Beschluss vom Bundesverwaltungsgericht (6. Senat) - 6 B 44/16

Gründe

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Die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten kann keinen Erfolg haben. Aus seiner Beschwerdebegründung ergibt sich nicht, dass einer der geltend gemachten Revisionszulassungsgründe vorliegt. Der Beklagte hat weder dargelegt, dass das Berufungsurteil an einem Verfahrensmangel nach § 132 Abs. 2 Nr. 3 VwGO leidet noch dass der Rechtssache grundsätzliche Bedeutung im Sinne von § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO zukommt.

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Die Klägerin, eine jüdische Gemeinde, wendet sich gegen einen Bescheid, durch den der Beklagte einen Zinsbetrag von 4 346 730,79 € für überzahlte Zuschüsse zum Pensionsfonds der Klägerin in den Jahren 1996 bis 2008 festgesetzt hat. Der Beklagte hat die Überzahlungen in Höhe von insgesamt 5 905 679,23 € im Jahr 2010 durch inzwischen unanfechtbaren Bescheid zurückgefordert. Die Anfechtungsklage hat in den Vorinstanzen Erfolg gehabt. Das Oberverwaltungsgericht hat die Aufhebung des Zinsbescheids durch das Verwaltungsgericht aus im Wesentlichen folgenden Gründen bestätigt: Rechtsgrundlage für die festgesetzte Zinsforderung sei jedenfalls für den Zeitraum ab dem 29. Juni 1997 § 49a Abs. 3 Satz 1 und 2 VwVfG, der nach § 1 Abs. 1 des Berliner Verwaltungsverfahrensgesetzes für die öffentlich-rechtliche Verwaltungstätigkeit der Behörden Berlins gilt. Der Beklagte habe die sich aus Satz 2 ergebende Verpflichtung, eine Ermessensentscheidung über ein (teilweises) Absehen von der Forderung zu treffen, nicht erfüllt. Hierfür hätte er alle für ein Absehen sprechenden Gesichtspunkte wie etwa die Höhe der Forderung, die sich daraus ergebenden Folgen für die Aufgabenerfüllung der Klägerin und eine mögliche Mitverantwortung des Beklagten in seine Erwägungen einbeziehen müssen. Stattdessen habe er den Verzicht ausschließlich unter Berufung auf das Verschulden der Klägerin an den Überzahlungen abgelehnt.

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1. Der Beklagte sieht eine Verletzung seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO darin, dass das Oberverwaltungsgericht in der mündlichen Berufungsverhandlung keinen Grund genannt habe, der ihm habe Anlass geben können, an der Rechtmäßigkeit der Ermessensausübung zu zweifeln. Dadurch sei er um sein Äußerungsrecht gebracht worden. Die Klägerin hat dieser Darstellung widersprochen.

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Das Recht auf Gewährung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG, § 108 Abs. 2 VwGO gewährleistet jedem Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit, zu dem gesamten Stoff des gerichtlichen Verfahrens in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Stellung zu nehmen. Das Gericht darf bei seiner Entscheidung nur solche Teile des Prozessstoffes berücksichtigen, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten. Dies setzt deren Kenntnis vom Prozessstoff voraus (stRspr, vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 8. Februar 1994 - 1 BvR 765, 766/89 - BVerfGE 89, 381 <392> und vom 27. Oktober 1999 - 1 BvR 385/90 - BVerfGE 101, 106 <129>). Das Gericht ist grundsätzlich nicht verpflichtet, den Beteiligten mitzuteilen, welche tatsächlichen und rechtlichen Gesichtspunkte es für entscheidungserheblich hält und welche Rechtsauffassungen es seiner Entscheidung zugrunde zu legen gedenkt (stRspr, vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 1992 - 1 BvR 986/91 - BVerfGE 86, 133 <144 f.>; Urteil vom 14. Juli 1998 - 1 BvR 1640/97 - BVerfGE 98, 218 <263>). Allerdings darf das Gericht seine Entscheidung nicht auf einen Gesichtspunkt stützen, mit dem auch ein sorgfältiger Verfahrensbeteiligter nicht zu rechnen brauchte. Im Anwaltsprozess ist Maßstab der gewissenhafte und kundige Prozessbevollmächtigte, der die vertretbaren Auffassungen in den Blick nimmt (stRspr, vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 29. Mai 1991 - 1 BvR 1383/90 - BVerfGE 84, 188 <190> und vom 19. Mai 1992 - 1 BvR 986/91 - BVerfGE 86, 133 <144 f.>; Urteil vom 14. Juli 1998 - 1 BvR 1640/97 - BVerfGE 98, 218 <263>).

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Danach stellt das Berufungsurteil auch dann keine das rechtliche Gehör verletzende Überraschungsentscheidung dar, wenn der Vortrag des Beklagten zutreffen sollte. Der Beklagte trägt selbst vor, dass die Frage der Ermessensausübung in der mündlichen Berufungsverhandlung angesprochen worden ist. Davon ausgehend hat keine Pflicht des Gerichts bestanden, mit den Beteiligten ein alle Gesichtspunkte umfassendes Rechtsgespräch über die Ermessensausübung des Beklagten zu führen. Vielmehr hat der anwaltlich vertretene Beteiligte bereits aufgrund des eindeutigen Wortlauts der Ermessensregelung des § 49a Abs. 3 Satz 2 VwVfG ("insbesondere") in Erwägung ziehen müssen, dass seine ausschließlich auf das Verschulden der Klägerin abstellende Entscheidung den gesetzlichen Anforderungen an die Ermessensausübung womöglich nicht genügt. Jedenfalls hat der Beklagte nicht darauf vertrauen können, das Oberverwaltungsgericht werde der Frage keine Bedeutung für die Ermessensausübung beimessen, ob und wie die Klägerin eine Zahlungspflicht von rund 4,34 Millionen € zusätzlich zu der Pflicht zur Rückzahlung der überzahlten Zuschüsse in Höhe von rund 5,9 Millionen € werde bewältigen können.

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2. Der vom Beklagten angeführte absolute Revisionsgrund des § 138 Nr. 2 VwGO liegt offensichtlich nicht vor. Er setzt voraus, dass bei der Entscheidung, d.h. hier bei dem am 8. März 2016 verkündeten Berufungsurteil, ein Richter mitgewirkt hat, der wegen Besorgnis der Befangenheit mit Erfolg abgelehnt war. Dies ist schon deshalb nicht möglich gewesen, weil der Beklagte bis zur Urteilsverkündung kein Ablehnungsgesuch gestellt hat.

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Auf seinen Ablehnungsgesuchen vom 28. April 2016 kann das Berufungsurteil nicht beruhen. Da diese Gesuche erst nach Abschluss der Berufungsinstanz eingegangen sind, hat keiner der erkennenden Richter im Berufungsverfahren einem Tätigkeitsverbot nach § 54 Abs. 1 VwGO, § 47 ZPO unterlegen (BVerwG, Urteil vom 16. April 1997 - 6 C 9.95 - Buchholz 421.0 Prüfungswesen Nr. 382 S. 185). Hinzu kommt, dass es ihm nach den Ausführungen in dem Schriftsatz vom 28. April 2016 darum gegangen ist, die Mitwirkung der Richter an der Entscheidung über seinen Antrag auf Tatbestands- und Urteilsberichtigung sowie an der Abhilfeentscheidung über seine Nichtzulassungsbeschwerde zu verhindern.

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3. Der Beklagte wirft als rechtsgrundsätzlich bedeutsam die Frage auf, ob das von § 49a Abs. 3 Satz 2 VwVfG eröffnete Ermessen, von der Geltendmachung des Zinsanspruchs abzusehen, gesetzlich dahingehend vorgeprägt ist, dass die Behörde die Forderung des Zinsbetrags nur in atypischen Fällen in Frage stellen darf.

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Die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des § 132 Abs. 2 Nr. 1 VwGO setzt voraus, dass die Beschwerde eine Frage des revisiblen Rechts von allgemeiner, über den Einzelfall hinausreichender Bedeutung aufwirft, die im konkreten Fall entscheidungserheblich ist. Ein derartiger Klärungsbedarf besteht nicht, wenn die Rechtsfrage auf der Grundlage der bundesgerichtlichen Rechtsprechung oder des Gesetzeswortlauts mit Hilfe der üblichen Auslegungsregeln eindeutig beantwortet werden kann (stRspr, vgl. BVerwG, Beschluss vom 27. Januar 2015 - 6 B 43.14 [ECLI:DE:BVerwG:2015:270115B6B43.14.0] - NVwZ-RR 2015, 416 Rn. 8).

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Diese Voraussetzungen liegen in Bezug auf die gestellte Frage nicht vor, weil es für den Ausgang eines Revisionsverfahrens nicht darauf ankäme, wie sie beantwortet wird. Selbst wenn man mit dem Beklagten annimmt, die Regelung des § 49a Abs. 3 Satz 2 VwVfG lege ein sog. intendiertes Ermessen fest, hätte der Beklagte nicht den gesamten Zinsbetrag in voller Höhe festsetzen dürfen, ohne Erwägungen über einen teilweisen Verzicht und über eine Stundungsregelung anzustellen. Hierzu hätten ihm die tatsächlichen Umstände Anlass geben müssen, die das Oberverwaltungsgericht nach § 137 Abs. 2 VwGO bindend festgestellt hat. Der festgestellte Sachverhalt rechtfertigt den Schluss, dass der vorliegende Fall atypisch gelagert ist. Dies musste sich auch dem Beklagten aufdrängen. Daher hat das Oberverwaltungsgericht zu Recht angenommen, der Beklagte habe nach § 49a Abs. 3 Satz 2 VwVfG aufgrund einer umfassenden Ermessensabwägung der tatsächlichen Umstände entscheiden müssen, ob und inwieweit ein Absehen von der Geltendmachung der Zinsforderung sachgerecht sein konnte.

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Es ist jedenfalls aufgrund des Zustimmungsgesetzes vom 8. Februar 1994 (GVBl. S. 67) zum Staatsvertrag vom 19. November 1993 anerkannt, dass ein öffentliches Interesse daran besteht, dass die Klägerin die im Staatsvertrag aufgeführten Aufgaben dauerhaft wahrnehmen kann. Auch hat das Oberverwaltungsgericht auf den staatsvertraglich vereinbarten Grundsatz des partnerschaftlichen Zusammenwirkens der Beteiligten verwiesen (Art. 11 StV). Aus diesen Gründen musste der Beklagte in den Blick nehmen, welche Auswirkungen die Zahlung der Zinsen von rund 4,34 Millionen € "auf einen Schlag" zusätzlich zu der Rückzahlung der überzahlten Zuschüsse in Höhe von rund 5,9 Millionen € für die Handlungsfähigkeit der Klägerin haben würde. Das Oberverwaltungsgericht hat zutreffend angenommen, dass der Beklagte in seine Überlegungen hätte einbeziehen müssen, inwieweit die Klägerin für die Rückzahlungen mangels anderer Mittel auf die zweckgebundenen Zuschüsse zurückgreifen musste. Hinzu kommt, dass die zurückzuzahlenden jährlichen Überzahlungen in einem außergewöhnlich langen Zeitraum geleistet wurden. Daher hat das Oberverwaltungsgericht darauf verwiesen, der Beklagte habe im Rahmen der Ermessensausübung prüfen müssen, ob die Überzahlungen ausschließlich der Klägerin anzulasten sind. Dies wird durch den Vortrag des Beklagten in den gerichtlichen Verfahren bestätigt, er habe die Zuschussanträge der Klägerin im fraglichen Zeitraum im Zusammenwirken mit dieser nach haushaltsrechtlichen Grundsätzen geprüft. Schließlich hat das Oberverwaltungsgericht festgestellt, dass auch der Bescheid des Beklagten vom 12. Dezember 2013 keine weitergehenden Ermessenserwägungen enthält. Dort heißt es nach der Wiedergabe des Wortlauts des § 49a Abs. 3 Satz 2 VwVfG: "Diese Voraussetzungen sind ersichtlich nicht erfüllt."

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Wertes des Streitgegenstandes für das Beschwerdeverfahren beruht auf § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 3 GKG.

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