Beschluss vom Bundessozialgericht (14. Senat) - B 14 AS 51/16 B

Tenor

Die Beschwerden der Kläger gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 27. Januar 2016 werden zurückgewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

Gründe

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I. Mit Beschluss vom 27.1.2016 hat das LSG Niedersachsen-Bremen die Berufung der Kläger gegen das Urteil des SG Stade vom 4.5.2015 als unzulässig verworfen. Gegen das dem Prozessbevollmächtigten der Kläger am 1.6.2015 zugestellte Urteil des SG haben die Kläger am 14.8.2015 Berufungen eingelegt und zugleich die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Zur Begründung ist vorgetragen, die Kläger hätten das Urteil, das ihnen vom Prozessbevollmächtigten zeitnah nach Zustellung übersandt worden sei, erst am 16.7.2015 erhalten und sich am 17.7.2015 telefonisch bei dem Prozessbevollmächtigten gemeldet. Nachdem das LSG den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand mit Beschluss vom 25.9.2015 abgelehnt hatte, weil durch den unbefristeten Streik der Deutschen Post AG im relevanten Zeitraum außergewöhnliche Ereignisse vorgelegen hätten, die den Prozessbevollmächtigten zu einer Überwachung des Zugangs wichtiger Schreiben hätten veranlassen müssen, ist mit dem vorliegenden angefochtenen Beschluss des LSG die Berufung wegen Versäumung der Berufungsfrist verworfen worden.

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Mit ihren Beschwerden gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des LSG machen die Kläger einen Verfahrensfehler geltend, weil unter Verletzung von § 67 SGG der Wiedereinsetzungsantrag abgelehnt worden sei. Außerdem rügen die Kläger eine Verletzung rechtlichen Gehörs gemäß Art 103 Abs 1 GG, weil sie durch die Verwerfung der Berufung als unzulässig gehindert gewesen seien, neuen Vortrag zu bringen.

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II. Die gegen die Nichtzulassung der Revision in dem angefochtenen Beschluss des LSG gerichteten Beschwerden der Kläger sind zurückzuweisen, weil sie jedenfalls unbegründet sind. Die Voraussetzungen des von den Klägern allein geltend gemachten Zulassungsgrunds des Verfahrensmangels, auf dem die angefochtenen Entscheidungen des LSG beruhen können (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 SGG), sind nicht erfüllt.

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Ein Verfahrensmangel iS des § 160 Abs 2 Nr 3 SGG ist ein Verstoß des Gerichts im Rahmen des prozessualen Vorgehens im unmittelbar vorangehenden Rechtszug (siehe nur Leitherer in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 160 Nr 16a mwN). Vor diesem Hintergrund greift die Rüge einer Verletzung des § 67 SGG vorliegend unmittelbar nicht durch, denn das LSG hat die beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand mit einem gesonderten Beschluss vom 25.9.2015 abgelehnt, der gemäß § 177 SGG unanfechtbar war. Unanfechtbare Vorentscheidungen sind aber gemäß § 202 Satz 1 SGG iVm § 557 Abs 2 und § 512 ZPO nicht im Rahmen eines Revisionsverfahrens zu überprüfen, was für den vorliegenden Fall bedeutet, dass die beanstandete Ablehnung der Wiedereinsetzung als solche ohnehin nicht Gegenstand eines Revisionsverfahrens sein könnte und die entsprechende Rüge daher auch nicht zur Zulassung der Revision führen kann.

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Ein Verfahrensmangel kann aber auch das Urteil selbst betreffen, wenn zB statt eines Sachurteils ein Prozessurteil ergangen ist oder umgekehrt (siehe bereits BSG Urteil vom 27.7.1972 - 2 RU 2/69 - BSGE 34, 236, 237; BSG Urteil vom 20.3.1973 - 8/7 RU 11/70 - BSGE 35, 267, 271). In dem genannten Rahmen wäre auch die Entscheidung des LSG über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach Maßgabe des § 67 SGG mittelbar zu überprüfen. Wenn man die Rüge "Prozess- statt Sachurteil" aufgrund des gesamten Vortrags in der Beschwerdebegründung als sinngemäß erhoben erachten würde, griffe sie vorliegend nicht durch, denn das LSG hat zu Recht die Berufung wegen Versäumung der Berufungsfrist (§ 151 Abs 1 SGG) durch Beschluss gemäß § 158 SGG als unzulässig verworfen, weil gegen das dem Prozessbevollmächtigten der Kläger am 1.6.2015 zugestellte Urteil erst am 14.8.2015 und damit nicht innerhalb der einmonatigen Frist Berufung eingelegt worden ist (§ 160a Abs 1, § 64 Abs 2 SGG). Zutreffend hat das LSG insoweit entschieden, dass der von den Klägern behauptete Zugang des anwaltlichen Schreibens bezüglich der Frage, ob Berufung eingelegt werden soll, erst am 16.7.2015 bei den Klägern im vorliegenden Fall eine unverschuldete Fristversäumung nicht begründen kann.

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Zwar darf ein Absender grundsätzlich darauf vertrauen, dass die Post die normalen Postlaufzeiten einhält, dies gilt jedoch nicht bei voraussehbarer Verzögerung wegen außergewöhnlicher Ereignisse, insbesondere wenn die Verzögerungsgefahren bekannt gemacht worden sind oder offenkundig waren und wenn die Beteiligten Kenntnis davon haben mussten, dass eine konkrete Gefahr von Verzögerungen bestand, wie dies zB bei einem - hier gegebenen - längerfristigen Streik der Fall ist (siehe dazu nur Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 67 RdNr 6c). Insoweit ist bereits geklärt, dass für einen solchen Fall, in dem der Absender ausnahmsweise nicht auf die normale Postlaufzeit vertrauen darf, er entweder einen anderen Übermittlungsweg wählen oder sich (bei Gericht) erkundigen muss, ob die Sendung eingegangen ist (vgl BVerfG Beschluss vom 29.12.1994 - 2 BvR 106/93 - NJW 1995, 1210; BGH Beschluss vom 9.12.1992 - VIII ZB 30/92 - NJW 1993, 1333). Dasselbe gilt auch für einen Prozessbevollmächtigten, der seinen Mandanten über den Inhalt einer Entscheidung sowie über Rechtsmittelmöglichkeiten einschließlich der einzuhaltenden Fristen unterrichtet und diesen auffordert, rechtzeitig mitzuteilen, ob ein Rechtsmittel eingelegt werden soll. In Ausnahmefällen - so zB bei Streik - muss der Rechtsanwalt bei Schweigen des Mandanten nachfragen oder ohne konkrete Beauftragung ein Rechtsmittel einlegen (BSG Urteil vom 29.1.2001 - B 7 AL 8/00 R - SozR 3-1500 § 67 Nr 20 S 56 wo eine Pflicht zur Nachfrage mit Bezug auf Rechtsprechung des BGH und des BFH bejaht wurde, wenn mit besonderen Schwierigkeiten bei der Postzustellung zu rechnen ist). So lag es hier, denn nach den Feststellungen des LSG in seinem die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ablehnenden Beschluss war es im vorliegenden Fall offenkundig, dass die konkrete Gefahr von Verzögerungen bei der Postzustellung bestand (vgl BVerfG Beschluss vom 29.12.1994, aaO), nachdem nach mehreren, in Abständen ausgerufenen Streiks bei der Deutschen Post AG unter großem medialen Interesse ein unbefristeter Streik zwischen dem 8.6. und dem 5.7.2015 stattfand.

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Auch die Rüge einer Verletzung rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG, § 62 SGG) greift nicht durch. Zur Begründung haben die Kläger allein vorgetragen, sie seien durch die Verwerfung der Berufung als unzulässig gehindert gewesen neuen Vortrag zu bringen. Es mangelt aber insofern an der Darstellung, was vorgetragen worden wäre und inwiefern die angefochtene Entscheidung darauf beruhen kann, also der Darstellung der Entscheidungserheblichkeit des verhinderten Vorbringens (siehe dazu Krasney/Udsching, Handbuch des sozialgerichtlichen Verfahrens, 7. Aufl 2016, IX. Kapitel, RdNr 204 mwN).

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Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung der §§ 183, 193 SGG.

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