Beschluss vom Bundesverwaltungsgericht (2. Senat) - 2 B 63/11

Gründe

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Auf die Beschwerde der Klägerin ist der Rechtsstreit nach § 133 Abs. 6 VwGO unter Aufhebung der Berufungsentscheidung zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an den Verwaltungsgerichtshof zurückzuverweisen. Die Berufungsentscheidung beruht auf einem Verfahrensmangel im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, weil der Verwaltungsgerichtshof über die Berufung des Beklagten ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss nach § 130a Satz 1 VwGO entschieden hat. Damit hat er den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO) verletzt.

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Die Klägerin steht als beamtete Lehrerin im Dienst des Beklagten. Sie leidet an einem cervicocephalen Syndrom aufgrund einer chronischen Schädigung des Kapselbandapparats, die die Instabilität des Kopfgelenks zur Folge hat. Zur Linderung ihrer chronischen Beschwerden (Durchblutungsstörungen, Ohnmachtsanfälle, Bewegungsblockaden) erhält sie physiotherapeutische Behandlungen und Massagen, zu deren Aufwendungen der Beklagte Beihilfe gewährt. Zusätzlich wird die Klägerin nach der "Atlastherapie nach Arlen" behandelt.

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Die Klage, mit der sie die Gewährung von Beihilfe zu Aufwendungen für die Atlastherapie im Jahr 2004 erreichen will, hatte in erster Instanz Erfolg. Auf die Berufung des Beklagten hat der Verwaltungsgerichtshof die Klage durch Beschluss nach § 130a Satz 1 VwGO abgewiesen. Beide Gerichte haben festgestellt, dass die "Atlastherapie nach Arlen" wissenschaftlich nicht allgemein anerkannt ist. Nach Auffassung des Verwaltungsgerichtshofs ist die Anwendung dieser Therapie auch im Fall der Klägerin medizinisch nicht geboten. In der Berufungsentscheidung heißt es, die chronischen Beschwerden der Klägerin würden nach den hierfür vorgesehenen Standardtherapien behandelt. Ihr Vortrag, sie sei auf die Atlastherapie angewiesen, werde durch den Inhalt der ärztlichen Stellungnahmen und des vom Beklagten eingeholten amtsärztlichen Gutachtens nicht belegt.

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Mit der Nichtzulassungsbeschwerde macht die Klägerin vor allem Gehörsverstöße geltend: Der Verwaltungsgerichtshof habe ihren Vortrag nicht zur Kenntnis genommen, dass sie auf Behandlungen sowohl nach den Standardtherapien als auch zusätzlich nach der Atlastherapie angewiesen sei, um ihre Dienstfähigkeit zu erhalten. Das Gericht habe ihr trotz ihres Widerspruchs die Möglichkeit genommen, die Besonderheiten ihres Falles in einer mündlichen Verhandlung zu erläutern. Auch habe sie der Verwaltungsgerichtshof nicht darauf hingewiesen, dass er die vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen nicht für ausreichend halte, um die Notwendigkeit der Atlastherapie neben den Standardtherapien in ihrem Fall zu belegen. Der Verwaltungsgerichtshof habe versäumt, diese medizinische Frage durch Einholung eines Sachverständigengutachtens zu klären, obwohl sie dies schriftlich beantragt habe.

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Die Klägerin rügt zu Recht, dass die Voraussetzungen für eine Entscheidung über die Berufung des Beklagten ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss nach § 130a Satz 1 VwGO nicht vorgelegen haben. Daher verstößt die Berufungsentscheidung gegen das Gebot, über die Berufung aufgrund mündlicher Verhandlung zu entscheiden (§ 101 Abs. 1, § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO); sie verletzt zugleich den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO (stRspr; vgl. Urteile vom 30. Juni 2004 - BVerwG 6 C 28.03 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 64 S. 57 und vom 9. Dezember 2010 - BVerwG 10 C 13.09 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 82 Rn. 24).

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Nach § 130a Satz 1 VwGO kann das Oberverwaltungsgericht über die Berufung durch Beschluss entscheiden, wenn es sie einstimmig für begründet oder einstimmig für unbegründet hält und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Ist das Erfordernis der Einstimmigkeit erfüllt, so liegt die Entscheidung über den Verzicht auf eine mündliche Berufungsverhandlung im Ermessen des Gerichts. Jedenfalls dann, wenn ein Beteiligter dem beabsichtigten Verzicht auf mündliche Verhandlung widerspricht, muss sich die Ausübung des Ermessens daran orientieren, dass die mündliche Verhandlung nach § 101 Abs. 1, § 125 Abs. 1 Satz 1 VwGO auch im Berufungsverfahren die Regel, eine Entscheidung im vereinfachten Verfahren nach § 130a VwGO die Ausnahme bildet. Der Anwendungsbereich des § 130a VwGO soll nach dem Zweck dieser Bestimmung auf einfach gelagerte Streitsachen beschränkt sein. Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass die umfassende Erörterung der tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte der Streitsache mit den Beteiligten in einer Berufungsverhandlung regelmäßig geeignet ist, die Richtigkeit und die Akzeptanz der gerichtlichen Entscheidung zu fördern. Dies gilt umso mehr, je größer die tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Streitsache sind. Mit dem Grad der Schwierigkeiten wächst das Gewicht der Gründe, die gegen eine Anwendung des § 130a VwGO sprechen (stRspr, vgl. Urteil vom 30. Juni 2004 a.a.O. S. 52 f.).

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Daher ist die Entscheidung über die Berufung nach § 130a Satz 1 VwGO ermessensfehlerhaft und verletzt den unterlegenen Beteiligten in seinem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs, wenn sich die Streitsache nach den Gesamtumständen des Einzelfalles in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht als außergewöhnlich schwierig erweist (stRspr; vgl. Urteil vom 30. Juni 2004 a.a.O.). Eine mündliche Berufungsverhandlung kann vor allem zur sachgerechten Aufklärung schwieriger tatsächlicher Fragen geboten sein (Beschluss vom 12. März 1999 - BVerwG 4 B 112.98 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 35 S. 5 f.).

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Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung liegt insbesondere dann nahe, wenn in einer tatsächlich besonders schwierigen Streitsache ein Beteiligter neuen erheblichen Tatsachenvortrag in das Berufungsverfahren eingeführt hat oder das Berufungsgericht von der Sachverhalts- und Beweiswürdigung des Verwaltungsgerichts abweichen will. Hier erfordert die Gewährung rechtlichen Gehörs, dass das Berufungsgericht die Beteiligten vor der Entscheidung durch Beschluss nach § 130a Satz 1 VwGO im Rahmen der Anhörung nach § 130a Satz 2, § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO auf die beabsichtigte Würdigung des neuen Tatsachenvortrags oder auf die tragenden Gründe für seine von derjenigen des Verwaltungsgerichts abweichende Sachverhalts- und Beweiswürdigung hinweist. Führt ein Beteiligter daraufhin neuen aus der Sicht des Berufungsgerichts erheblichen Sachvortrag ein oder kündigt er einen erheblichen Beweisantrag an, muss das Berufungsgericht mitteilen, aus welchem Grund es an seiner Absicht festhält, auf eine mündliche Verhandlung zu verzichten. Es darf nicht ohne weitere Anhörung nach § 130a Satz 2, § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO ohne mündliche Verhandlung durch Beschluss über die Berufung entscheiden (stRspr; vgl. Beschluss vom 2. März 2010 - BVerwG 6 B 72.09 - Buchholz 310 § 130a VwGO Nr. 80 Rn. 7 f.).

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Hier ist davon auszugehen, dass die Atlastherapie wissenschaftlich nicht allgemein anerkannt ist. Denn die Klägerin hat diese Feststellung des Verwaltungsgerichtshofs nicht angegriffen. Aufwendungen für eine wissenschaftlich nicht allgemein anerkannte Behandlungsmethode können nur beihilfefähig sein, wenn eine anerkannte Behandlungsmethode ohne Erfolg eingesetzt worden ist. Unter dieser Voraussetzung kann sich eine Behandlung als notwendig erweisen, die nicht dem allgemeinen Stand der medizinischen Wissenschaft entspricht, aber nach ernst zu nehmender Auffassung Aussicht auf Erfolg bietet. Dies ist regelmäßig der Fall, wenn bereits wissenschaftliche, nicht auf Einzelfälle beschränkte Erkenntnisse vorliegen, die attestieren, dass die Behandlungsmethode zur Heilung der Krankheit oder zur Linderung von Leidensfolgen geeignet ist und wirksam eingesetzt werden kann (Urteile vom 29. Juni 1995 - BVerwG 2 C 15.94 - Buchholz 271 LBeihilfeR Nr. 15 und vom 18. Juni 1998 - BVerwG 2 C 24.97 - Buchholz 270 § 6 BhV Nr. 10; Beschluss vom 19. Januar 2011 - BVerwG 2 B 76.10 - juris Rn. 7).

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Danach kommt es für die Beihilfefähigkeit der Aufwendungen zu der Atlastherapie der Klägerin darauf an, ob feststeht, dass die Anwendung der allgemein anerkannten Therapien für sich genommen nicht ausreicht, um ihre chronischen Beschwerden zu lindern oder auf ein erträgliches Maß zu beschränken. Die Beantwortung dieser tatsächlichen Frage erweist sich als besonders schwierig, weil sie nicht nur fachärztliche Sachkunde, sondern die medizinische Beurteilung eines außergewöhnlich gelagerten Sachverhalts erfordert. Der Umstand, dass für die Behandlung eines cervicocephalen Syndroms allgemein anerkannte Therapien etabliert sind, genügt angesichts des substantiierten Sachvortrags der Klägerin nicht, um die medizinische Notwendigkeit der Atlastherapie in ihrem Fall zu verneinen. Die Klägerin hat vorgetragen und durch ärztliche Stellungnahmen belegt, dass sie zur Linderung ihrer chronischen Beschwerden kumulativ auf Behandlungen nach allgemein anerkannten Therapien und zusätzlich nach der Atlastherapie angewiesen sei. Im Hinblick darauf hat das Verwaltungsgericht den Nachweis der Notwendigkeit der Atlastherapie als erbracht angesehen. Dagegen hat das Verwaltungsgericht das amtsärztliche Gutachten nicht herangezogen, weil dieses von falschen tatsächlichen Voraussetzungen in Bezug auf den Einsatz der Atlastherapie ausgehe, sich im Wesentlichen auf allgemein gehaltene Aussagen beschränke und das spezifische Krankheitsbild der Klägerin nicht in den Blick nehme. Im Berufungsverfahren hat die Klägerin Sachverständigenbeweis zur Frage der Notwendigkeit der Atlastherapie beantragt.

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Angesichts dieses Sach- und Streitstandes zu einer besonders schwierigen Tatsachenfrage erweist sich die Entscheidung über die Berufung durch Beschluss nach § 130a Satz 1 VwGO als ermessensfehlerhaft. Der Verwaltungsgerichtshof durfte sich in der Anhörungsmitteilung nach § 130a, § 125 Abs. 2 Satz 3 VwGO nicht auf den Hinweis beschränken, nach dem Inhalt der Akten komme in Betracht, der Berufung des Beklagten durch Beschluss stattzugeben. Vielmehr musste er der Klägerin zur Gewährung des rechtlichen Gehörs die tragenden Erwägungen für den in Aussicht gestellten Erfolg der Berufung des Beklagten mitteilen. Hierfür bestand aus mehreren Gründen Anlass: Der Verwaltungsgerichtshof hat die Erkenntnismittel umfassend anders gewürdigt als das Verwaltungsgericht. Er hat das amtsärztliche Gutachten trotz dessen lückenhafter tatsächlicher Feststellungen für die Beurteilung der Notwendigkeit der Atlastherapie im Fall der Klägerin herangezogen und die vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen als zu wenig aussagekräftig angesehen. Vor allem hat er daraus ohne weitere Sachaufklärung den Schluss gezogen, es stehe fest, dass die Anwendung der Atlastherapie im Fall der Klägerin medizinisch nicht notwendig sei. Damit musste die Klägerin, die für diesen Fall Sachverständigenbeweis beantragt hatte, nach dem Prozessverlauf nicht rechnen. Der Verwaltungsgerichtshof hat ihr die Möglichkeit genommen, einem Erfolg der Berufung ohne weitere Sachaufklärung entgegenzutreten, etwa auf eine Ergänzung der ärztlichen Stellungnahmen oder auf eine vorherige Entscheidung über ihren Beweisantrag hinzuwirken.

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Der Senat sieht davon ab, auf die weiteren Gehörsrügen einzugehen (§ 133 Abs. 5 Satz 2 VwGO). Der aufgeworfenen materiell-rechtlichen Frage kommt keine grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zu. Es liegt auf der Hand, dass Aufwendungen zu wissenschaftlich nicht allgemein anerkannten Behandlungsmethoden auch dann nur unter den dargestellten Voraussetzungen beihilfefähig sind, wenn sie nicht in einer Negativliste der generell ausgeschlossenen Methoden aufgeführt werden (Urteil vom 29. Juni 1995 a.a.O. S. 9).

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