Beschluss vom Bundessozialgericht (1. Senat) - B 1 KR 24/12 B

Tenor

Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 20. Dezember 2011 wird als unzulässig verworfen.

Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe

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I. Die bei der beklagten Krankenkasse versicherte Klägerin beantragte, die Kosten für eine stationäre Behandlung im B Hospital in London zu übernehmen (27.1.1997). Es behandelte sie vom 10.2. bis 2.3.1997 wegen Multipler Chemikalienunverträglichkeit (Multiple Chemical Sensitivity - MCS). Die Klägerin ist mit ihrem Begehren auf Erstattung der nicht bezifferten Kosten dieser Behandlung und Übernahme der Kosten zukünftiger Behandlungen durch das B Hospital oder das E Health Center in D (USA) bei der Beklagten und in den Vorinstanzen ohne Erfolg geblieben. Das LSG hat zur Begründung ua ausgeführt, aufgrund der eingeholten Sachverständigengutachten stehe zur Überzeugung des Senats fest, dass weder MCS als Krankheitsbild noch die von der Klägerin begehrten - in den von ihr genannten beiden Kliniken angewandten - Behandlungsmethoden der Klinischen Ökologie anerkannt seien. Aber selbst wenn die Klägerin an MCS leide, gebe es für sie eine ausreichende inländische Behandlungsalternative. Deswegen scheide eine Kostenübernahme sowohl nach § 13 Abs 3 SGB V hinsichtlich des B Hospitals als auch nach § 18 Abs 1 SGB V hinsichtlich des E Health Center aus (Urteil vom 20.12.2011).

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Die Klägerin wendet sich mit ihrer Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG.

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II. Die Beschwerde der Klägerin ist unzulässig und daher gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 SGG iVm § 169 S 3 SGG zu verwerfen. Ihre Begründung entspricht nicht den aus § 160a Abs 2 S 3 SGG abzuleitenden Anforderungen an die Darlegung der geltend gemachten Revisionszulassungsgründe der grundsätzlichen Bedeutung (dazu 1.), der Divergenz (dazu 2.) und des Verfahrensmangels (dazu 3.) nach § 160 Abs 2 SGG.

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1. Wer sich - wie hier die Klägerin - auf den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) beruft, muss eine Rechtsfrage klar formulieren und ausführen, inwiefern diese Frage im angestrebten Revisionsverfahren entscheidungserheblich sowie klärungsbedürftig und über den Einzelfall hinaus von Bedeutung ist (vgl zB BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 21 S 38; BSG SozR 3-4100 § 111 Nr 1 S 2 f; s auch BSG SozR 3-2500 § 240 Nr 33 S 151 f mwN). Die Beschwerdebegründung genügt dem nicht.

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a) Die Klägerin stellt die Rechtsfrage,

        

"ob eine nach deutschen Maßstäben für nicht schulmedizinisch erachtete Behandlungsmethode bzw ein stationärer Aufenthalt (hier im B Hospital) nach § 2 Abs 1a SGB V von der gesetzlichen Krankenversicherung zur Verfügung zu stellen ist, wenn eine schulmedizinische Behandlung (hier die fehlende schulmedizinische Behandelbarkeit der Klägerin hinsichtlich ihrer Unverträglichkeit von Narkotika und Notfallmedikamenten) in Deutschland nicht zur Verfügung steht, aber im Ausland (hier die Miller-Technik bzw low-dose-immuno-therapy im B Hospital in London bzw im E Health Center in den USA)".

 Die Klägerin legt die Entscheidungserheblichkeit der Rechtsfrage nicht dar. Der Beschwerdebegründung ist nämlich nicht zu entnehmen, dass es auf die Beantwortung dieser Frage in einem nachfolgenden Revisionsverfahren ankommen kann (vgl hierzu BSG Beschluss vom 22.4.2010 - B 1 KR 145/09 B - Juris RdNr 7). Die Klägerin verbindet die Rechtsfrage mit der tatsächlichen Unterstellung, dass es keine zumutbare inländische Behandlungsalternative gebe. Demgegenüber hat das LSG eine solche bejaht. Die Klägerin bezeichnet nicht in zulässiger Weise hiergegen gerichtete Verfahrensrügen (vgl dazu II 3).

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Die Klägerin legt auch die Klärungsbedürftigkeit der Frage nicht dar. Das Bedürfnis für die Klärung einer Rechtsfrage in einem Revisionsverfahren fehlt, wenn ihre Beantwortung nach der dazu ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung keinem vernünftigen Zweifel unterliegt, die Frage also "geklärt ist" (vgl zB BSG Beschluss vom 21.10.2010 - B 1 KR 96/10 B - RdNr 7 mwN). Eine Rechtsfrage, über die bereits höchstrichterlich entschieden worden ist, kann dennoch klärungsbedürftig sein, wenn der Rechtsprechung in nicht geringfügigem Umfang widersprochen wird und gegen sie nicht von vornherein abwegige Einwendungen vorgebracht werden (vgl zB BSG SozR 1500 § 160a Nr 13 S 19 mwN), was im Rahmen der Beschwerdebegründung ebenfalls darzulegen ist (vgl zum Ganzen auch BSG Beschluss vom 22.12.2010 - B 1 KR 100/10 B - RdNr 7). Die Klägerin legt nicht dar, dass nach der zu § 13 und § 18 SGB V ergangenen höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl BSGE 106, 81 = SozR 4-1500 § 109 Nr 3, RdNr 29 ff mwN; BSG SozR 4-2500 § 13 Nr 24 RdNr 26 f mwN) noch Klärungsbedarf hinsichtlich des Anspruchs Versicherter auf Behandlung in Einrichtungen außerhalb des Gebiets der Bundesrepublik Deutschland in Fällen der grundrechtsorientierten Auslegung des Leistungskatalogs der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) verbleibt. Sie legt auch nicht hinreichend dar, inwieweit § 2 Abs 1a SGB V zu einem weiteren Klärungsbedarf führen könnte. Insbesondere setzt sie sich nicht damit auseinander, dass die Regelung lediglich den "Geltungsumfang des sog. Nikolausbeschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 6. Dezember 2005 (1 BvR 347/98) für das Leistungsrecht der gesetzlichen Krankenversicherung insgesamt" klarstellt (BT-Drucks 17/6906 S 52).

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b) Die Klägerin erfüllt die gesetzlichen Darlegungserfordernisse selbst dann nicht, wenn man ihren Ausführungen sinngemäß die folgende Rechtsfrage entnehmen wollte:

        

Besteht ein Anspruch nach den Grundsätzen der grundrechtsorientierten Auslegung des GKV-Leistungskatalogs bzw - ab 1.1.2012 - nach § 2 Abs 1a SGB V bereits dann, wenn der Versicherte nicht aktuell an einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung oder an einer zumindest wertungsmäßig vergleichbaren Erkrankung leidet, aber wegen der Eigenart seiner Krankheit durch das nicht vorhersehbare, aber jederzeit mögliche Hinzutreten weiterer Umstände in eine derartige Situation geraten kann, wenn zugleich eine allgemein anerkannte, dem medizinischen Standard entsprechende Leistung nicht zur Verfügung steht, und die nicht entfernt liegende Aussicht besteht, dass die beanspruchte Behandlung im Ausland solchen potentiell lebensgefährlichen Situationen vorbeugen kann?

 Auch insoweit legt die Klägerin die Entscheidungserheblichkeit der Rechtsfrage wegen der vom LSG bejahten ausreichenden inländischen Behandlungsmöglichkeiten nicht dar (vgl dazu II 1 a).

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2. Die Klägerin legt eine Divergenz des Berufungsurteils zur Rechtsprechung des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) nicht hinreichend dar. Wer sich auf den Zulassungsgrund der Divergenz beruft, muss entscheidungstragende abstrakte Rechtssätze im Urteil des Berufungsgerichts einerseits und in einem Urteil des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG andererseits gegenüberstellen und Ausführungen dazu machen, weshalb beide miteinander unvereinbar sein sollen (vgl BSG Beschluss vom 19.9.2007 - B 1 KR 52/07 B). Eine Abweichung liegt nicht schon dann vor, wenn das LSG einen Rechtssatz nicht beachtet oder unrichtig angewandt hat, sondern erst dann, wenn es diesem Rechtssatz widersprochen, also einen anderen Rechtssatz aufgestellt und angewandt hat; nicht die Unrichtigkeit der Entscheidung im Einzelfall, sondern die Nichtübereinstimmung im Grundsätzlichen begründet die Zulassung der Revision wegen Divergenz (vgl zB BSG SozR 1500 § 160a Nr 14, 21, 29 und 67, s ferner BSG Beschluss vom 7.10.2009 - B 1 KR 15/09 B - RdNr 8). Diesen Anforderungen genügt die Beschwerdebegründung nicht. Die Klägerin bezeichnet keine Rechtssätze, die das LSG abweichend von Rechtssätzen im Beschluss des BVerfG vom 6.12.2005 formuliert hat, sondern macht lediglich geltend, das LSG habe die Vorgaben des BVerfG nicht beachtet und ihren konkreten Fall falsch entschieden.

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3. Die Klägerin bezeichnet auch einen Verstoß gegen § 103 SGG nicht in der gebotenen Weise. Nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist eine Revision zuzulassen, wenn ein Verfahrensmangel geltend gemacht wird, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann; der Verfahrensmangel kann nicht auf eine Verletzung von § 109 SGG und § 128 Abs 1 S 1 SGG (Grundsatz der freien richterlichen Beweiswürdigung) und auf eine Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsgrundsatz) nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG). Um einen Verfahrensmangel in diesem Sinne geltend zu machen, müssen die Umstände bezeichnet werden, die den entscheidungserheblichen Mangel ergeben sollen (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG und hierzu zB BSG Beschluss vom 10.8.2007 - B 1 KR 58/07 B - Juris RdNr 4 mwN). Wer sich auf eine Verletzung der Amtsermittlungspflicht nach § 103 SGG stützt, muss daher (1) einen für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrag bezeichnen, (2) die Rechtsauffassung des LSG wiedergeben, aufgrund der bestimmte Tatsachen als klärungsbedürftig hätten erscheinen müssen, (3) die von dem betreffenden Beweisantrag berührten Tatumstände darlegen, die zu weiterer Sachaufklärung Anlass gegeben hätten, (4) das voraussichtliche Ergebnis der unterbliebenen Beweisaufnahme angeben und (5) schildern, dass und warum die Entscheidung des LSG auf dem angeblich fehlerhaften Unterlassen der Beweisaufnahme beruhen kann, das LSG mithin bei Kenntnis des behaupteten Ergebnisses der unterlassenen Beweisaufnahme von seinem Rechtsstandpunkt aus zu einem anderen, dem Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis hätte gelangen können (vgl zB BSG Beschluss vom 20.7.2010 - B 1 KR 29/10 B - RdNr 5 mwN; BSG Beschluss vom 1.3.2011 - B 1 KR 112/10 B - Juris RdNr 3 mwN; s ferner BSG SozR 1500 § 160 Nr 5, 35, 45 und § 160a Nr 24, 34).

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Die Klägerin erfüllt mit ihrem Vorbringen nicht diese Anforderungen an die Darlegung eines Verfahrensfehlers. Sie verweist zwar auf den von ihr in der mündlichen Verhandlung vor dem LSG hilfsweise gestellten Antrag auf "Einholung eines weiteren Sachverständigengutachtens nach § 106 SGG nach persönlicher Untersuchung zur Frage, inwieweit eine hinreichende Ausschlussdiagnostik bei der Klägerin erfolgt ist bzw. inwieweit durch andere medizinische Behandlungen die Erkrankungen der Klägerin geheilt werden können". Der Senat lässt die Frage offen, ob die Klägerin mit diesen Ausführungen einen formellen Beweisantrag iS von §§ 373, 404 ZPO iVm § 118 SGG gestellt hat (zu diesem Erfordernis vgl zB BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 9; BSG Beschluss vom 14.5.2007 - B 1 KR 21/07 B - Juris RdNr 18). Dies ist mit Blick auf die Formulierung des Beweisthemas zweifelhaft. Hinsichtlich des ersten Teils des Antrags verdeutlicht die Klägerin jedenfalls nicht, warum das LSG im Falle des Ausschlusses sonstiger Krankheitsursachen zu einem anderen, der Klägerin günstigeren Ergebnis hätte gelangen können, obwohl es zugunsten der Klägerin eine MCS unterstellt hat. Die Klägerin gibt hinsichtlich des zweiten Teils des Antrags (Heilung durch andere medizinische Behandlungen) nicht hinreichend die Rechtsauffassung des LSG wieder, aufgrund der bestimmte Tatsachen als klärungsbedürftig hätten erscheinen müssen. Im Übrigen rügt die Klägerin im Kern - in nach § 160 Abs 2 Nr 3 SGG unerheblicher Weise - nur die freie Beweiswürdigung des LSG, indem sie sich dagegen wendet, dass das LSG nicht erkannt habe, dass sie gegenüber Anästhetika und Notfallmedikamenten Unverträglichkeitsreaktionen zeige, denen andere als die beantragten Behandlungseinrichtungen nicht präventiv durch Hyposensibilisierungen begegnen könnten. Die Klägerin führt in diesem Zusammenhang in der Beschwerdebegründung selbst aus: "Wenn das Gericht … davon ausging, dass entsprechende Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten im schulmedizinischen Bereich zur Verfügung stehen würden, ist dies offensichtlich vollkommen unhaltbar. Insofern liegt hier ein offensichtlicher Verfahrensmangel durch fehlerhafte Beweiswürdigung durch das Landessozialgericht Hamburg vor."

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4. Der Senat sieht von einer weiteren Begründung ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).

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5. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

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