Beschluss vom Bundesverwaltungsgericht (Fachsenat für Entscheidungen nach § 99 Abs 2 VwGO) - 20 F 5/14
Gründe
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I
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Der Kläger ist ein Landkreis, der als Mitglied des Beklagten diesem Umlagen gezahlt hat. Er führt ein Musterverfahren und klagt unter Bezugnahme auf den Beschluss der Europäischen Kommission vom 25. April 2012 auf Rückzahlung der Umlagen.
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Der Beklagte wurde im Jahre 1979 als Zweckverband in der Rechtsform einer Körperschaft des öffentlichen Rechts gegründet und führte im Auftrag seiner Mitglieder Aufgaben der Tierkörperbeseitigung aus. Seine Mitglieder waren die Landkreise und kreisfreien Städte des Landes Rheinland-Pfalz und des Saarlandes sowie zwei Landkreise des Landes Hessen. Zur Deckung seiner nicht durch Gebühren und privatrechtliche Entgelte gedeckten Kosten erhob der Beklagte von seinen Mitgliedern eine Umlage, die seit 2009 nur noch zur Deckung von Kosten im Zusammenhang mit seinen Pflichtaufgaben einschließlich der Seuchenreserve verwendet werden durfte. Der Beklagte wurde gemäß § 6 Abs. 1 des Landesgesetzes zur Ausführung des Tierische Nebenprodukte-Beseitigungsgesetzes - AGTierNebG - vom 19. August 2014 (GVBl 2014 S. 191) aufgelöst. Mit Wirkung zum 23. September 2014 wurde für ihn ein Liquidator bestellt.
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Die Beigeladenen sind privatwirtschaftlich organisierte Unternehmen, die ebenfalls im Bereich der Tierkörperbeseitigung tätig sind. Auf Beschwerde des Beigeladenen zu 1 stellte die Europäische Kommission mit Beschluss vom 25. April 2012 - SA.25051 (C 19/2010) (ex NN 23/2010) - fest, dass die von dem Beklagten seit dem 1. Januar 1979 erhobenen Umlagen wettbewerbsverzerrende Wirkung entfalteten. Es handele sich um staatliche Beihilfen, die mit dem europäischen Binnenmarkt unvereinbar seien. Die Klage des Beklagten auf Nichtigerklärung des Beschlusses der Europäischen Kommission über die staatliche Beihilfe hat das Gericht der Europäischen Union mit Urteil vom 16. Juli 2014 - T–309/12 - abgewiesen.
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Im Hauptsacheverfahren vor dem Verwaltungsgericht beantragte der Beklagte, Beweis darüber zu erheben, dass die Umlagezahlungen nicht zu einer Überdeckung der für die Vorhaltung der technischen Tierseuchenreserve entstandenen Kosten geführt hätten. Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag mit der Begründung ab, die unter Beweis gestellte Tatsache sei für die Entscheidung unerheblich.
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Mit Urteil vom 19. November 2013 verurteilte das Verwaltungsgericht den Beklagten zur Rückzahlung der in den Jahren 1998 bis 2012 geleisteten Umlagen in Höhe von 762 232,51 € nebst Zinsen. Es bestünden keine durchgreifenden Zweifel an der Rechtmäßigkeit der Kommissionsentscheidung. Die Europäische Kommission habe dezidiert und unter Einbeziehung aller relevanten Kriterien und Einwände zu Recht entschieden, dass die erhobenen Umlagen staatliche oder aus staatlichen Mitteln gewährte Beihilfen im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV seien, die durch die Begünstigung des Zweckverbandes den Wettbewerb verfälschten oder zu verfälschen drohten und mit dem Binnenmarkt unvereinbar seien.
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Der Beklagte hat die vom Verwaltungsgericht zugelassene Berufung eingelegt, dem Oberverwaltungsgericht aber bislang keine Berufungsbegründung vorgelegt. Das Oberverwaltungsgericht hat die Begründungsfrist antragsgemäß verlängert. Die Anregung des Beklagten, die Beiladungen aufzuheben, hat das Oberverwaltungsgericht nicht aufgegriffen und darauf hingewiesen, dass es gegenwärtig keine Grundlage gebe, das Akteneinsichtsrecht der Beigeladenen gemäß § 100 VwGO einzuschränken.
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Daraufhin hat der Beklagte gestützt auf § 99 Abs. 2 VwGO beantragt,
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1. festzustellen, dass seine Weigerung, exakt bezeichnete Passagen der Berufungsbegründung gegenüber den Beigeladenen zu 1 bis 3 offenzulegen, rechtmäßig ist, und
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2. festzustellen, dass das nach § 100 VwGO bestehende Akteneinsichtsrecht gegenüber den Beigeladenen zu 1 bis 3 entsprechend zu beschränken ist.
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Zusammen mit dem Antrag auf Durchführung des Zwischenverfahrens gemäß § 99 Abs. 2 VwGO legte der Beklagte den Entwurf einer Berufungsbegründung nebst Anlagen vor. Sowohl in dem Entwurf der Berufungsbegründung als auch in dem von ihm in Auftrag gegebenen Gutachten einer Wirtschaftsprüfungsgesellschaft (Anlage B 1), in den Unterlagen zum steuerlichen Jahresabschluss „BGA Nord- und Mittelhessen“ für die Jahre 2009 und 2010 (Anlagen B 3 bis 5) und in der „Kalkulation der Gebühren 2010“ (Anlage B 6) sind Angaben, nach Einlassung des Beklagten insbesondere Geschäftskennzahlen geschwärzt worden. Die Schwärzungen seien zum Schutz seiner Geschäftsgeheimnisse veranlasst.
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Der für das Berufungsverfahren zuständige Senat des Oberverwaltungsgerichts hat die Sache daraufhin dem nach § 189 VwGO gebildeten Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts vorgelegt.
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Mit Beschluss vom 12. Juni 2014 hat der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts den Antrag des Beklagten abgelehnt und zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Der Antrag sei unstatthaft. Die hier gegebene Sondersituation falle nicht in den Anwendungsbereich des § 99 Abs. 2 VwGO. Es gehe dem Beklagten nicht - wie in § 99 Abs. 2 VwGO vorausgesetzt - darum, bei ihm geführte Akten nicht oder nur in Auszügen bzw. mit Schwärzungen vorlegen zu dürfen, sondern darum, den Inhalt eines Schriftsatzes anderen Verfahrensbeteiligten nicht vollständig zugänglich zu machen. Eine analoge Anwendung des § 138 TKG komme nicht in Betracht. Die Anregung, eine analoge Anwendung der Verfahrensordnung des Europäischen Gerichts im Rahmen des Verfahrens nach § 99 Abs. 2 VwGO zu erwägen, sei unsubstantiiert. Eine verfassungskonforme Auslegung des § 99 Abs. 2 VwGO scheide aus. Das gelte auch für eine vom Beklagten angeregte unionsrechtskonforme Auslegung von § 99 Abs. 2 VwGO im Lichte des Art. 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Unabhängig davon erweise sich der Antrag auch deshalb als unzulässig, weil es an der erforderlichen förmlichen Verlautbarung des Hauptsachegerichts über die Entscheidungserheblichkeit der als geheimhaltungsbedürftig zurückgehaltenen Informationen fehle.
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Gegen diesen Beschluss richtet sich die Beschwerde des Beklagten.
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II
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Die Beschwerde des Beklagten, der gemäß § 11 Abs. 4 des Landesgesetzes über die kommunale Zusammenarbeit nach seiner Auflösung als fortbestehend gilt, soweit und solange der Zweck der Abwicklung es erfordert, ist unbegründet. Der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts hat den Antrag des Beklagten zu Recht abgelehnt.
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1. Die Voraussetzungen für die Durchführung eines in-camera-Verfahrens liegen derzeit nicht vor. Das Verfahren nach § 99 Abs. 2 VwGO zielt allein auf die Klärung, ob die Verweigerung der Vorlage von Urkunden oder Akten, der Übermittlung von elektronischen Dokumenten oder der Erteilung von Auskünften rechtmäßig ist, und setzt den Erlass einer Sperrerklärung durch die oberste Aufsichtsbehörde voraus. Das wiederum setzt regelmäßig eine förmliche Verlautbarung der Entscheidungserheblichkeit der in Rede stehenden Unterlagen durch das Gericht der Hauptsache voraus.
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Ein im gerichtlichen Verfahren von einem Prozessbeteiligten vorgelegter Schriftsatz - hier: Berufungsbegründung nebst Anlagen - ist kein tauglicher Gegenstand einer Sperrerklärung. Das Recht und die Pflicht des Gerichts, den Beteiligten nach dem auch im in-camera-Verfahren geltenden Grundsatz des rechtlichen Gehörs alle prozessrelevanten Äußerungen im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens zur Kenntnis zu geben, steht nicht zur Disposition der Beteiligten (vgl. Beschluss vom 18. April 2012 - BVerwG 20 F 7.11 - NVwZ 2012, 1488 Rn. 13). Das gilt sowohl im Hauptsacheverfahren als auch im in-camera-Verfahren. Schriftsätze, die in einem gerichtlichen Verfahren eingereicht werden, müssen den Prozessbeteiligten vollständig und ohne Schwärzung zugänglich gemacht werden. Art. 103 Abs. 1 GG gewährleistet den Verfahrensbeteiligten grundsätzlich, sich zu jeder dem Gericht zur Entscheidung unterbreiteten schriftsätzlichen Stellungnahme der Gegenseite zu äußern (Beschlüsse vom 17. November 2003 - BVerwG 20 F 16.03 - Buchholz 310 § 99 VwGO Nr. 35 S. 24 f. und vom 5. Februar 2009 - BVerwG 20 F 24.08 - juris Rn. 16 zur Abfassung einer Sperrerklärung).
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2. Es besteht keine Rechtsschutzlücke, die durch Analogie zu schließen wäre. Der Beklagte befindet sich nicht in einer Sondersituation. Gründe, von dem nach § 99 Abs. 2 VwGO vorgegebenen Verfahren abzuweichen, sind nicht gegeben. Die Annahme des Beklagten, er werde gezwungen, entweder eine unsubstantiierte Berufungsbegründung einzureichen oder geheimhaltungsbedürftige Geschäftsgeheimnisse zu offenbaren, trifft nicht zu.
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Der Beklagte kann seine Berufungsbegründung ohne konkretes Zahlenmaterial und ohne die Anlagen, die seiner Auffassung nach Geschäftsgeheimnisse enthalten, dem Berufungsgericht als Gericht der Hauptsache vorlegen. Zwar ist der Beklagte als Berufungsführer gemäß § 124a Abs. 3 Satz 4 VwGO verpflichtet, in der Begründung konkrete Angaben zu machen, in welchen Punkten tatsächlicher oder rechtlicher Art das angefochtene Urteil für unrichtig gehalten wird (Beschluss vom 16. Februar 2012 - BVerwG 9 B 71.11 - Buchholz 310 § 124a VwGO Nr. 42 Rn. 2 m.w.N.). Das setzt eine Sichtung und Durchdringung des Streitstoffes und eine damit verbundene sachliche Auseinandersetzung mit den die Entscheidung des Verwaltungsgerichts tragenden Gründen voraus (Urteil vom 3. März 1998 - BVerwG 9 C 20.97 - BVerwGE 106, 202 <203> zu den Anforderungen einer Revisionsbegründung). Welchen Mindestanforderungen eine Rechtsmittelbegründung zu genügen hat, hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab. Das zu beurteilen, obliegt dem Gericht der Hauptsache. Dabei muss es ausgerichtet an der konkreten Prozesssituation - wie hier - auch eine geltend gemachte Geheimhaltungsbedürftigkeit in den Blick nehmen und eine gegebenenfalls daraus resultierende Abstraktion des Vortrags hinnehmen.
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3. Ob es - wie der Beklagte behauptet - allerdings einer „Auseinandersetzung mit dem komplexen Berechnungsmodell der Kommission“ bedarf und ob deswegen die Vorlage von als geheimhaltungsbedürftig bezeichneten Informationen über Geschäftszahlen veranlasst ist, hängt davon ab, ob das Gericht der Hauptsache die Vorlage der Geschäftszahlen und Daten als entscheidungserheblich ansieht. Darauf hat der Fachsenat des Oberverwaltungsgerichts zu Recht hingewiesen. Ein - grundsätzlich erforderlicher - Beweisbeschluss oder eine vergleichbare förmliche Äußerung des Hauptsachegerichts zur Klärung der rechtlichen Erheblichkeit der Daten für die Entscheidung des Rechtsstreits wäre nur dann ausnahmsweise entbehrlich, wenn die zurückgehaltenen Unterlagen zweifelsfrei rechtserheblich sind. Anhaltspunkte für eine solche Fallkonstellation sind nicht zu erkennen.
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Der Vorwurf des Beklagten, die Argumentation des Fachsenats des Oberverwaltungsgerichts sei verfehlt, beruht ebenso wie die Annahme, das Gericht der Hauptsache habe die Entscheidungserheblichkeit „förmlich“ im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes zum Ausdruck gebracht, auf einem unzutreffenden Verständnis des Verfahrens nach § 99 Abs. 2 VwGO. Ob zur Beurteilung des Rechtsstreits die Kenntnis der Geschäftszahlen und Daten zwingend erforderlich ist, ist allein Aufgabe des Gerichts der Hauptsache. Gerichtliche Hinweise in einem anderen Verfahren können die grundsätzlich notwendige förmliche Verlautbarung der Entscheidungserheblichkeit nicht ersetzen. Erst wenn die Frage der Entscheidungserheblichkeit bejaht wird, kann - auf Antrag - das Verfahren nach § 99 Abs. 2 VwGO eingeleitet werden.
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Der Beklagte ist in dieser Prozesssituation nicht schutzlos gestellt. Es bleibt ihm unbenommen, beispielsweise durch Stellung eines Beweisantrags, eine förmliche Verlautbarung des Gerichts der Hauptsache zur Entscheidungserheblichkeit einer Sachverhaltsaufklärung mit Blick auf bestimmte Tatsachen herbeizuführen. Der Einwand des Beklagten, das Gericht könne nicht wissen, was entscheidungserheblich sei, wenn es gerade um geheimhaltungsbedürftige Informationen gehe, überzeugt nicht. Der Einwand beruht auf der Annahme, zur Beurteilung des Rechtsstreits sei die Kenntnis der Geschäftszahlen zwingend erforderlich. Ausgeblendet wird dabei, dass jedenfalls das Verwaltungsgericht die im Verfahren aufgeworfenen Fragen ohne die vom Beklagten beantragte Sachverhaltsaufklärung hat entscheiden können. Es ist gerade Aufgabe des Berufungsgerichts, festzustellen, ob die Rechtsauffassung der Vorinstanz fehlerhaft ist. Dazu gehört die Prüfung, ob es zur Entscheidung der Vorlage geheimhaltungsbedürftiger Angaben bedarf.
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4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO (vgl. dazu auch Beschlüsse vom 8. Mai 2009 - BVerwG 20 KSt 1.09 / BVerwG 20 F 26.08 - und vom 16. Dezember 2010 - BVerwG 20 F 15.10 - NVwZ-RR 2011, 261 Rn. 11) und § 162 Abs. 3 VwGO. Einer Streitwertfestsetzung bedarf es mit Blick auf Nr. 5502 des Kostenverzeichnisses zum Gerichtskostengesetz nicht; danach fällt für eine sonstige Beschwerde eine Gebühr in Höhe von 60 € im Fall der Zurückweisung an.
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Referenzen
- VwGO § 100 2x
- VwGO § 189 1x
- VwGO § 124a 2x
- VwGO § 99 12x
- VwGO § 162 1x
- VwGO § 154 1x
- § 138 TKG 1x (nicht zugeordnet)