. 1 Satz 4, § 574 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO statthaft. Sie ist auch im Übrigen zulässig, denn die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erfordert eine Entscheidung des Senats (§ 574 Abs. 2 Nr. 2 ZPO). Der angefochtene Beschluss verletzt den Kläger in seinem verfassungsrechtlich gewährleisteten Anspruch auf Gewährung wirkungsvollen Rechtsschutzes (vgl. Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip). Dieser verbietet es, einer Partei den Zugang zu einer in der Verfahrensordnung eingeräumten Instanz aufgrund von Anforderungen zu versagen, die nach höchstrichterlicher Rechtsprechung nicht verlangt werden und mit denen die Partei auch unter Berücksichtigung der Entscheidungspraxis des angerufenen Gerichts nicht rechnen musste (BGH, Beschluss vom 15. März 2005 - VI ZB 83/04, NJW-RR 2005, 792 mwN).
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1. Das Berufungsgericht hat gemeint, die Berufung des Beklagten sei unzulässig, weil sie nicht fristgerecht begründet worden sei. Da die Berufungsbegründungsfrist nicht verlängert worden sei, sei die Frist zur Begründung der Berufung mit Ablauf des 7. September 2014 verstrichen. Binnen dieser Frist sei keine Berufungsbegründung eingegangen. Vielmehr sei die Berufungsbegründung erst nach Fristablauf am 7. Oktober 2014 eingereicht worden.
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2. Diese Ausführungen halten rechtlicher Prüfung nicht stand.
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a) Das Berufungsgericht hat nicht beachtet, dass die Berufung des Beklagten nur dann wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist als unzulässig verworfen werden durfte, wenn sein Antrag auf Verlängerung dieser Frist abgelehnt worden war (BGH, Beschluss vom 3. Februar 1988 - IVb ZB 19/88, NJW-RR 1988, 581; vom 5. April 2001 - VII ZB 37/00, NJW-RR 2001, 931; vom 15. März 2005, aaO). Über die beantragte Fristverlängerung hat gemäß § 520 Abs. 2 Satz 2 ZPO der Vorsitzende des Berufungsspruchkörpers zu entscheiden. An einer ablehnenden - ebenso wie einer stattgebenden - Entscheidung fehlt es indessen.
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Eine Entscheidung über den Verlängerungsantrag ist durch den Vorsitzenden nicht ergangen. Entsprechend seiner Mitteilung vom 8. März 2016 ist die beantragte Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist nicht bewilligt worden, weil sich die Akte nach Eingang des Antrags noch bei dem Amtsgericht befunden hat. Demgemäß hat der Vorsitzende zwar keine Fristverlängerung gewährt, diese aber auch nicht abgelehnt. In dem Hinweis, dass dem Antrag nicht entsprochen worden sei, liegt keine Ablehnung der begehrten Fristverlängerung (BGH, Beschluss vom 15. März 2005, aaO S. 793). Eine Entscheidung über den Antrag auf Verlängerung einer Berufungsbegründungsfrist kann grundsätzlich auch nach deren Ablauf ergehen, sofern der Antrag rechtzeitig gestellt worden ist (BGH, Urteil vom 30. September 1987 - IVb ZR 86/86, BGHZ 102, 37, 40; Beschluss vom 15. März 2005, aaO). Im Streitfall ist der Verlängerungsantrag fristgerecht am 4. September 2014 vor Ablauf der am Montag, dem 8. September 2014 endenden Berufungsbegründungsfrist angebracht worden. Bei dieser Sachlage ist die Sache an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, um eine Entscheidung über das Fristverlängerungsgesuch zu treffen.
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b) Sollte eine Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist bis zum 7. Oktober 2014 im Streitfall ungeachtet der geltend gemachten erheblichen Gründe abgelehnt werden, würde sich die Frage einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand stellen, die gemäß § 236 Abs. 2 ZPO auch von Amts wegen zu gewähren sein kann (BGH, Beschluss vom 15. März 2005 aaO).
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aa) Vorliegend durfte sich der Beklagte für die Entscheidung über seinen Berufungsbegründungsfristverlängerungsantrag auf die gefestigte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs verlassen, wonach seinem ersten Fristverlängerungsantrag auf der Grundlage der geltend gemachten Gründe hätte stattgegeben werden müssen.
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Zwar muss der Rechtsmittelführer grundsätzlich damit rechnen, dass der Vorsitzende des Rechtsmittelgerichts in Ausübung seines pflichtgemäßen Ermessens eine beantragte Verlängerung der Rechtsmittelbegründungsfrist versagt. Der Rechtsanwalt kann jedoch nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs im Allgemeinen erwarten, dass einem ersten Verlängerungsantrag dann entsprochen wird, wenn ein erheblicher Grund (§ 520 Abs. 2 Satz 3 ZPO) vorgetragen wird (vgl. BGH, Beschluss vom 18. September 2001 - VI ZB 26/01, VersR 2001, 1579, 1580; vom 21. Februar 2000 - II ZB 16/99, VersR 2000, 1433, 1434; vom 1. August 2001 - VIII ZB 24/01, VersR 2002, 1576; vom 13. Dezember 2005 - VI ZB 52/05, VersR 2006, 568 Rn. 6; vom 16. Oktober 2007 - VI ZB 65/06, NJW-RR 2008, 367 Rn. 9). Der erstmalige Antrag auf Verlängerung der Berufungsbegründungsfrist war auf die als erheblich anerkannten Gründe der Arbeitsüberlastung (BGH, Beschluss vom 7. Mai 1991 - XII ZB 48/91, NJW 1991, 2080, 2081; vom 13. Dezember 2005, aaO; vom 10. März 2009 - VIII ZB 55/06, NJW-RR 2009, 933 Rn. 12) sowie der Urlaubsabwesenheit (BGH, Beschluss vom 7. Mai 1991, aaO; vom 10. März 2009, aaO; vom 5. Juni 2012 - VI ZB 16/12, NJW 2012, 2522 Rn. 7) gestützt worden. Mithin durfte der Beklagte darauf vertrauen, dass seinem Gesuch entsprochen wird.
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bb) Entgegen der Auffassung der Klägerin war der Beklagte nicht verpflichtet, sich vor Ablauf der Berufungsbegründungsfrist über eine Verlängerung dieser Frist durch Nachfrage bei Gericht zu vergewissern.
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Eine Nachfragepflicht kommt nur ausnahmsweise in Betracht, wenn hierfür ein konkreter Anlass besteht. Ein solcher konkreter Anlass ist nicht schon dann gegeben, wenn der Anwalt in der noch laufenden Berufungsbegründungsfrist noch keine auf seinen Schriftsatz bezogene Verfügung des Gerichts erhält. Der Rechtsanwalt muss sich nicht darüber vergewissern, ob seinem Antrag stattgegeben wurde. Für eine solche Rückfrage besteht kein erkennbarer Anlass, wenn der Anwalt - wie im Streitfall - mit der Verlängerung der Frist rechnen konnte (BGH, Beschluss vom 11. November 1998 - VIII ZB 24/98, VersR 1999, 1559, 1560; vom 13. Dezember 2005 - VI ZB 52/05, VersR 2006, 568 Rn. 7; vom 16. Oktober 2007 - VI ZB 65/06, NJW-RR 2008, 367 Rn. 9; vom 5. Juni 2012, aaO Rn. 11). Über einen rechtzeitig bei Gericht eingegangen Fristverlängerungsantrag kann - wie ausgeführt - auch noch nach Ablauf der Frist entschieden werden, so dass nicht entscheidend ist, ob der Antrag am letzten Tag der Frist tatsächlich bearbeitet worden wäre (BGH, Beschluss vom 13. Dezember 2005, aaO). Mithin dürfte den Beklagten kein Verschulden an der Versäumung der Berufungsbegründungsfrist treffen.
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cc) Die versäumte Rechtshandlung wurde jedenfalls mit der am 7. Oktober 2014 bei dem Landgericht eingegangenen Berufungsbegründung innerhalb der insoweit maßgeblichen Frist von einem Monat (§ 236 Abs. 2 Satz 2, § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO) nach Ende der am 8. September 2014 abgelaufenen Berufungsbegründungsfrist nachgeholt.
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dd) Nachdem dem Beklagten am 29. März 2016 die gerichtliche Verfügung vom 8. März 2016 über die Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zugegangen ist, hat er am 7. April 2016 innerhalb der Frist von einem Monat (§ 236 Abs. 2 Satz 2, § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO) nach Wegfall des Hindernisses (§ 234 Abs. 2 ZPO) einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt. Die Gewährung von Wiedereinsetzung scheitert nicht daran, dass vom Ende der versäumten Frist am 8. September 2014 bis zur Stellung des Wiedereinsetzungsantrags am 7. April 2016 ein Zeitraum von einem Jahr verstrichen war (§ 234 Abs. 3 ZPO).
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Dem Beklagten ist Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bereits gemäß § 236 Abs. 2 Halbs. 2 ZPO von Amts wegen zu gewähren, ohne dass es auf die Beachtung der Jahresfrist des § 234 Abs. 3 ZPO ankommt (vgl. Prütting/Gehrlein/Milger/Kazele, ZPO, 8. Aufl., § 234 Rn. 17). Eines fristgebundenen Wiedereinsetzungsantrags bedurfte es nicht, weil der Beklagte mit seinem Schriftsatz vom 7. Oktober 2014 die versäumte Prozesshandlung innerhalb der Frist des § 234 Abs. 1 Satz 2 ZPO nachgeholt hatte und die Gründe für die unverschuldete Fristversäumung aktenkundig waren (BGH, Beschluss vom 24. Mai 2000 - III ZB 8/00, NJW-RR 2000, 1590; vom 19. Dezember 2012 - XII ZB 169/12, NJW 2013, 471 Rn. 17). Im Streitfall sind diese Voraussetzungen erfüllt, weil das Gericht den rechtzeitig eingelegten Fristverlängerungsantrag nicht rechtzeitig beschieden hat, der Anwalt aber nach den von ihm dargelegten Gründen davon ausgehen durfte, dass seinem Gesuch stattgegeben wird.
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Kayser
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