Beschluss vom Bundessozialgericht (8. Senat) - B 8 SO 22/14 B

Tenor

Die Beschwerden der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in den Beschlüssen des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 3. September 2013 - L 8 SO 304/13, L 8 SO 310/13 und L 8 SO 312/13 - und vom 1. Oktober 2013 - L 8 SO 300/13, L 8 SO 301/13, L 8 SO 302/13, L 8 SO 303/13, L 8 SO 305/13, L 8 SO 306/13, L 8 SO 307/13, L 8 SO 308/13, L 8 SO 309/13, L 8 SO 311/13, L 8 SO 313/13 und L 8 SO 314/13 - werden zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.

Gründe

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I. Die Klägerin beantragte bei der Beklagten mit insgesamt zwölf Anträgen für die Zeit von Oktober 2011 bis November 2012 Leistungen für Unterkunft und Heizung für jeweils einen Monat (mit Ausnahme für Januar und Mai 2012) und mit drei weiteren Anträgen ergänzende Leistungen der Sozialhilfe. Die Beklagte leitete diese Anträge an das Jobcenter Osnabrück weiter, weil sie der Auffassung war, die Klägerin lebe in eheähnlicher Gemeinschaft mit einem erwerbsfähigen Hilfebedürftigen und sei deshalb von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) ausgeschlossen. Wegen der Nichtbescheidung durch die Beklagte hat die Klägerin in den Monaten Oktober 2012 bis Mai 2013 insgesamt 15 Untätigkeitsklagen beim Sozialgericht (SG) Osnabrück erhoben; im Laufe dieser Verfahren hat die Beklagte alle 15 Anträge abgelehnt (Bescheide vom 26.6.2013).

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Auf Anfragen des SG, "ob das Anerkenntnis angenommen werde und der Rechtsstreit damit seine Erledigung gefunden habe", teilte die Klägerin mit, sie nehme "ein Anerkenntnis" nicht an, weil nicht erkennbar sei, dass die Beklagte etwas anerkannt habe. Nach Anhörung der Beteiligten hat das SG die Klagen abgewiesen, weil Untätigkeit nicht mehr vorliege und ein Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin nicht mehr bestehe; die Kosten habe die Beklagte jeweils zur Hälfte zu erstatten (Gerichtsbescheide vom 22.7.2013). Gegen diese Gerichtsbescheide hat die Klägerin (mit einem Schriftsatz vom 28.7.2013) jeweils Berufung beim Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen eingelegt. Sie hat dabei jeweils beantragt, den Gerichtsbescheid aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, ihr die für das Verfahren entstandenen Kosten in voller Höhe zu erstatten, weil sie vollständig obsiegt habe und die Beklagte zur Erstellung des von ihr beantragten Bescheides verurteilt worden sei. Das LSG hat nach Anhörung die jeweilige Berufung mit Beschluss als unzulässig verworfen; der Entscheidung durch Beschluss stehe nicht entgegen, dass erstinstanzlich durch Gerichtsbescheid entschieden worden sei, weil die Klägerin sich lediglich gegen die Kostenentscheidung des SG wende (Beschlüsse vom 3.9.2013 und vom 1.10.2013).

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Gegen die Nichtzulassung der Revision in den Beschlüssen wendet sich die Klägerin mit ihren Beschwerden zum Bundessozialgericht (BSG), die der Senat zur gemeinsamen Entscheidung verbunden hat. Sie rügt Verfahrensmängel (§ 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz ). Eine verständige Würdigung ihres Vorbringens ergebe, dass sie nicht lediglich die Kostenentscheidungen des SG habe angreifen wollen, sondern sich gegen die klageabweisenden Entscheidungen des SG gewandt habe. Das LSG habe aus diesem Grund auch unter Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör durch Beschlüsse ohne mündliche Verhandlung entschieden und §§ 158, 62 SGG verletzt. Damit sei das Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt gewesen; hierin liege ein absoluter Revisionsgrund (§ 202 SGG iVm § 547 Nr 1 Zivilprozessordnung ).

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II. Die Beschwerden der Klägerin sind zulässig, aber unbegründet. Sie sind nach Bewilligung von Prozesskostenhilfe fristgerecht erhoben und genügen hinsichtlich der geltend gemachten Verfahrensfehler den Bezeichnungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG. Die Klägerin macht mit den Beschwerden geltend, um ihr Recht auf eine mündliche Verhandlung gebracht worden zu sein, indem schon das SG durch Gerichtsbescheide ohne mündliche Verhandlung entschieden und das LSG die Berufungen nach § 158 Satz 2 SGG verworfen habe. Grundsätzlich bedarf es keines weiteren Vortrags zum Beruhen der angegriffenen Entscheidung auf dem Verfahrensfehler, wenn ein Beschwerdeführer behauptet, sein Recht auf mündliche Verhandlung sei verletzt worden (vgl BSG SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 62); die gerügten Verfahrensmängel liegen aber nicht vor. Es ist nicht zu beanstanden, dass das LSG ohne mündliche Verhandlung und ohne die Beteiligung ehrenamtlicher Richter in allen 15 Verfahren die Berufungen durch Beschluss als unzulässig verworfen hat.

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Zutreffend hat es den Berufungsschriftsatz der Klägerin dahin ausgelegt, dass diese sich mit ihren Berufungen ausschließlich gegen die Kostenentscheidung des SG gewandt hat. Damit ist eine Berufung wegen § 144 Abs 4 SGG in allen 15 Verfahren ausgeschlossen, unabhängig davon, ob in den einzelnen Verfahren wegen der vor dem SG in der Hauptsache geltend gemachten Untätigkeit der Beklagten der Wert des Beschwerdegegenstandes 750 Euro überschritten hat (zum Wert des Beschwerdegegenstandes bei Untätigkeitsklagen BSG SozR 4-1500 § 144 Nr 7). Die Anträge im Schriftsatz vom 28.7.2013 und die kurze Begründung zu den Berufungen sind ausdrücklich und allein gegen die jeweilige Kostenentscheidung des SG gerichtet. Einziges Ziel der Berufung ist die Korrektur der Kostenentscheidung; die Klägerin hat weder geltend gemacht, ihr Vortrag im erstinstanzlichen Verfahren sei dahin auszulegen gewesen, dass anstelle der Untätigkeit der Beklagten nunmehr eine für sie günstige Entscheidung in der Sache begehrt werde, noch hat sie in Zweifel gezogen, dass Untätigkeit der Beklagten nach Erlass der Bescheide vom 26.6.2013 nicht mehr vorlag. Soweit der Schriftsatz Sachvortrag enthält, bezieht sich dieser ausschließlich auf zugleich geführte Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes. Auch der Hinweis im Schriftsatz vom 12.9.2013, sie - die Klägerin - habe "voll-umfänglich gewonnen", ist als Begründung für die aus Sicht der Klägerin fehlerhafte Kostenentscheidung des SG anzusehen.

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Das LSG durfte durch Beschluss nach § 158 Satz 2 SGG entscheiden. Nach § 158 Satz 2 SGG "kann" die Entscheidung über die Verwerfung der Berufung als unzulässig durch Beschluss ergehen. Damit ist dem Berufungsgericht - insoweit vergleichbar der Regelung des § 153 Abs 4 Satz 1 SGG - Ermessen eingeräumt, ohne mündliche Verhandlung und ohne die Beteiligung ehrenamtlicher Richter zu entscheiden. Die Ermessensentscheidung kann im Revisionsverfahren nur darauf überprüft werden, ob das Berufungsgericht von seinem Ermessen erkennbar fehlerhaft Gebrauch gemacht hat, dh etwa sachfremde Erwägungen oder eine grobe Fehleinschätzung zu Grunde gelegt hat (vgl zu § 153 Abs 4 Satz 1 SGG nur BSG SozR 3-1500 § 153 Nr 13 S 35, 38 mwN). Nicht grundlegend anders als im Rahmen von § 153 Abs 4 Satz 1 SGG (vgl dazu: BSG SozR 4-1500 § 153 Nr 1 RdNr 6 ff; BSG, Urteil vom 31.7.2002 - B 4 RA 28/02 R) ist die Möglichkeit, nach § 158 Satz 2 SGG ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss zu entscheiden, grundsätzlich eng und in einer für die Beteiligten möglichst schonenden Weise auszulegen und anzuwenden. Eine Einschränkung, über eine unzulässige - weil schon nicht statthafte - Berufung nicht nach § 158 Satz 2 SGG ohne mündliche Verhandlung zu entscheiden, ist aber jedenfalls in solchen Fällen nicht geboten, in denen erstinstanzlich ein Gerichtsbescheid ergangen ist, der nur wegen der Kostenentscheidung angegriffen wird.

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Das Gebot des fairen und effektiven Rechtsschutzes sowie das Recht auf eine mündliche Verhandlung gebieten es zwar im Grundsatz, von einer Entscheidung durch Beschluss nach § 158 Satz 2 SGG abzusehen, wenn sich die Berufung gegen einen Gerichtsbescheid richtet (vgl BSG SozR 4-1500 § 158 Nr 2), und auch die Ausgestaltung des vereinfachten Berufungsverfahrens im SGG (Fälle des § 153 Abs 4 SGG und des § 158 SGG) ist nach dem Willen des Gesetzgebers allgemein an Art 6 Abs 1 Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) orientiert, wonach jede Person das Recht hat, dass ua über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche von einem unabhängigen und unparteiischen Gericht in einem fairen Verfahren öffentlich und innerhalb angemessener Frist mündlich verhandelt wird; dabei werden (entgegen dem innerstaatlichen Rechtsverständnis) vom Begriff "zivilrechtliche Ansprüche" in diesem Sinne auch sozialrechtliche Ansprüche erfasst (vgl nur Meyer-Ladewig, EMRK, 3. Aufl 2011, Art 6 RdNr 14 und 17 mwN). Ob eine Verletzung von Art 6 Abs 1 EMRK vorliegt, beurteilt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) jedoch anhand einer Würdigung im Hinblick auf die Besonderheiten des Verfahrens in seiner Gesamtheit. Es ist notwendig, das gesamte innerstaatliche Verfahren, wie es in der innerstaatlichen Rechtsordnung geregelt ist, und die Rolle des Berufungsgerichts in seiner Gesamtheit zu betrachten (vgl EGMR vom 29.10.1991 - 22/1990/213/275 -, EuGRZ 1991, 415, 416 mwN).

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Wegen einer Angelegenheit, die ausschließlich noch die Frage der Kosten des gerichtlichen Verfahrens betrifft, besteht unter dieser Prämisse einerseits nach der Konzeption des Gesetzgebers nie ein Anspruch auf eine mündliche Verhandlung und ist andererseits eine inhaltliche Befassung des Rechtsmittelgerichts allein mit der Kostenentscheidung in jedem Fall ausgeschlossen. Erledigt sich vor dem SG ein Rechtsstreit in der Hauptsache auf andere Weise als durch Urteil (oder einen dem Urteil gleichstehenden Gerichtsbescheid) und ist nur noch die Erstattung der Kosten für das gerichtliche Verfahren zwischen den Beteiligten in Streit, hat der Gesetzgeber die Durchführung einer mündlichen Verhandlung allein wegen dieser Kosten nicht vorgeschrieben. Das Gericht hat über die Kosten des Verfahrens in diesen Fällen nur durch Beschluss zu entscheiden; eine mündliche Verhandlung muss nicht stattfinden (§ 193 Abs 1 Satz 3 SGG und ausdrücklich für die Klagerücknahme § 102 Abs 3 Satz 1 SGG iVm § 124 Abs 3 SGG). Da seit dem Inkrafttreten des Gesetzes zur Änderung des Sozialgerichtsgesetzes und des Arbeitsgerichtsgesetzes vom 26.3.2008 (BGBl I 444) am 1.4.2008 nicht nur die Beschwerde zum LSG gegen Kostengrundentscheidungen nach § 193 SGG ausgeschlossen ist (§ 172 Abs 3 Nr 3 SGG wie § 102 Abs 3 Satz 2 SGG), sondern im Fall des Berufungsausschlusses wegen § 144 Abs 4 SGG auch eine Nichtzulassungsbeschwerde dem Betroffenen nicht zur Eröffnung der Rechtsmittelinstanz verhelfen kann (vgl zuletzt BSG, Beschluss vom 5.8.2008 - B 13 R 153/08 B -, juris RdNr 13 mwN), ist kein Grund ersichtlich, dass ein entsprechendes Anliegen vom Rechtsmittelgericht in einer mündlichen Verhandlung erörtert werden müsste. Denn der Weg zu einer Entscheidung durch Urteil, das im Regelfall aufgrund mündlicher Verhandlung gefällt wird (§ 124 Abs 1 SGG), ist von vornherein verschlossen; gesetzlich vorgesehen ist vielmehr nur ein Beschluss (§ 145 Abs 4 Satz 1 SGG), der eine mündliche Verhandlung gerade nicht voraussetzt (§ 124 Abs 3 SGG).

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Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

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