Urteil vom Finanzgericht des Landes Sachsen-Anhalt (4. Senat) - 4 K 1779/10
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Tatbestand
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Streitig ist, ob die Klägerin infolge Wegzugs ins Ausland den Anspruch auf Kindergeld verloren hat.
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Die Klägerin ist Staatsangehörige der Philippinen. Sie ist im Besitz einer unbefristeten Niederlassungserlaubnis in Deutschland.
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Mit Bescheid vom 28. Januar 2009 hatte die Beklagte zu Gunsten der Klägerin Kindergeld für ihre (Stief-)Kinder C., geb. ... 1988, D., geb. ... 1991, E., geb. ... 1995, F., geb. ... 1998 und G., geb. ... 2004 ab Januar 2009 unter dem Vorbehalt der Nachprüfung festgesetzt. Mit Bescheid vom 17. Juni 2009 hob die Beklagte die Festsetzung für die Kinder E., F. und G. ab Juli 2009 wieder auf, weil die Klägerin ihren Ehemann zum Kindergeldberechtigten bestimmt hatte.
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Mit Schreiben vom 23. April 2010 hatte wiederum die Klägerin formlos Kindergeld für ihre (Stief-)Kinder D., E., F. und G. beantragt und um Übersendung entsprechender Formulare gebeten. Am 22. Juni 2010 übersandte sie den formellen Antrag, der auch von ihrem Ehemann unterschrieben war. Als Anschrift hatte sie darin für sich, für ihre Kinder, die in ihrem Haushalt leben sollten, und für ihren Ehegatten die X-Straße 7 in Y. angegeben. Beigefügt war ein ausgefülltes Exemplar einer Haushaltsbescheinigung, deren Angaben durch die Verbandsgemeinde V.-Land amtlich bescheinigt waren.
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Im Rahmen der Antragsbearbeitung rief der Bearbeiter der Beklagten bei dem Einwohnermeldeamt der Verwaltungsgemeinschaft V.-Land an, dessen Sachbearbeiter mitteilte, dass sich die Klägerin mit ihren Kindern überwiegend in Ungarn aufhalte. Ihr Ehegatte sei ab und zu im Ort zur Erledigung von Behördengängen, im Haus wohne noch der Bruder. Der Bearbeiter der Beklagten folgerte daraus, weil auch die Klägerin im Antrag angegeben hatte, mit den Kindern in einem Haushalt zu wohnen, dass die Klägerin mit ihren Kindern in Ungarn lebe und lehnte den Antrag auf Kindergeld ab Juni 2010 mit Bescheid vom 9. Juli 2010 mangels Wohnsitz/gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland ab.
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Dagegen legte die Klägerin Einspruch ein. Sie habe ihren Wohnsitz in Y und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland, außerdem sei sie in Deutschland unbeschränkt steuerpflichtig, wie ihre Einkommensteuer-Erklärung 2009 beweise. Miete, Strom sowie sonstige Ausgaben würden zur Zeit nicht bezahlt werden.
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Mit ihrer -zunächst vor Bekanntgabe einer Einspruchsentscheidung erhobenen- Klage trägt die Klägerin vor, dass sich bereits aus ihrem Einkommensteuerbescheid 2009 ihre unbeschränkte Steuerpflicht ergebe, so dass sich Diskussionen über Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt erübrigen würden. Ihre unbeschränkte Steuerpflicht ergebe sich auch aus ihrem Einkommensteuerbescheid für 2010 vom 18.05.2012 (getrennte Veranlagung) und der Anforderung der Einkommen- und Umsatzsteuererklärungen für 2011 durch das Finanzamt F. Inzwischen könnten nach der Entscheidung des EuGH vom 12.06.2012, Az: ... und ..., selbst Wanderarbeiter einen Anspruch auf Kindergeld geltend machen, wenn sie in Deutschland einkommensteuerpflichtig seien. Außerdem halte sie sich in Deutschland auf, allein schon deshalb, weil sie Grundbesitz in Sachsen-Anhalt erworben habe und diesen bewirtschafte, bzw. z.B. vor dem Landwirtschaftsgericht in L die Mieten/Pachten seit 2006 einklage. Weiterhin habe sie alle Geschäftsanteile der „A ... GmbH“ und der „B. ... GmbH i.L.“ schon vor Jahren erworben und vertrete ihren Mann in seiner Funktion als Geschäftsführer bzw. Nachtragsliquidator vorgenannter Firmen. Sie habe kein Visum für Ungarn und halte sich dort im Rahmen des Schengen-Vertrages immer nur für kurze Zeit auf. Bei dem „Haus in Y“ handele es sich um ein „Gewerbeobjekt mit Wohnbebauung“. Auf den insgesamt 14.xxx qm Grundstücksfläche seien in der Zeit 1980 bis 1995 ca 4.200 qm Nutzfläche entstanden, die in den Folgejahren um- und ausgebaut worden seien. Sie habe das Objekt am 10.10.2005 gekauft. Ihre Kinder gingen in Ungarn zur Schule, insbesondere auch deshalb, weil dort für Kinder ab der neunten Klasse ein nahezu kostenloser Internatsbesuch möglich sei. Für die jüngeren Kinder erfolge eine familiäre Betreuung durch Verwandte. In den Ferien seien sämtliche Kinder mit ihr und ihrem Ehemann zusammen; da die zur Verfügung stehende Wohnung in Y zu klein sei, geschehe dies bei drei Cousinen der Klägerin in Deutschland sowie dem Schwager bzw. dessen Eltern. Einem längeren Aufenthalt in Y stehe entgegen, dass sie und die Kinder dort infolge ihrer dunkleren Hautfarbe mit Anfeindungen rechnen müssten. Ferner verweise sie auf die ihr vom Landkreis K. am 20.2.2009 erteilte Einbürgerungszusicherung mit Verlängerung vom 21.2.2011.
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Die Beklagte hat den Einspruch mit Entscheidung vom 29.11.2010 zurückgewiesen. Die Klägerin habe weder Wohnsitz noch gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland. Ihre Aufenthalte in Y hätten nur Besuchscharakter. Außerdem sei sie weder nach § 1 Abs. 2 EStG unbeschränkt einkommensteuerpflichtig noch werde sie nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt.
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In der mündlichen Verhandlung war es dem erschienenen Ehemann der Klägerin nicht möglich, ihren derzeitigen Wohnsitz/Aufenthalt anzugeben.
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Die Klägerin beantragt, unter Aufhebung des Bescheides vom 9. Juli 2010 und der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung vom 29. November 2010 Kindergeld für die Kinder D., geb. ... 1991, E., geb. ... 1995, F., geb. ... 1998, und G., geb. ... 2004, für die Zeit von Juni bis Dezember 2010 in gesetzlicher Höhe zu ihren Gunsten festzusetzen sowie die durch die Pfändung entstandenen Kosten (Bankgebühren, Telefon, Porto, Fahrtkosten, Kosten der Rechtsberatung durch einen anderen Anwalt), alle Mahngebühren der Z sowie alle Säumniszuschläge, Mahngebühren und Verzugszinsen des Finanzamts F. zu erstatten.
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Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.
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Soweit die Klägerin mit der am 9.12.2010 erhobenen Klage zunächst Untätigkeit gerügt habe, sei die Klage unzulässig gewesen, weil noch nicht sechs Monate seit Einspruchseinlegung vergangen gewesen seien.
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Soweit sich die Klägerin nun gegen die Ablehnung ihres Kindergeldantrages, zuletzt durch die Einspruchsentscheidung, wende, sei die Klage zulässig, jedoch unbegründet. Für die Auslegung des § 8 Abgabenordnung (AO) komme es ausschließlich auf die tatsächlichen Verhältnisse an, melderechtliche und bürgerlich-rechtliche Vorschriften seien unerheblich. Nach den geschilderten Verhältnissen zweifle sie, die Beklagte, daran, dass der Klägerin das Haus in Y, wann immer sie es wünschte, zur Verfügung gestanden habe und es subjektiv von ihr zu entsprechender Nutzung auch bestimmt gewesen sei. Da es sich bei der Einkommensteuer- und der Kindergeldfestsetzung um unterschiedliche Verfahren handele, sei der Einkommensteuerbescheid hinsichtlich des inländischen Wohnsitzes für die Kindergeldfestsetzung nicht bindend (BFH vom 20.11.2008 III R 53/05, BFH/NV 2009, 564). Zum Nachweis der Steuerpflicht nach § 1 Abs. 2 Einkommensteuergesetz (EStG) oder nach § 1 Abs. 3 EStG fehle noch die für Zwecke des Lohnsteuerabzugs vom zuständigen Betriebsstättenfinanzamt nach § 39 c Abs. 3 EStG bzw. § 39 c Abs. 4 EStG erstellte Bescheinigung.
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Sofern sich die Klägerin gegen die Pfändung ihres Kontos bei der Sparkasse wende, stehe diese in keinem Zusammenhang mit der Ablehnung der Kindergeldzahlung. Vielmehr sei diese auf eine Forderung außerhalb des hier streitigen Verfahrens zurückzuführen.
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Die Klage auf Verzinsung der Kindergeldzahlung sei nach höchstrichterlicher Rechtsprechung (BFH 20.4.2006 III R 64/04, BFHE 212, 416) unbegründet.
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Mit Verfügung vom 21. Februar 2011 hat das Gericht der Klägerin eine Frist nach § 79 b Abs. 2 Finanzgerichtsordnung (FGO) gesetzt, innerhalb derer sie ihren Vortrag nach den Vorgaben des Gerichts substantiieren und ggf. unter Beweis stellen sollte. Wegen des Inhalts im Einzelnen wird auf Blatt 53 der Gerichtsakte Bezug genommen. Die Klägerin antwortete, dass ihr die Aufenthalte in Ungarn im Rahmen des Schengen-Vertrages -ohne Visum- jeweils nur für kurze Zeit gestattet seien. Im Weiteren wird auf Blatt 71, 72 der Gerichtsakte verwiesen.
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Die für die Klägerin geführte Kindergeldakte und die Einkommensteuerakte des Finanzamts F (St.Nr. ..., Jahre 2008, 2009) haben dem Gericht vorgelegen.
Entscheidungsgründe
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Die Klage ist unzulässig, soweit Kindergeld für das Kind D. begehrt wird, im Übrigen ist sie unbegründet.
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I. Die Klage ist unzulässig, soweit Kindergeld für das Kind D. beantragt wird, weil ein diesbezügliches Rechtsschutzbedürfnis fehlt.
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Eine Verpflichtungsklage ist gemäß § 40 Abs. 2 FGO nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch die Ablehnung oder Unterlassung eines Verwaltungsakts in seinen Rechten verletzt zu sein. Diese Beschwer muss im Zeitpunkt der Klageerhebung vorliegen, da die Klage sonst unzulässig ist (BFH-Urteil vom 19.5.1976 I R 154/74, BStBl II 1976, 785).
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Die Klägerin hat hier eine Verpflichtungsklage i.S.d. § 40 Abs. 1 3. Alt. FGO erhoben, denn sie wendet sich dagegen, dass die Beklagte ihren Antrag auf Festsetzung von Kindergeld (u.a.) für D. abgelehnt hat (vgl. BFH-Urteil vom 27.1.2011 III R 65/09, BFH/NV 2011, 991).
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Im Zeitpunkt der Klageerhebung ist die Klägerin jedoch nicht in ihren Rechten beeinträchtigt, weil bereits mit Bescheid vom 28. Januar 2009 zu ihren Gunsten Kindergeld für D. ab Januar 2009 festgesetzt worden und diese Festsetzung weiterhin wirksam war.
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1. Entgegen der Ansicht der Beklagten war diese Festsetzung nicht mit Erreichen der Volljährigkeit des Kindes unwirksam geworden, ohne dass es einer ausdrücklichen Aufhebung der gegenüber der Klägerin erfolgten Kindergeldfestsetzung bedurfte.
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Zwar erfolgte die Festsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gemäß § 164 AO, jedoch sonst ohne Nebenbestimmung. Insbesondere war die Festsetzung nicht bis zum Erreichen des 18. Lebensjahres des Kindes i.S.v. § 120 Abs. 2 Nr. 1 AO befristet.
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Zu Unrecht begründet die Beklagte ihre Ansicht mit der Vorschrift des § 124 Abs. 2 AO unter Bezugnahme auf die Verwaltungsanweisungen (hierzu Rechtslage bis 2006 - DA 67.4, 70.2 Abs. 4 und 70.4.1 Abs. 3 DA-FamEStG 2004 vom 5.8.2004, BStBl 2004 I S. 742; DA 70.1 Abs. 8 Satz 2 DA-FamEStG 2012, BZSt, 16.7.2012, St II 2 – S 2280 – DA/12/00002), wonach unbefristete Festsetzungen für Kinder, die vor dem 1.1.2007 geboren wurden und das 18. Lebensjahr nach dem 1.1.2007 vollendet haben (sog. Bestandsfälle) weiterhin mit Vollendung des 18. Lebensjahres als durch Zeitablauf erledigt gelten.
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Nach Ansicht des erkennenden Senats ist im vorliegenden Sachverhalt kein sog. Bestandsfall gegeben. Die anderslautende Auslegung der Beklagten ist unzutreffend.
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Allgemeine Verwaltungsanweisungen sind nicht wie Gesetze auszulegen. Maßgebend ist nicht, wie das Gericht eine solche Anweisung verstünde, wenn sie Gesetz wäre, sondern wie die Verwaltung sie verstanden hat und verstanden wissen wollte und wie sie dementsprechend verfahren ist (BFH-Urteil vom 21.10.1999 I R 68/98, BFH/NV 2000, 891 m.w.N.). Das Finanzgericht darf daher Verwaltungsanweisungen nicht selbst auslegen, sondern nur darauf überprüfen, ob die Auslegung durch die Behörde möglich ist (BFH-Urteil vom 13.1.2005 V R 35/03, BFHE 208, 398, BStBl II 2005, 460).
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Ein „Bestandsfall“ liegt hier nicht vor.
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Es gibt keine gesetzliche Definition dieses Begriffes. Die Beklagte entnimmt die von ihr gefundene Auslegung der Stellung des Begriffs in der Dienstanweisung (DA 70.1. Abs. 8 Satz 2 „Unbefristete Festsetzungen für Kinder, die vor dem 1.1.2007 geboren wurden und das 18. Lebensjahr nach dem 1.1.2007 vollenden (sog.Bestandsfälle),…“), wonach die Beurteilung einer Kindergeldfestsetzung als Bestandsfall allein vom Alter des Kindes zum 1.1.2007 abhänge. Diese Auslegung wird jedoch dem reinen Wortlaut nicht gerecht, wonach nur Bestand haben kann, was bereits zum maßgeblichen Zeitpunkt (1.1.2007) existierte. Bestandsfall kann daher seinem Wortlaut nach nur die (positive) Kindergeldfestsetzung sein, die bereits am 1.1.2007 „bestand“. Diese Auslegung entspricht auch der späteren Dienstanweisungen, wie z.B. in „Familienleistungsausgleich, Auswirkungen des Steuervereinfachungsgesetz 2011, BZSt 20.12.2011“, St II 2-S 2282 –PB /11/00002, BStBl I 2012, 40, Nr. 4 Abs. 2 „Bei bereits vor 2012 bestehenden Festsetzungen (Bestandsfälle)…“. Die (positive) Kindergeldfestsetzung, um die hier gestritten wird, existierte jedoch zum 1.1.2007 noch nicht, vielmehr wurde der Bescheid erst am 28. Januar 2009 erlassen.
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Im Übrigen würde eine Behandlung des im Streitfall vorliegenden Sachverhalts als „Bestandsfall“ gegen geltendes Recht verstoßen.
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Vor Änderung des § 70 Abs. 1 EStG zum 1.1.2007 wurde gemäß § 70 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG a.F. Kindergeld ohne die Erteilung eines schriftlichen Bescheides festgesetzt, wenn einem Antrag entsprochen wurde. Gleichzeitig galt die Festsetzung mit Vollendung des 18. Lebensjahres des Kindes - ebenfalls ohne Erteilung eines schriftlichen Bescheides, § 70 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 EStG a.F.- als aufgehoben, wenn nicht der Berechtigte die Voraussetzungen für eine weitere Berücksichtigung des Kindes nachwies (zu den Fundstellen in Verwaltung und Literatur siehe BFH-Urteil vom 25.2.2003 VIII R 26/02, BFH/NV 2003, 1158). Die Kindergeldfestsetzung erledigte sich somit nach § 124 Abs. 2 AO allein durch Zeitablauf (Vollendung des 18. Lebensjahrs des Kindes). In den internen (Kassen-)Anordnungen wurde neben dem Beginn auch das Ende der Zahlung mit Erreichen des 18. Lebensjahrs verfügt, so dass die Auszahlung automatisch eingestellt wurde.
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Zum 1.1.2007 wurde jedoch § 70 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 EStG aufgehoben, so dass die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung nach den allgemein geltenden Vorschriften zu erfolgen hat. Ein Aufhebungsbescheid ist nun gemäß § 157 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 155 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 AO i.V.m. § 31 Satz 3 EStG in schriftlicher Form zu erteilen.
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Eine Ausnahme hiervon gibt es nur für die erwähnten Bestandsfälle, also für bereits am 1.1.2007 existierende Festsetzungen für Kinder, die vor dem 1.1.2007 geboren wurden, aber bei Wirksamwerden des geänderten § 70 Abs. 1 EStG noch nicht die Volljährigkeit erreicht hatten. Diese Ausnahme wird jedoch nicht durch die oben erwähnte Dienstanweisung geregelt, sondern folgt bereits aus der Gesetzes- und Rechtslage.
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Denn die positive Kindergeldfestsetzung, die ohne schriftlichen Bescheid erfolgt war, hat als Verwaltungsakt mit Dauerwirkung Bindungswirkung für die Zukunft (BFH-Urteil vom 3.3.2011 III R 11/08, BFHE 233, 41, BStBl II 2011, 722). Der Umfang der Bindungswirkung des Bescheides ergibt sich aus seinem Regelungsgehalt. Als Verwaltungsakt trifft er eine Regelung auf der Grundlage der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Bescheiderteilung (BFH-Urteil vom 25.7.2001 VI R 78/98, BFHE 196, 253, BStBl II 2002, 88). Da zum Zeitpunkt der positiven Kindergeldfestsetzung vor dem 1.1.2007 noch § 70 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 EStG a.F. galt, war sichergestellt, dass sich die Festsetzung allein durch Zeitablauf erledigen sollte, sofern nicht weitere Berücksichtigungsvoraussetzungen nachgewiesen wurden. Diese Regelung i.S.d. § 124 Abs. 2 AO blieb auch über den 1.1.2007 hinaus bestehen, denn das geänderte Gesetz sah keine anderweitige Regelung (wie z.B. Aufhebung, Übergangsregelung o.Ä.) vor.
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Positive Kindergeldfestsetzungen, die -wie hier für das Kind D. vom 28. Januar 2009- nach dem 1.1.2007 auf der Grundlage des geänderten § 70 Abs. 1 EStG n.F. erfolgen, enthalten entsprechend obiger Ausführungen keine Regelung mehr zu ihrer Erledigung durch Zeitablauf nach § 124 Abs. 2 AO (hier: durch Erreichen der Volljährigkeit des Kindes). Vielmehr richtet sich die Wirksamkeit der darin getroffenen Regelung nach den allgemeinen Vorschriften, die bei einer Aufhebung einen schriftlichen Bescheid verlangen.
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2. Eine Aufhebung dieser Festsetzung durch (schriftlichen) Bescheid ist nicht erfolgt, so dass die Festsetzung vom 28. Januar 2009 des Kindergeldes für das Kind D. nach § 124 Abs. 2 3. Alt. AO weiterhin wirksam bleibt.
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II. Hinsichtlich des begehrten Kindergeldes für die anderen Kinder ist die Klage unbegründet, weil die Klägerin einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland nicht nachweisen konnte.
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Die Klägerin kann als nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländerin, die im Besitz einer Niederlassungserlaubnis ist (§ 62 Abs. 2 Nr. 1 EStG), einen Anspruch auf Kindergeld haben, wenn sie im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat oder – ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland – nach § 1 Abs. 2 EStG unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist oder nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommen- steuerpflichtig behandelt wird (§ 62 Abs. 1 EStG).
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Da die Voraussetzungen des Abs. 2 (betrifft nur deutsche Staatsangehörige) und des Abs. 3 des § 1 EStG (setzt einen Antrag des Steuerpflichtigen voraus, vgl. BFH-Urteil vom 24.5.2012 III R 14/10, BFHE 237, 239, BStBl II 2012, 897, sofern die Klägerin zur ESt veranlagt wurde, hat das Finanzamt nicht über einen Antrag nach § 1 Abs. 3 EStG entschieden, sondern offensichtlich über einen Antrag als Veranlagung als unbeschränkt Steuerpflichtige) offensichtlich nicht erfüllt sind, kann die Klägerin nur dann einen Anspruch auf Kindergeld nach den §§ 62 ff. EStG haben, wenn sie im Inland einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG).
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Die Klägerin konnte den erkennenden Senat nicht davon überzeugen, dass sie im Streitzeitraum einen Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hatte.
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Einen Wohnsitz hat jemand dort, wo er eine Wohnung unter Umständen innehat, die darauf schließen lassen, dass er die Wohnung beibehalten und benutzen wird (§ 8 AO). Ob die Voraussetzungen für eine Wohnung gegeben sind, richtet sich ausschließlich nach tatsächlichen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten (BFH-Urteil vom 10.11.1978 VI R 127/76, BStBl II 1979, 335). Den gewöhnlichen Aufenthalt hat jemand dort, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, dass er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt. Als gewöhnlicher Aufenthalt im Geltungsbereich der Abgabenordnung ist stets und von Beginn an ein zeitlich zusammenhängender Aufenthalt von mehr als sechs Monaten Dauer anzusehen; kurzfristige Unterbrechungen bleiben unberücksichtigt. Dies gilt nicht, wenn der Aufenthalt ausschließlich zu Besuchs-, Erholungs-, Kur- oder ähnlichen privaten Zwecken genommen wird und nicht länger als ein Jahr dauert (§ 9 AO).
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Für einen Wohnsitz oder zumindest den gewöhnlichen Aufenthalt der Klägerin in Deutschland, nämlich in der X-Straße 7 in Y, spricht zunächst, dass sie seit Juni 2003 unter dieser Anschrift mit ihren Kindern polizeilich gemeldet ist (Haushaltsbescheinigungen der Verwaltungsgemeinschaft V-Land vom 25. Juni 2003, 6. Oktober 2008 und 22. Juni 2010), dass sie unter dieser Anschrift seit August 2003 für das zunächst zuständige Arbeitsamt ..., seit Juli 2006 für die Beklagte und seit Dezember 2010 für das Gericht ohne Schwierigkeiten postalisch erreichbar ist, dass die jüngste Tochter G. im September 2004 in Deutschland, nämlich in ..., geboren ist, dass die Klägerin seit 2001 beim Finanzamt ... als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig geführt wird (Bescheinigung vom Oktober 2008) und dass sie mit ihrem Ehemann für 2008 und 2009 als unbeschränkt steuerpflichtig zur Einkommensteuer veranlagt worden ist (Einkommensteuerakte des Finanzamts ...., später Abgabe an Finanzamt F).
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Der Annahme eines Wohnsitzes oder zumindest des gewöhnlichen Aufenthalts der Klägerin in Deutschland stehen demgegenüber die Aussage der Klägerin und gewichtigere Indizien entgegen. So teilte die Familienkasse ... der Beklagten im September 2008 unter Berufung auf eine Auskunft der Verwaltungsgemeinschaft V-Land vom September 2007 mit, dass die Familie in Ungarn lebe. Ferner hat die Verwaltungsgemeinschaft V-Land im Juli 2010 auf Nachfrage der Beklagten erneut mitgeteilt, dass sich die Klägerin mit den Kindern überwiegend in Ungarn aufhalte. Schließlich hat die Klägerin im Juli 2010 einen Brief an die Beklagte und die Klageschrift vom 2. Dezember 2010, den Prozesskostenhilfe-Antrag vom 5. Dezember 2010 sowie das Original des Schriftsatzes im Hauptsacheverfahren vom 16. Dezember 2010 in Ungarn zur Post gegeben. Auf die Aufklärungsverfügung des Gerichts vom 21. Februar 2011 hin, mit der konkrete Angaben und Nachweise für das Vorliegen des behaupteten Wohnsitzes in Y gefordert wurden, trug die Klägerin vor, dass die Wohnung in Y zu klein sei, so dass sich die Familie, wenn die Kinder die Ferien mit ihrer Familie in Deutschland verbringen, bei Verwandten aufhalte. Einem längeren Aufenthalt in Y stünde auch ihre, der Klägerin, und ihrer Kinder dunklere Hautfarbe entgegen, infolgedessen dort mit Anfeindungen gerechnet werden müsse.
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Die vom Gericht geforderten detaillierteren Angaben zu den Wohnverhältnissen konnten die Klägerin im schriftlichen Verfahren und ihr Ehemann in der mündlichen Verhandlung nicht machen. Soweit unbeschränkte Veranlagungen durchgeführt wurden, dürfte sich dies daraus erklären, dass in den Steuererklärungen keinerlei Hinweis auf den Aufenthalt der Klägerin/ihres Ehemannes und der Kinder in Ungarn erfolgte. Vielmehr wurde als Wohnort im Inland (auch jedes Kindes) ohne weitere Erläuterungen die Wohnung in Y angegeben. Der Hinweis, die Klägerin habe kein Visum für Ungarn, dürfte daher wie die polizeiliche Meldung, nur indizielle Wirkung und kein Gewicht haben.
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Die eingereichten Belege sind als Nachweis eines Wohnsitzes in Y nicht geeignet.
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Aus der eingereichten Mahnung des Stromversorgers Z ist allenfalls zu entnehmen, dass die Klägerin mit fälligen Zahlungen bei der Z in Rückstand ist, nicht aber für welchen Versorgungszeitraum und schon gar nicht für welche Strommenge. Auch die Trinkwasserrechnung der ... ist insofern nicht aussagekräftig. Ihr ist zwar zu entnehmen, dass sie über den Zeitraum vom 29. Januar 2009 bis zum 25. Januar 2010 abrechnet. Sie enthält aber ebenfalls keine Angaben über die bezogene Menge, weil nur die erste Seite der Rechnung vorgelegt wurde.
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III. Auch hinsichtlich der übrigen Anträge ist die Klage unbegründet, weil entsprechende Anspruchsgrundlagen nicht zu erkennen sind.
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Ein Zinsanspruch ergibt sich weder aus einer direkten noch einer entsprechenden Anwendung des § 233a AO noch nach anderen Vorschriften. Die sog. Vollverzinsung von Steuernachforderungen und Steuererstattungen gilt nach dem eindeutigen Wortlaut der Vorschrift nur für Unterschiedsbeträge i.S.d. § 233a Abs. 3 AO, die sich bei der Festsetzung der Einkommen-, Körperschaft-, Vermögen-, Umsatz- oder Gewerbesteuer ergeben. Diese Aufzählung ist abschließend. Zwar gehört das Kindergeld materiell zur Einkommensteuer und wird gemäß § 31 Satz 3 EStG als Steuervergütung gezahlt, es beruht jedoch nicht auf einer Festsetzung der Einkommensteuer (BFH-Urteil vom 20.04.2006 - III R 64/04, BFHE 212, 416, BStBl II 2007, 240).
- 49
§ 233a AO ist auch nicht entsprechend anwendbar. Diese Vorschrift enthält keinen allgemeinen Rechtsgedanken, dass Ansprüche aus dem abgabenrechtlichen Verhältnis zwischen Bürger und Verwaltung stets zu verzinsen sind, um mögliche Zinsvorteile oder Nachteile auszugleichen. Es besteht kein allgemeiner Rechtsanspruch auf Verzinsung rückständiger Leistungen des Staates (BFH-Urteil vom 20.04.2006 - III R 64/04, BFHE 212, 416, BStBl II 2007, 240).
- 50
Ein Anspruch auf Prozesszinsen für Steuervergütungen setzt gemäß § 236 AO voraus, dass die Steuervergütung durch oder aufgrund einer rechtskräftigen gerichtlichen Entscheidung gewährt wird. Die Zinsen werden jedoch von der Behörde durch Bescheid festgesetzt. Das Finanzgericht kann erst nach entsprechendem Vorverfahren mit der Sache befasst werden.
- 51
Erstattungen oder Nachzahlungen von Kindergeld nach dem BKGG sind nach § 44 SGB I mit 4 v.H. zu verzinsen. Diese Vorschrift gilt jedoch nur für die Verzinsung von sozialrechtlichen Ansprüchen, nicht aber für das von der Klägerin aufgrund der §§ 62 ff. EStG bezogene Kindergeld; dabei ist unerheblich, ob oder inwieweit Kindergeld materiell teilweise zur Förderung der Familie (vgl. § 31 Satz 2 EStG) gewährt wird (BFH-Urteil vom 20.04.2006 - III R 64/04, BFHE 212, 416, BStBl II 2007, 240).
- 52
Öffentlich-rechtliche Erstattungsansprüche gemäß § 37 Abs. 2 AO sind nur dann zu verzinsen, wenn dies gesetzlich vorgeschrieben ist. Eine entsprechende Vorschrift ist für den Streitfall nicht erkennbar.
- 53
Der Zinsanspruch kann auch nicht auf §§ 286, 288 Abs. 1 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) gestützt werden. Diese Vorschriften über die Folgen des Verzuges gelten nur für zivilrechtliche Ansprüche, nicht aber für einen Steuervergütungsanspruch (BFH-Urteil vom 20.04.2006 - III R 64/04, a.a.O.).
- 54
Einen Anspruch auf Ersatz der durch die Kontopfändung entstandenen Kosten hat die Klägerin lediglich behauptet, aber weder dem Grunde noch der Höhe nach im Einzelnen dargelegt.
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Im Übrigen hat die Klägerin -wie oben dargelegt- auch keinen Anspruch auf die begehrte Kindergeldfestsetzung, so dass es an der von ihr behaupteten Kausalität zwischen der Untätigkeit der Beklagten und ihrer Zahlungsunfähigkeit mangelt.
- 56
IV. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
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Referenzen
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- § 9 AO 1x (nicht zugeordnet)
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- EStG § 39c Einbehaltung der Lohnsteuer ohne Lohnsteuerabzugsmerkmale 2x
- FGO § 40 2x
- § 120 Abs. 2 Nr. 1 AO 1x (nicht zugeordnet)
- § 124 Abs. 2 AO 4x (nicht zugeordnet)
- EStG § 70 Festsetzung und Zahlung des Kindergeldes 7x
- § 155 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 4 AO 1x (nicht zugeordnet)
- EStG § 31 Familienleistungsausgleich 3x
- § 124 Abs. 2 3. Alt. AO 1x (nicht zugeordnet)
- EStG § 62 Anspruchsberechtigte 3x
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