Beschluss vom Bundessozialgericht (14. Senat) - B 14 AS 195/17 B

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 12. Dezember 2016 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

Gründe

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I. Mit Urteil vom 12.12.2016 hat das LSG nach mündlicher Verhandlung die Berufung des Klägers gegen einen Gerichtsbescheid des SG zurückgewiesen, durch den seine Klage gegen einen Aufhebungs- und Erstattungsbescheid wegen zu Unrecht gewährter Leistungen nach dem SGB II in Höhe von 13 168,89 Euro abgewiesen worden war. Zu der mündlichen Verhandlung ist der Prozessbevollmächtigte des Klägers nicht erschienen. Auf telefonische Nachfrage am Sitzungstag gab er an, die Terminladung nicht erhalten zu haben. Die Kanzlei sei zwar an die Rücksendung des Empfangsbekenntnisses der Ladung erinnert worden. Da diese nicht aufzufinden gewesen sei, habe die Kanzleimitarbeiterin jedoch nichts unternommen. Der zur mündlichen Verhandlung erschienene Kläger hat auf die Frage des Gerichts erklärt, ohne seinen Anwalt nicht verhandeln zu wollen.

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Das LSG hat nach einer Zwischenberatung die Verhandlung wieder aufgenommen und anschließend zur Sache entschieden. Zur Begründung der Fortsetzung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Nach seiner Überzeugung sei die Ladung dem Prozessbevollmächtigten bei Zugrundelegung üblicher Postlaufzeiten rechtzeitig vor dem Termin zugegangen. Dafür spreche, dass dem Kläger selbst die Ladung zugestellt worden sei und der Beklagte ihren Empfang bestätigt habe. Der Behauptung des Prozessbevollmächtigten, die Ladung nicht erhalten zu haben, schenke der Senat nach den Gesamtumständen keinen Glauben, insbesondere nachdem der Verhandlungstermin mit ihm zuvor abgesprochen gewesen sei und eine weitere Verschiebung des Verfahrens für den Kläger prozessual günstig gewesen wäre. Jedenfalls mit dem Erinnerungsschreiben wegen des nicht zurückgegebenen Empfangsbekenntnisses sei dem Bevollmächtigten der Termin bekannt gegeben worden. Davon habe es - das LSG - sich nach der Änderung des § 63 Abs 1 SGG durch das 6. SGG-Änderungsgesetz (im Folgenden: 6. SGG-ÄndG) vom 17.8.2001 (BGBl I 2144) im Wege des Freibeweises überzeugen dürfen.

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Mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG macht der Kläger einen Verfahrensmangel geltend und rügt die unterbliebene Ladung seines Prozessbevollmächtigten. Dadurch sei sein Anspruch auf rechtliches Gehör gemäß § 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG verletzt.

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II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist zulässig und im Sinne der Aufhebung und Zurückverweisung begründet.

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Eine Nichtzulassungsbeschwerde ist ua begründet, wenn ein Verfahrensfehler geltend gemacht wird und vorliegt, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann. Diese Voraussetzungen sind vorliegend erfüllt, weil das angefochtene Urteil des LSG unter Verletzung des Anspruchs des Klägers auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG, Art 103 Abs 1 GG) ergangen ist. Das Gebot des rechtlichen Gehörs hat auch zum Inhalt, dass die Beteiligten ausreichend Gelegenheit zur Abgabe sachgemäßer Erklärungen haben (BSG vom 19.3.1991 - 2 RU 28/90 - SozR 3-1500 § 62 Nr 5 S 8; BSG vom 22.8.2000 - B 2 U 15/00 R - SozR 3-1500 § 128 Nr 14 S 28 f). Vor allem in der mündlichen Vorhandlung, dem "Kernstück" des gerichtlichen Verfahrens (vgl BSG vom 22.9.1977 - 10 RV 79/76 - BSGE 44, 292, 293 = SozR 1500 § 124 Nr 2; BSG vom 16.11.2000 - B 4 RA 122/99 B - SozR 3-1500 § 160 Nr 33 S 57), ist den Beteiligten Gelegenheit zu geben, sich zum gesamten Streitstoff zu äußern. Wird aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden, müssen die Beteiligten daher die Möglichkeit haben, hieran teilzunehmen.

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Diese Möglichkeit setzt die ordnungsgemäße Benachrichtigung über den Termin zur mündlichen Verhandlung (§ 153 Abs 1, § 110 Abs 1 Satz 1, § 63 Abs 1 Satz 2 SGG) voraus, die bei anwaltlich vertretenen Beteiligten gemäß § 73 Abs 6 Satz 6 SGG (idF des Vierten Gesetzes zur Änderung des Vierten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze vom 22.12.2011, BGBl I 3057) eine an den Bevollmächtigten gerichtete Mitteilung der Terminbestimmung erfordert. Diese muss zwar nach § 63 Abs 1 Satz 2 SGG (idF des 6. SGG-ÄndG) nicht (mehr) zugestellt werden; es genügt schon die Bekanntgabe, etwa durch einfachen Brief oder durch Einwurfschreiben. Es liegt jedoch weiterhin vorrangig in der Verantwortung des Gerichts, den Anspruch auf rechtliches Gehör sicherzustellen. Dieses muss sich gegebenenfalls Gewissheit darüber verschaffen, ob ein für die Wahrung des rechtlichen Gehörs bedeutsames, aber mit einfachem Brief übersandtes Schreiben den Adressaten auch tatsächlich erreicht hat (BSG vom 23.5.2013 - B 4 AS 247/12 B - juris RdNr 5; vgl auch BVerfG vom 19.6.2013 - 2 BvR 1960/12 - juris RdNr 9).

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Auch wenn der Gesetzgeber das bis dahin in § 63 Abs 1 SGG (idF des Kostenrechtsänderungsgesetzes 1994 vom 24.6.1994, BGBl I 1325) verankert gewesene Zustellungserfordernis ua für Terminbestimmungen durch das 6. SGG-ÄndG aufgehoben und durch die Bekanntgabevorschrift des § 63 Abs 1 Satz 2 SGG ersetzt hat, sind die Gerichte hierdurch der Verantwortung für den ordnungsgemäßen Zugang der Terminbestimmung nicht enthoben. Die Änderung des § 63 Abs 1 SGG zielte nicht auf eine Absenkung der Anforderungen an die Erweislichkeit des Zugangs von Terminbestimmungen. Maßgebend war vielmehr allein die Einschätzung, dass die verwaltungsaufwändigere Zustellung in der Regel nicht erforderlich sei, um den Zugang nachzuweisen. Es bleibe dem Gericht unbenommen, die Zustellung anzuordnen, wenn es dies im Einzelfall für zweckmäßig halte (vgl BT-Drucks 14/5943 S 24). Die gesetzliche Konzeption beruht danach weiterhin auf der Vorstellung, dass der Zugang der Terminbestimmung nachzuweisen ist, nur nicht notwendig im Wege der förmlichen Zustellung. Soll dieser Nachweis anders als durch ein zu den Akten gelangtes Empfangsbekenntnis geführt werden, müssen deshalb ggf im Wege des Freibeweises zu klärende andere Umstände die einer Zustellung vergleichbare Überzeugungsgewissheit vom ordnungsgemäßen Zugang der Terminbestimmung vermitteln können.

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Solche Umstände vermag der erkennende Senat hier nicht mit der gebotenen Sicherheit zu erkennen. Allein die Versendung einer Terminbestimmung erlaubt nicht regelmäßig den Schluss, dass sie den Beteiligten auch erreicht hat (zur Terminbestimmung vgl nur BSG vom 23.5.2013 - B 4 AS 247/12 B - juris RdNr 6; zur Anhörungsmitteilung nach § 153 Abs 4 SGG: BSG vom 29.11.2012 - B 14 AS 176/12 B - juris RdNr 5; BSG vom 24.10.2013 - B 13 R 253/13 B - juris RdNr 9; vgl zur fehlgeleiteten Versendung der Ladung zur mündlichen Verhandlung auch BSG vom 23.6.2016 - B 14 AS 25/16 B - juris). Darauf lässt auch der Zugang bei weiteren Beteiligten nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit schließen. Soweit das im Einzelfall anders liegen kann, wenn sich nach Aktenlage in der Vergangenheit bereits Besonderheiten und Auffälligkeiten im Zugangs- und Herrschaftsbereich des Adressaten ergeben haben (vgl etwa BSG vom 1.10.2009 - B 3 P 13/09 B - SozR 4-1500 § 62 Nr 12 RdNr 8; BSG vom 2.5.2013 - B 4 AS 262/12 B - juris RdNr 7), sind solche hier nicht festgestellt.

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Sollte die Erinnerung an die Rückgabe des Empfangsbekenntnisses als erneute Terminmitteilung zu werten sein, würde das einen Hinweis auf den Termin voraussetzen, der indes fehlt; angegeben ist nur das Datum der Terminmitteilung selbst ("vom 17.10.2016"). Zwar dürfte eine solche Erinnerung regelmäßig Anlass zur Nachfrage bei Gericht geben, wenn die ihr zugrunde liegende Terminbestimmung einem Rechtsanwalt nicht zugegangen ist; insoweit sind Zweifel am Vorbringen des Prozessbevollmächtigten des Klägers nicht zu verkennen, zumal der Verhandlungstermin auch nach seiner Darstellung zuvor mit ihm abgesprochen war. Selbst wenn seine Büroangestellte dies verkannt haben sollte, wäre darin unter Beachtung der insoweit gebotenen Formenstrenge kein dem Kläger zuzurechnendes Organisationsverschulden im Büro seines Prozessbevollmächtigten zu sehen, das es rechtfertigen könnte, ihn - den Kläger - so zu stellen, als sei die Terminbestimmung seinem Anwalt ordnungsgemäß zugegangen.

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Weiteres Vorbringen des Klägers war nicht erforderlich. Auch wenn die Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im sozialgerichtlichen Verfahren nicht als absoluter Revisionsgrund ausgebildet ist (vgl § 202 Satz 1 SGG iVm § 547 ZPO), lässt sich das Beruhenkönnen der Entscheidung auf der fehlenden Mündlichkeit wegen des besonderen Rechtswerts der mündlichen Verhandlung (vgl zu ihrer Bedeutung für die Subjektstellung der Beteiligten im gerichtlichen Verfahren BVerfG vom 30.4.2003 - 1 PBvU 1/02 - BVerfGE 107, 395, 409 = SozR 4-1100 Art 103 Nr 1 RdNr 29 ff) in der Regel nicht verneinen (vgl etwa BSG vom 6.10.2010 - B 12 KR 58/09 B - juris RdNr 10 mwN). Ungeachtet dessen erfüllt es ständiger Rechtsprechung des BSG nach auch den absoluten Revisionsgrund des § 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Nr 4 ZPO, wenn der Beteiligte oder sein Bevollmächtigter wegen einer unterbliebenen Ladung nicht an der mündlichen Verhandlung teilnehmen konnte und daher iS von § 547 Nr 4 ZPO "in dem Verfahren nicht nach Vorschrift der Gesetze vertreten" war (vgl zuletzt BSG vom 2.3.2010 - B 5 R 440/09 B - juris RdNr 3 mwN; ebenso BVerwG vom 1.12.1982 - 9 C 486/82 - BVerwGE 66, 311; Eichberger in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Oktober 2015, § 138 RdNr 117 mwN). Mindestens hierauf beruht auch das angefochtene Urteil im Sinne der unwiderleglichen Vermutung von § 547 Halbsatz 1 ZPO. Aufgrund dessen ist das angefochtene Urteil gemäß § 160a Abs 5 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 SGG aufzuheben und die Sache an das LSG zurückzuverweisen.

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Die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.

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