Beschluss vom Bundessozialgericht (8. Senat) - B 8 SO 63/16 B

Tenor

Auf die Beschwerde des Klägers wird der Beschluss des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 7. Dezember 2015 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.

Gründe

1

I. Der Kläger hat vor dem Sozialgericht (SG) Braunschweig Ansprüche auf Überprüfung seines Anspruchs auf Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII) gegenüber der Beklagten geltend gemacht. Das SG hat die Klage als unzulässig abgewiesen (Urteil vom 4.6.2014). Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen hat die Berufung zurückgewiesen (Beschluss vom 7.12.2015). Zur Begründung hat es unter anderem ausgeführt, trotz des Einwands des Klägers, er könne sich im Gericht nicht vertreten und benötige Beistand, habe es nach Auswertung eines im Auftrag der Deutschen Rentenversicherung (DRV) Bund in Auftrag gegebenen Gutachtens aus Februar 2013 und der persönlichen Anhörung des Klägers einen besonderen Vertreter nicht bestellt. Es halte den Kläger für geschäfts- und damit auch prozessfähig.

2

Der Kläger wendet sich mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im bezeichneten Beschluss und macht geltend, das LSG habe nicht beachtet, dass er prozessunfähig sei. Dies habe schon vor dem SG dazu geführt, dass er keine sachdienlichen Anträge in der mündlichen Verhandlung habe stellen können, in der insgesamt drei Verfahren verhandelt worden seien, die er am selben Tag wegen der Höhe der Ansprüche von Juni 2013 bis April 2014 unter verschiedenen Aspekten anhängig gemacht habe und die nach seiner Auffassung denselben Lebenssachverhalt beträfen. Dies habe sich im Berufungsverfahren fortgesetzt. Wäre er ordnungsgemäß vertreten gewesen, hätte er eine Verbindung der Rechtsstreitigkeiten beantragt und geordnet zur Sache vorgetragen.

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II. Die Beschwerde ist zulässig. Sie genügt hinsichtlich des geltend gemachten Verfahrensfehlers den Bezeichnungserfordernissen des § 160a Abs 2 Satz 3 iVm § 160 Abs 2 Nr 3 Sozialgerichtsgesetz (SGG). Die Beschwerde ist auch begründet. Die angefochtene Entscheidung beruht auf einem Verfahrensverstoß, weil das LSG zu Unrecht von einer Prozessfähigkeit des Klägers ausgegangen ist und er deshalb nicht wirksam vertreten war (§ 202 SGG iVm § 547 Nr 4 Zivilprozessordnung ); hierin liegt ein absoluter Revisionsgrund, bei dem unterstellt wird, dass der Beschluss des LSG auf ihm beruht. Der Senat macht deshalb von seiner Möglichkeit Gebrauch, den angefochtenen Beschluss aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (vgl § 160a Abs 5 SGG).

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Die (zumindest) partielle Prozessunfähigkeit des Klägers stellt kein Verfahrenshindernis für die vorliegende Beschwerde dar. Ein Rechtsmittel, in welchem sich ein Beteiligter auf seine Prozessunfähigkeit beruft, ist zunächst ohne Rücksicht darauf zulässig, ob die für die Prozessfähigkeit erforderlichen Voraussetzungen festgestellt werden; entsprechend ist auch die zur Einlegung des Rechtsmittels erteilte Prozessvollmacht wirksam. Die Prozessfähigkeit ist dann grundsätzlich solange zu unterstellen, bis darüber rechtskräftig entschieden ist (vgl nur BSGE 91, 146 = SozR 4-1500 § 72 Nr 1 RdNr 6). Im Übrigen hat der Vorsitzende des Senats für das weitere Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde den Prozessbevollmächtigten des Klägers als besonderen Vertreter (vgl § 72 Abs 1 SGG) bestellt, nachdem der Senat zur Überzeugung gelangt ist, dass eine (partielle) Prozessunfähigkeit vorliegt.

5

Der Kläger ist und war im gesamten Verfahren prozessunfähig. Ihm ist eine sachgerechte Pro-zessführung nicht möglich. Prozessunfähig ist eine Person, die sich nicht durch Verträge verpflichten kann (vgl § 71 Abs 1 SGG), also ua eine solche, die nicht geschäftsfähig iS des § 104 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) ist, weil sie sich in einem nicht nur vorübergehenden, die freie Willensbestimmung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befindet (vgl § 104 Nr 2 BGB) und deshalb nicht in der Lage ist, ihre Entscheidungen von vernünftigen Erwägungen abhängig zu machen (dazu etwa Lange in jurisPK-BGB, 8. Aufl 2017, § 104 RdNr 12 ff mwN). Dabei können bestimmte Krankheitsbilder auch zu einer sog partiellen (Geschäfts- und) Prozessunfähigkeit führen, bei der sich die Prozessunfähigkeit auf einen gegenständlich begrenzten Lebensbereich beschränkt (stRspr seit BGHZ 18, 184, 186 f; 30, 112, 117 f). Soweit eine solche partielle Prozessunfähigkeit anzunehmen ist, erstreckt sie sich auf den gesamten Prozess (BSG SozR 3-1500 § 160a Nr 32 S 65). Eine solche Prozessunfähigkeit zumindest bezogen auf die Führung von Verwaltungs- und Gerichtsverfahren liegt und lag nach dem Ergebnis der Ermittlungen zur Überzeugung des Senats vor; ob die Geschäftsfähigkeit des Klägers insgesamt aufgehoben ist, wovon der Sachverständige ausgeht, kann offenbleiben.

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Nach den Feststellungen des Facharztes für Neurologie, Psychiatrie, Psychotherapie und Suchtmedizin B in seinem vom Senat in Auftrag gegebenen neuropsychiatrischen Gutachten (vom 7.11.2017) besteht beim Kläger eine Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis (ICD-10 F20.5) mit einer dafür typischen Wahnsymptomatik im Sinne eines systematischen Wahns, Ichstörungen, formalen Denkstörungen, Manierismus, fehlender Kohärenz und einer fehlenden Fähigkeit zur Perspektivübernahme. Der Sachverständige hat im Einzelnen überzeugend ausgeführt, dass sich auf Grundlage der Akten, eines etwa einstündigen Gesprächs mit dem Kläger und einer Textanalyse verschiedener Schreiben nach neurolinguistischen und psycholinguistischen Kriterien ausreichende Hinweise dafür ergeben hätten, dass es sich um ein chronifiziertes Bild einer solchen Erkrankung handele, nicht dagegen um eine Persönlichkeitsstörung (im Sinne etwa eines Querulantenwahns). Entscheidend für die Einschränkung der Geschäftsfähigkeit/Prozessfähigkeit sei eine Einschränkung in der sog Bedeutungsfunktion, die es ihm - dem Kläger - erschwere, zB in Gerichtsverfahren Informationen korrekt einzuordnen. Zudem sei das sog Informationsverständnis beeinträchtigt. Es gelinge dem Kläger (als Ausdruck seiner formalen Denkstörung) nicht, wichtige Inhalte, auf die er sich beim Schreiben und beim Sprechen beziehen sollte, sinnvoll zu verknüpfen; er beziehe sein Gegenüber schließlich nicht ausreichend mit ein. Die Einengung des Denkens beeinträchtige sein Urteilsvermögen. Eine Einsichtsfähigkeit als Kriterium für die Fähigkeit, den Willen frei und unbeeinträchtigt von einer Störung bilden zu können, fehle ebenfalls. Durch die Psychose sei die Wahrnehmung des Klägers in einem Ausmaß beeinträchtigt, dass schon bei einfachen Vertragsschlüssen im täglichen Leben die Wahrscheinlichkeit, dass Inhalte wahnhaft fehlinterpretiert würden, sehr hoch sei. Dem entsprechend sei die Fähigkeit, eigene Angelegenheiten vor Gericht zu vertreten, massiv eingeschränkt und eingeschränkt gewesen.

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Diese gutachterliche Einschätzung, die wegen der aus der Erkrankung folgenden Einschränkungen im Kern mit früheren Gutachten übereinstimmt, wird durch das Verhalten des Klägers im Verlauf des Prozesses bestätigt. Schon von Beginn des Verfahrens sind die vom Sachverständigen beschriebenen Defizite in den Schreiben des Klägers erkennbar. Zur Überzeugung des Senats ist damit von Klageerhebung an von (zumindest partieller) Prozessunfähigkeit auszugehen; ein Fall der Unterbrechung nach § 202 SGG iVm § 241 ZPO liegt deshalb nicht vor.

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Das LSG wird ggf auch über die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu entscheiden haben.

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