Urteil vom Finanzgericht Hamburg (4. Senat) - 4 K 12/17
Tatbestand
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Die Klägerin wendet sich gegen die Rücknahmen der Annahmen von fünf Zollanmeldungen.
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Die Klägerin, ein Handelsunternehmen für Sport- und Jagdwaffen, unterhält seit 2005 eine Geschäftsverbindung mit der russischen Gesellschaft A (im Folgenden: A). Die Vertragsparteien schlossen unter Wahl des russischen Rechts am 27.07.2011 den Vertrag Nr. XXX über die Lieferung von Jagd- und Sportmunition (im Folgenden: Vertrag vom 27.07.2011). Dort wird die Lieferung von ... Mrd. Stück Munition zu einem Kaufpreis von $ ... vereinbart. Menge und Kaufpreis der einzelnen Munitionstypen sind im Anhang 1 zu dem Vertrag spezifiziert (Ziff. 1 und 2.2). In Ziff. 4 heißt es:
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4.1 The Goods should be delivered on terms FOB B (according to the terms of INCOTERMS 2010) till December 31, 2012.
[...]
4.3 The Goods will be delivered to the Buyers in lots. Nomenclature and quantity of lot of the Goods are defined by the Buyers' order.
Nach Ziff. 14.4 endete die Vertragslaufzeit am 31.12.2012.
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In der Folgezeit änderten die Vertragsparteien durch insgesamt zwölf Supplemente (supplements) den ursprünglichen Vertrag, etwa im Hinblick auf den Kaufpreis und die zu liefernden Mengen. Durch das Supplement Nr. 7 vom 05.02.2014 erfolgte die letzte Anpassung der zu liefernden Gesamtmenge und des Gesamtkaufpreises vor dem 01.08.2014. Durch die Supplemente Nr. 3, 4, 6 und 8 wurde sowohl das in Ziff. 4.1 genannten Lieferdatum als auch die Vertragslaufzeit (Ziff. 14.4) zunächst zweimalig um jeweils sechs Monate, sodann um ein Jahr und zuletzt mit Supplement Nr. 8 vom 15.12.2014 um drei Jahre verlängert.
Mit den fünf Zollanmeldungen vom 16.11.2016
* XXX-1,
* XXX-2,
* XXX-3,
* XXX-4 und
* XXX-5
meldete die Klägerin Patronen von A, die im Juli 2016 in ein Zolllager überführt worden waren, zur Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr an. Es handelt sich hierbei um Patronen der Kaliber YYY-1, YYY-2, YYY-3 (Anlagen A 18, A 22 und A 68 zum Vertrag vom 27.07.2011).
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Diese Zollanmeldungen wurden - wie bei früheren Einfuhren, die in Erfüllung des Vertrags vom 27.07.2011 erfolgt waren - zunächst am Tag der Anmeldung angenommen. Anders als in den vorherigen Fällen wurden die Waren jedoch nicht sogleich überlassen. Nachdem der Beklagte das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie konsultiert hatte, nahm er vielmehr am 29.12.2016 die Annahmen der Zollanmeldungen gemäß § 2 Nr. 11 AWG, Art. 27 UZK i. V. m. § 7 Abs. 1 ZollVG zurück. Die angemeldete Munition unterliege Teil I Abschnitt A der Ausfuhrliste und sei daher vom Einfuhrverbot nach § 77 Abs. 1 Nr. 6 AWV erfasst, weil sie nach dem 31.12.2014 in das Wirtschaftsgebiet verbracht worden sei. Das Supplement Nr. 8 vom 15.12.2014 werde als Neuvertrag bewertet, so dass die Ausnahme für vor dem 01.08.2014 geschlossene Altverträge nach § 77 Abs. 3 AWV nicht greife.
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Mit Bescheid vom 16.02.2017 lehnte der Beklagte den Antrag der Klägerin vom 06.02.2017 auf Aussetzung der Vollziehung der Rücknahmen der Zollanmeldungen ab. Ein gerichtlicher Eilrechtsschutzantrag wurde mit Beschluss des erkennenden Senats vom 01.03.2017 (4 V 23/17; im Folgenden: Eilbeschluss) zurückgewiesen.
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Bereits am 27.01.2017 hatte die Klägerin gegen die Bescheide vom 29.12.2016 Sprungklage erhoben, der der Beklagte mit Schriftsatz vom 24.02.2017 zustimmte. Zur Begründung bezieht sie sich auf das Privatgutachten von Professor Dr. C vom 29.09.2017 (Anlage K 25; im Folgenden: Gutachten C) und trägt im Wesentlichen vor: Die Altvertragsklausel im Beschluss 2014/512/GASP gelte - anders als ähnliche Regelungen bei anderen Embargos - zeitlich unbegrenzt. Die Prüfung, ob ein Altvertrag vorliege, müsse sich aus Gründen der Rechtssicherheit streng am Wortlaut der Vorschrift orientieren. Eine Auslegung der Altvertragsklausel in dem Sinne, dass sie nur denjenigen schütze, der konkret zur Abnahme verpflichtet sei, sei vom Wortlaut nicht mehr gedeckt. Es lasse sich der Altvertragsklausel im Beschluss 2014/512/GASP nicht entnehmen, dass den Parteien eines bestehenden Vertrags jede vertragliche Gestaltungsfreiheit genommen werden sollte. Durch die Erweiterung der Altvertragsklausel auf akzessorische Verträge ergebe sich vielmehr, dass sie nicht allein dem Bestandsschutz diene.
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Der Vertrag vom 27.07.2011 sei kein Rahmenvertrag, sondern ein langfristiger Kaufvertrag in Form eines Sukzessivlieferungsvertrags. Hieran ändere es nichts, dass der Vertrag für ein vertragswidriges Verhalten der Klägerin keine Sanktion enthalte oder bestimmte Fragen nicht regele, weil über die essentialia negotii Einigkeit bestanden habe. Während über einige Vertragsbestandteile hart verhandelt worden sei, sei die Vertragsverlängerung stets auf Zuruf erfolgt. Es sei den Vertragsparteien bei Abschluss des ursprünglichen Vertrags bewusst gewesen, dass die Vertragserfüllung auf einen längeren Zeitraum angelegt gewesen sei. Auch das Gutachten C komme zu dem Ergebnis, dass die im Vertrag vereinbarten Vertragspflichten auch nach Ablauf der jeweiligen Geltungszeit weiter bestünden. Die Supplemente hätten keine konstitutive Wirkung.
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Die Verlängerung des Lieferzeitraums sei keine wesentliche Änderung des bestehenden Vertrags. Nur der ursprüngliche Vertrag enthalte die wechselseitigen Verpflichtungen der Parteien. Ein Anspruch auf Warenlieferung sei nach dem Stichtag nicht neu geschaffen worden. Aus dem anwendbaren russischen Zivilrecht ergebe sich, dass die Verlängerung des Lieferzeitraums lediglich deklaratorisch sei, solange im Vertrag nicht ausdrücklich bestimmt sei, dass bei Ablauf der Vertragsdauer die Ansprüche aus den Verträgen erlöschen sollten. Eine Weigerung, die Restmenge nach Ziff. 4.3 abzunehmen, sei nach russischem Recht unzulässig und würde zu Schadenersatzansprüchen führen. Die Liefermenge sei zuletzt im Supplement Nr. 7 vom 05.02.2014 erhöht worden. Von dieser Menge schrieben die Vertragsparteien die seither gelieferten ... Patronen ab. Klauseln über die Dauer von Kaufverträgen beruhten in der Regel auf Anforderungen russischer Banken, die mit der Zahlungsabwicklung beauftragt seien. Sie seien rechtlich unsinnig, aber in Russland allgemein üblich und häufig Gegenstand von Standardverträgen. Daher sehe § 425 Abs. 3 des Zivilgesetzbuches der Russischen Föderation (ZGB) vor, dass ein Vertrag bis zur Erfüllung der vereinbarten Pflichten weiter gelte, außer es sei ausdrücklich bestimmt, dass diese Pflichten mit dem Ablauf der Vertragsdauer enden sollten.
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Im Ergebnis dienten die Einfuhren, um die es im vorliegenden Verfahren gehe, der Erfüllung des Lieferanspruchs aus dem Vertrag vom 27.07.2011 in der Fassung vom 05.02.2014. Die Vereinbarung vom 15.12.2014 zur Verlängerung des Vertrags sei rein deklaratorische Natur. Die auf dieser Grundlage durchgeführten Einfuhren hätten alle beteiligten Behörden über einen Zeitraum von ca. zwei Jahren nicht beanstandet.
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Der Eilbeschluss werde dem Beschluss 2014/512/GASP nicht gerecht. Dort sei die Verknüpfung zwischen der an sich verbotenen Handlung und der Vertragserfüllung nicht auf die Lieferung zur Erfüllung einer konkreten Lieferverpflichtung beschränkt. In Art. 2 Abs. 3 des Beschlusses sei neben der Einfuhr und der Beförderung von Rüstungsgütern auch deren Kauf verboten. Von diesen Verboten mache Art. 2 Abs. 4 des Beschlusses für Altverträge eine Ausnahme. Anders als § 77 AWV beschränke der Beschluss die Altvertragsklausel nicht auf die Einfuhr und die Beförderung. Die Ausnahmevorschrift erfasse demnach auch den Kauf von Gütern, soweit dies der Erfüllung von Altverträgen diene. Damit könne die Erfüllung der Altverträge auch auf andere Weise als durch Lieferung erfolgen. Anders als der Senat meine, erfasse die Altvertragsklausel in § 77 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 AWV im Lichte des Beschlusses 2014/512/GASP jedes Schuldverhältnis, zu dessen Erfüllung die Einfuhr, Verkauf oder die Beförderung diene.
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Die nach dem ursprünglichen Kaufvertrag geschuldete Konkretisierung von Liefermengen und -zeitpunkten sei ein akzessorischer Vertrag, der ebenfalls in der Altvertragsklausel genannt sei. Daran ändere es nichts, dass es sich hierbei nach deutscher Zivilrechtsdogmatik um ein Schuldverhältnis im engeren Sinne handele, weil nicht anzunehmen sei, dass dieses Verständnis innerhalb der EU verallgemeinerbar sei. Die vom Senat genannten Fracht- oder Finanzierungsverträge jedenfalls könnten nicht mit den "akzessorischen Verträgen" gemeint sein, da diese ohnehin nicht vom Verbot des § 77 Abs. 1 AWV erfasst wären.
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Bei der Auslegung des GASP-Beschlusses müsse ein Vergleich der Sprachfassungen vorgenommen werden. Die englische Formulierung "execution of contracts" sowie die französische Fassung "l'éxécution de contrats" ließen sich nicht nur als "Erfüllung" (von Verträgen) verstehen, sondern könnten auch mit "Durchführung" (von Verträgen) übersetzt werden. Dies lege ein weites Verständnis dessen nahe, was von der Altvertragsklausel erfasst sei.
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Bei konsequenter Anwendung des Grundsatzes, dass Ausnahmen eng auszulegen seien, müsse die Altvertragsklausel weit ausgelegt werden, weil sie den Grundsatz der Außenwirtschaftsfreiheit, der durch das Handelsembargo gegenüber Russland eingeschränkt werde, wiederherstelle.
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Weil sich aus dem Beschluss 2014/512/GASP nur ein Teilembargo ergebe, könne man aus dem Sinn und Zweck der Vorschrift nicht auf eine möglichst weitgehende Handelsbeschränkung schließen. Die Fassung der Altvertragsklausel sei Ausdruck eines politischen Kompromisses, ohne den das Embargo nicht zustande gekommen wäre.
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Die im Eilbeschluss vertretene Auffassung des Senats, das russische Recht bei der Beantwortung der Frage, ob die hier in Rede stehende Einfuhr unter die Altvertragsklausel falle, unberücksichtigt zu lassen, entbehre einer gesetzlichen Grundlage. Diese Auslegung, die die parteiautonome Rechtswahl ignoriere, stehe dem Vertrauensschutz, der in der Altvertragsklausel zum Ausdruck komme, diametral entgegen. Die Gefahr der Umgehung, die der Senat gesehen habe, habe sich im vorliegenden Fall nicht realisiert. Im Übrigen hätten Umgehungshandlungen durch eine zeitliche Befristung der Altvertragsklausel entgegengewirkt werden können.
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Die Klägerin beantragt,
die mit Bescheiden vom 29.12.2016 erfolgten Rücknahmen der Annahmen der Zollanmeldungen vom 16.11.2016 mit den Registrierkennzeichen
* XXX-1,
* XXX-2,
* XXX-3,
* XXX-4 und
* XXX-5
aufzuheben.
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Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
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Die Einfuhr der in Rede stehenden Waren aus Russland sei gemäß § 77 Abs. 1 Nr. 6 AWV verboten. Die Ausnahme für Altverträge gelte nicht. Da die Altvertragsregelung dem Bestandsschutz diene, könne sie sich nur auf die Erfüllung von vertraglichen Pflichten beziehen, die vor dem Stichtag des 01.08.2014 begründet worden seien. Hierdurch solle verhindert werden, dass der Importeur zu einem Vertragsbruch gezwungen werde. Die Änderungen des Vertrags vom 27.07.2011 nach dem Stichtag, insbesondere die Verlängerung durch das Supplement Nr. 8 vom 15.12.2014, seien vom Schutzzweck der Altvertragsregelung nicht erfasst. Der Vertrag vom 27.07.2011 habe mit Ablauf der genannten Gültigkeitsdauer geendet. Aus Art. 425 ZGB ergebe sich nicht, ob auch die Klägerin der Verlängerung der Vertragsdauer habe zustimmen müssen. Wegen der Struktur und des Charakters des Vertrags vom 27.07.2011 sei dieser als Rahmen- oder Grundvertrag zu betrachten, aus dem keine zwingende Abnahmeverpflichtung der Klägerin folge. Hierfür spreche das Gesamtvolumen des Vertrags, von dem nach fünf Jahren lediglich 15 % erfüllt worden seien. Hiervon ausgehend müsse der Vertrag von Anfang an auf eine Laufzeit von ca. 30-40 Jahren angelegt gewesen sein. Fernliegend sei es vor diesem Hintergrund, dass sich die Vertragsparteien von Anfang an für einen derartig langen Zeitraum hätten binden wollen. Der Vertrag enthalte lediglich Verpflichtungen für A, bis zu welchen Mengen und zu welchem Preis er Patronen liefern müsse. Hierfür spreche, dass der Vertrag keine Mindestabnahmemenge enthalte und auch keine Sanktionen für den Fall vorgesehen seien, dass die Klägerin keine Teilmengen abrufe.
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Bei der Entscheidung hat eine Sachakte des Beklagten vorgelegen, auf deren Inhalt ergänzend Bezug genommen wird.
Entscheidungsgründe
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Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg.
I.
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Die am 27.01.2017 erhobene Anfechtungsklage ist gemäß § 45 Abs. 1 S. 1 FGO ohne Vorverfahren zulässig. Der Beklagte, der über den außergerichtlichen Rechtsbehelf zu entscheiden hat, hat der Sprungklage gegenüber dem Gericht mit Schriftsatz vom 24.02.2017, mithin innerhalb eines Monats nach Zustellung der Klage, die am 31.01.2017 erfolgte, zugestimmt.
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Der Anfechtungsklage gegen die Rücknahmen der Annahmen der hier in Rede stehenden Zollanmeldungen fehlt nicht deshalb das Rechtsschutzbedürfnis, weil diese Zollanmeldungen mit der Übermittlung der jeweiligen Rücknahme der Annahmen der Zollanmeldungen im DV-System ATLAS am 29.12.2016 den Bearbeitungsstatus "ungültig" erhalten haben und dadurch nicht mehr im DV-System ATLAS bearbeitbar sind. Der Beklagte hat nämlich hierdurch nicht die zollamtliche Entscheidung getroffen, die Zollanmeldung gemäß Art. 174 UZK für ungültig zu erklären. Vielmehr hat er, wie er im Feld "Positionsbefund" der Rücknahmen erläutert hat, die Rücknahmen in der Form einer Ungültigerklärung der Zollanmeldungen übermittelt, weil eine Rücknahme im DV-System ATLAS nicht abbildbar ist. Für den Fall, dass die Klage Erfolg hat, könnten die hier in Rede stehenden Zollanmeldungen - sofern dies nicht im DV-System ATLAS möglich ist - in anderer Weise bearbeitet und die Ware überlassen werden. Da gemäß Art. 158 Abs. 2 UZK i. V. m. Art. 14 ÜDelVO die Zollanmeldung bei der Überlassung zum zollrechtlich freien Verkehr auch mit anderen Mitteln als der der elektronischen Datenverarbeitung abgegeben werden kann, ist es dem Beklagten unionsrechtlich erlaubt, die Überlassung der Waren auf anderem Wege als über das DV-System ATLAS zu veranlassen.
II.
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Die Klage hat in der Sache keinen Erfolg.
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Die mit Bescheiden vom 29.12.2016 erfolgten Rücknahmen der Annahmen der Zollanmeldungen vom 16.11.2016 mit den Registrierkennzeichen XXX-1, XXX-2, XXX-3, XXX-4 und XXX-5 sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 S. 1 FGO).
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Ermächtigungsgrundlage für die Aufhebung der Annahmen ist Art. 28 Abs. 1 Buchst. a) UZK (dazu 1.). Die Voraussetzungen dieser Norm liegen vor: Die Einfuhren unterliegen dem Importverbot (dazu 2.). Sie werden nicht durch die Altvertragsklausel von ihm ausgenommen (3.).
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1. Ermächtigungsgrundlage für die als "Rücknahme" bezeichneten Aufhebungen der Annahmen der Zollanmeldungen ist Art. 28 Abs. 1 Buchst. a) UZK, der auf den vorliegenden Fall anwendbar ist, weil die Zollanmeldung nach dem 01.05.2016 abgegeben wurde. Nach dieser Vorschrift wird eine begünstigende Entscheidung, zu der auch die Annahme der Zollanmeldung gehört, außer in den Fällen des Art. 27 UZK widerrufen, wenn eine Voraussetzung für ihren Erlass nicht erfüllt war.
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Ein Fall des Art. 27 UZK liegt nicht vor, weil die Entscheidungen über die Annahmen der Zollanmeldungen nicht auf der Grundlage unrichtiger oder unvollständiger Informationen getroffen wurden. Die Annahmen der Zollanmeldungen wurden vielmehr aufgehoben, weil sich die rechtliche Bewertung des der Einfuhr zu Grunde liegenden Kaufgeschäfts geändert hatte.
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Eine Umdeutung der Rücknahmen in Widerrufe ist möglich. Sowohl die Rücknahme (Art. 27 Abs. 1 UZK) als auch der Widerruf (Art. 28 Abs. 1 UZK) sind gebundene Entscheidungen. Da die Rücknahme ex tunc-Wirkung hat (Art. 27 Abs. 3 UZK), der Widerruf dagegen erst ab Bekanntgabe wirksam wird (Art. 28 Abs. 4 Unterabs. 1 i. V. m. Art. 22 Abs. 4 S. 1 UZK), stellt der Widerruf eine weniger beeinträchtigende Maßnahme dar.
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Der Tatbestand von Art. 28 Abs. 1 Buchst. a) UZK ist erfüllt. Die Voraussetzungen für die Annahme der Zollanmeldungen lagen nicht vor. Nach Art. 172 Abs. 1 UZK werden Zollanmeldungen, die die Anforderungen des Kap. 2 von Titel 5 UZK (Art. 158 ff. UZK) erfüllen, von den Zollbehörden unverzüglich angenommen. Zwar erfüllen die Zollanmeldungen grundsätzlich die Voraussetzungen des Art. 158 ff. UZK. Sie unterliegen jedoch der zollamtlichen Überwachung (Art. 134 Abs. 1 Unterabs. 1 S. 1 UZK). Hierzu gehören auch Verbote und Beschränkungen (Art. 134 Abs. 1 Unterabs. 1 S. 2 UZK). Hieraus folgt, dass die Zollstellen die Annahme der Zollanmeldung ablehnen müssen, wenn Verbote und Beschränkungen entgegenstehen (§ 7 Abs. 1 Nr. 3 ZollVG i. d. F. vom 10.03.2017; BGBl. I 425). Dies ist hier der Fall, weil die Überführung der hier in Rede stehenden Waren aus dem Zolllager in den zollrechtlich freien Verkehr (Art. 201 UZK) - Einfuhren im Sinne des Außenwirtschaftsrechts (§ 2 Abs. 11 S. 2 Nr. 2 des Außenwirtschaftsgesetzes vom 06.06.2013; BGBl. I 1482) - dem Importverbot des § 77 Abs. 1 Nr. 6 AWV unterliegen (dazu 2.) und die Ausnahmevorschrift des §§ 77 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 AWV nicht zur Anwendung kommt (dazu 3.).
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2. Die hier in Rede stehenden Patronen unterfallen dem Importverbot des § 77 Abs. 1 Nr. 6 der Außenwirtschaftsverordnung (AWV) vom 02.08.2013 (BGBl. I 2865) in der Fassung von Art. 1 Nr. 10 der 3. Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung vom 31.10.2014 (BAnz AT v. 06.11.2014; BT-Drs. 18/3257 vom 20.11.2014). Danach ist die Einfuhr und der Erwerb von in Teil I Abschnitt A der Ausfuhrliste erfassten Gütern aus Russland - unabhängig vom Ursprung der Waren - verboten. Mit dieser Vorschrift wurde Art. 2 Abs. 3 des Beschlusses 2014/512/GASP des Rates vom 31.07.2014 über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren (ABl. EU L 229/13), zuletzt verlängert bis zum 31.01.2018 durch Beschluss (GASP) 2017/1148 des Rates vom 28.06.2017 (ABl. EU L 166/35), umgesetzt. Danach ist die Einfuhr von Rüstungsgütern, einschließlich Waffen und Munition, aus Russland durch Staatsangehörige der Mitgliedstaaten untersagt. Dieses Verbot ist auf die aus Russland eingeführten Patronen anwendbar, da sie von Ziff. 0003 Buchst. a) Teil I Abschnitt A der Ausfuhrliste (Anlage 1, Anlage AL zur AWV; BAnz AT v. 17.07.2015 V1, 5-37) erfasst sind.
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3. Die hier in Rede stehenden Patronen werden nicht durch die Ausnahme für Altverträge, die seit der 7. Verordnung zur Änderung der Außenwirtschaftsverordnung vom 19.12.2016 (BAnz AT v. 23.12.2016; BT-Drs. 18/10829 v. 13.01.2017) in § 77 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 AWV niedergelegt ist (im Folgenden: Altvertragsklausel), vom Einfuhrverbot ausgenommen. Nach dieser Vorschrift gilt das Einfuhrverbot nach § 77 Abs. 1 AWV nicht für Güter, deren Lieferung der Erfüllung von Verträgen oder Vereinbarungen dient, die vor dem 01.08.2014 geschlossen wurden (im Folgenden: Altverträge).
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Die Auslegung der Altvertragsklausel muss - wie immer bei der Auslegung von Rechtsnormen - vom Wortlaut ausgehen. Gleichzeitig ist der Sinn und Zweck der Vorschrift zu erforschen, wobei systematische und teleologische Auslegungsmethoden nebeneinander zum Anwendung kommen (Hess. VGH, Urt. v. 14.10.2009, 6 A 2113/08, juris Rn. 49). Anders als die Klägerin meint, kann der Entscheidung des Hessischen Verwaltungsgerichtshofs vom 16.08.2016 (6 A 1996/14, juris Rn. 35) nicht entnommen werden, dass im vorliegenden Fall der Wortlaut der Vorschrift eine größere Bedeutung hat, als ihm allgemein bei der Auslegung von Rechtsnormen zukommt. In jenem Verfahren ging es nämlich um die spezielle Problematik der Auslegung des generischen Begriffs "Rüstungsmaterial" im Sinne der Ausfuhrliste.
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Ferner ist zu berücksichtigen, dass Ausnahmevorschriften - wie die Altvertragsklausel - eng auszulegen sind (EuGH, Urt. v. 23.10.2014, C-302/13, EU:C:2014:2319, Rn. 27 - flyLAL-Lithuanian Airlines; Schlussanträge GA Bobek v. 27.10.2016, C-551/15, ECLI:EU:C:2016:825, Rn. 44 - Pula Parking). Da es bei dem Grundsatz, dass Ausnahmen eng auszulegen sind, darum geht, dem Systemgedanken im Recht Rechnung zu tragen, muss der jeweils konkrete Bezugsrahmen von Regel und Ausnahme bestimmt werden. Dies bedeutet im vorliegenden Fall, dass das Einfuhrverbot gemäß § 77 Abs. 1 AWV zwar eine Ausnahme von der Außenwirtschaftsfreiheit darstellt. Im Verhältnis zu diesem Verbot stellt die Altvertragsklausel jedoch ihrerseits eine (Rück-)Ausnahme dar und muss entsprechend eng ausgelegt werden, um das Verbot nicht auszuhöhlen.
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Durch § 77 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 AWV wird Art. 2 Abs. 4 des Beschlusses 2014/512/GASP in der Fassung des Beschlusses 2014/872/GASP des Rates vom 04.12.2014 (ABl. EU L 349/58) umgesetzt (BT-Drs. 18/3257, S. 14). Danach gilt insbesondere das Verbot nach Art. 2 Abs. 3 des Beschlusses "unbeschadet der Erfüllung von Verträgen, die vor dem 1. August 2014 geschlossen wurden, oder von akzessorischen Verträgen, die für die Erfüllung dieser Verträge erforderlich sind [...]". Auch wenn die EU im Bereich der Handelsbeschränkungen für Waffen keine Kompetenz hat (Art. 346 Abs. 1 Buchst. b AEUV) und daher im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik beschlossene Maßnahmen durch mitgliedstaatliches Recht umgesetzt werden müssen, ist der Inhalt des Beschlusses für die Mitgliedstaaten bindend. Dies ergibt sich aus Art. 288 Abs. 4 S. 1 AEUV, nach dem Beschlüsse in allen ihren Teilen verbindlich sind. Bekräftigt wird dies in Art. 29 S. 2 EUV. Danach tragen die Mitgliedstaaten dafür Sorge, dass ihre einzelstaatliche Politik mit den Standpunkten der Union in Einklang steht (siehe Cremer in Callies/Ruffert, EUV/AEUV, 5. Aufl. 2016, Art. 29 EUV Rn. 4). Folglich ist § 77 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 AWV im Lichte von Art. 2 Abs. 4 dieses Beschlusses auszulegen.
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Eine am Beschluss 2014/512/GASP orientierte Auslegung ergibt zunächst, dass nicht zwischen "Verträgen" und "Vereinbarungen", die in § 77 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 AWV nebeneinander genannt werden, zu unterscheiden ist. Diese Formulierung geht darauf zurück, dass das Begriffspaar in der ursprünglichen Fassung von Art. 2 Abs. 4 des Beschlusses 2014/512/GASP, die Grundlage für die Umsetzung im seinerzeitigen § 77 Abs. 3 AWV war, enthalten war. Bereits durch den Beschluss 2014/872/GASP vom 04.12.2014 wurde das Tatbestandsmerkmal "Vereinbarungen" jedoch gestrichen. Mit dieser Präzisierung des Beschlusses 2014/512/GASP (so der dritte Erwägungsgrund des Beschlusses 2014/872/GASP) wurde dem Umstand Rechnung getragen, dass zwischen den Begriffen "Vertrag" (contract) und "Vereinbarung" (agreement) kein relevanter inhaltlicher Unterschied besteht, da es jeweils um eine rechtsgeschäftliche Verpflichtung zwischen zwei Rechtssubjekten geht. Daher soll im Folgenden auch nur von "Verträgen" die Rede sein.
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Dies vorausgeschickt ist § 77 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 AWV so zu lesen, dass er erstens nur die Erfüllung von konkreten schuldrechtlichen Leistungspflichten erfasst (dazu 3.1) und zweitens diese Leistungspflichten vor dem Stichtag begründet worden sein müssen (dazu 3.2.).
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3.1 Von der Altvertragsklausel erfasst und damit "Verträge" im Sinne von § 77 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 AWV sind nur konkrete Leistungspflichten (nach zivilrechtlicher Dogmatik: das Schuldverhältnis im engeren Sinne). Es reicht also nicht, dass der Vertrag, also das Bündel wechselseitiger Verpflichtungen (nach zivilrechtlicher Dogmatik: das Schuldverhältnis im weiteren Sinne), vor dem Stichtag abgeschlossen wurde. Zwar werden in der Regel der Abschluss eines Vertrags und das Entstehen einzelner Leistungspflichten zusammenfallen. Die Klägerin selbst hat in der mündlichen Verhandlung erwähnt, dass die Altvertragsklausel in den Beschluss 2014/512/GASP aufgenommen wurde, um die Auslieferung von in Frankreich gebauten Hubschrauberträgern zu ermöglichen, die Russland im Juni 2011 bestellt hatte (siehe www.zeit.de/politik/ausland/2015-09/frankreich-aegypten-kriegsschiffe-russland). Von dieser typischen Konstellation gingen die Mitgliedstaaten aus, als sie die Altvertragsklausel formuliert haben. In ihr entsteht mit dem Abschluss des Vertrags zugleich die schuldrechtliche Verpflichtung zur Lieferung.
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Fallen jedoch der Abschluss des Vertrags und das Entstehen konkreter Leistungspflichten auseinander, weil die konkrete Leistungspflicht - wie etwa bei einem Rahmenvertrag oder einem aufschiebend bedingten Kaufgeschäft - von weiteren Handlungen der Parteien (oder dritter Personen) abhängig ist, muss auf das Entstehen der konkreten Leistungspflicht abgestellt werden. Dies ergibt sich zum einen aus der Natur des Einfuhrgeschäfts, dem immer individualisierbare Waren zugrunde liegen. Konsequenterweise nennt Art. 2 Abs. 3 des Beschlusses 2014/512/GASP auch einzelne Transaktionen, nämlich Einfuhr, Kauf und Beförderung, die verboten sind. Zum anderen spricht der Schutzzweck der Altvertragsklausel, der im Vertrauensschutz liegt (so zu § 4 AWG: Simonsen in Wolffgang/Simonsen/Rogmann, AWR-Kommentar, 50. EL Dez. 2016, § 4 AWG Rn. 105), für dieses einschränkende Verständnis des Begriffs "Verträge" im Sinne von Art. 77 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 AWV. Mit der Altvertragsregel soll der Handlungskonflikt gelöst werden, zivilrechtlich zu einer Leistung verpflichtet zu sein, die öffentlich-rechtlich (und meist strafbewehrt) verboten ist. Hieraus folgt zunächst, dass sich das Vertrauen auf konkrete Lieferverpflichtungen beziehen muss.
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Gleichzeitig lässt sich hieraus ableiten, dass für die Inanspruchnahme der Altvertragsklausel eine vertragliche Verpflichtung - und nicht bloß ein vertragliches Recht - bestehen muss. Unter dem Aspekt des Vertrauensschutzes ist nur derjenige schutzwürdig, für den der genannte Zielkonflikt gilt. Wem dagegen lediglich das Recht zusteht, eine Leistung einzufordern, kann zugemutet werden, die öffentlich-rechtliche Handlungspflicht (Handelsverbot für bestimmte Waren) zu erfüllen, indem er die Leistung nicht in Anspruch nimmt. Das öffentliche Interesse an der effektiven Durchsetzung eines Embargos geht in diesem Fall dem (zivil)rechtlich fundierten Individualrecht vor, eine Leistung fordern zu dürfen. Dies ist hier auch deshalb der Fall, weil der Außenwirtschaftsverkehr prinzipiell anfällig ist für außergewöhnliche Marktentwicklungen oder Krisensituationen. Gerade Händlern von Waffen muss bewusst sein, dass derartige Waren besonders schnell mit Handelsbeschränkungen belegt werden.
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3.2 Erfasst von der Altvertragsklausel sind nur solche konkreten Leistungspflichten, die vor dem Stichtag entstanden sind. § 77 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 AWV (sowie Art. 2 Abs. 4 Beschluss 2014/512/GASP) ist damit so zu lesen, dass die Einfuhr der Erfüllung von konkreten Lieferpflichten, die vor dem 01.08.2014 begründet wurden, dienen muss. Konsequenterweise muss man nämlich, wenn man den Begriff "Verträge" durch "konkrete Leistungspflicht" konkretisiert, hinsichtlich des zeitlichen Anwendungsbereichs auf das Entstehen dieser Pflicht - und nicht auf den Abschluss des Vertrags - abstellen. Diese Auslegung ergibt sich auch unter Berücksichtigung des Tatbestandsmerkmals "Erfüllung". Erfüllt werden kann nämlich nur eine Leistungspflicht, die bereits entstanden ist. Atypische Leistungsverhältnisse, wie etwa Handschenkungen, bei denen eine Obligation zugleich mit der Erfüllung entsteht, hatten die Normgeber ersichtlich nicht vor Augen, weil die Regelung von gewerblichen Handelstransaktionen ausgeht, die in aller Regel auf schuldrechtlichen Vereinbarungen basieren, bei denen die Erfüllung der schuldrechtlichen Verpflichtung nachfolgt. Wenn § 77 Abs. 4 AWV und Art. 2 Abs. 4 Beschluss 2014/512/GASP also die Erfüllung eines Vertrags, der vor dem Stichtag geschlossen wurde, vom Importverbot ausnehmen, setzen sie voraus, dass in diesem Vertrag bereits eine Leistungspflicht begründet wurde, die durch eine nachfolgende Warenlieferung erfüllt wird. Schutzwürdig ist das Vertrauen eines Wirtschaftsbeteiligten in die rechtliche Zulässigkeit eines Kaufgeschäfts nämlich nur, soweit er zum Stichtag bereits verpflichtet war, eine bestimmte Leistung zu erbringen oder entgegenzunehmen (siehe oben 3.1).
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Es mag sein, dass die englische, französische und spanische Fassung (execution of contracts, l'exécution de contrats, ejecución de los contratos) von Art. 2 Abs. 4 des Beschlusses 2014/512/GASP auch mit "Durchführung" übersetzt werden kann. Abgesehen davon, dass die - gleichermaßen verbindliche - deutsche Fassung tatsächlich den Begriff "Erfüllung" verwendet, ist es für den Bedeutungsgehalt des Tatbestandsmerkmals "Erfüllung" im Sinne von Art. 2 Abs. 4 des Beschlusses nicht relevant, ob man es stattdessen mit "Durchführung" übersetzt. Dies ist eine rein begriffliche Frage, deren Beantwortung auf den oben dargelegten Bedeutungsgehalt des Tatbestandsmerkmals keinen Einfluss hat. Anders als die Klägerin meint, ist der Senat nämlich nicht der Auffassung, dass sich der GASP-Beschluss der deutschen Dogmatik bedient. Die deutsche Zivilrechtsdogmatik bietet lediglich ein sprachliches und konzeptionelles Handwerkszeug, um zu beschreiben, was inhaltlich von Art. 2 Abs. 4 des Beschlusses erfasst sein soll.
- 43
Etwas anderes ergibt sich nicht aus der durch den Beschluss 2014/872/GASP eingefügten "Präzisierung" - so der dritte Erwägungsgrund dieses Beschlusses -, nach der die Altvertragsklausel auch für akzessorische Verträge gilt, die "für die Erfüllung dieser [vor dem Stichtag geschlossenen] Verträge erforderlich sind". Zwar sind hiervon auch Verträge erfasst, die - wie das Supplement Nr. 8 - nach dem Stichtag geschlossen wurden. Sie müssen sich jedoch auf Verpflichtungen im oben dargestellten Sinne, also auf konkrete Leistungspflichten beziehen, die vor dem Stichtag begründet worden sind. Durch die akzessorischen Verträge, die nach dem Stichtag geschlossen werden dürfen, dürfen also keine eigenständigen, neuen schuldrechtlichen Obligationen entstehen. Durch die Verwendung des Begriffes "akzessorisch" wird deutlich, dass es lediglich um Hilfs- oder Begleitvereinbarungen gehen kann, mit denen vertragstypische Hauptpflichten erfüllt werden, die zum Stichtag bereits bestanden haben. Die nach Ziff. 4.3 des Vertrags vom 27.07.2011 geschuldete Konkretisierung von Liefermengen und Lieferzeitpunkten kann daher kein akzessorischer Vertrag im Sinne von Art. 2 Abs. 4 des Beschlusses 2014/512/GASP sein.
- 44
Zu diesen akzessorischen Verträgen können - anders als die Klägerin meint - auch die im Eilbeschluss genannten Fracht- oder Finanzierungsgeschäfte gehören. Zwar mögen Finanzierungsgeschäfte nicht nach Art. 2 Abs. 3 des Beschlusses 2014/512/GASP verboten sein. Sie können jedoch dem Verbot nach Art. 1 Abs. 1-3 des Beschlusses unterliegen. Ein akzessorischer Finanzierungsvertrag im Sinne von Art. 2 Abs. 4 des Beschlusses kann damit ein Finanzierungsgeschäft sein, das nach dem 11.09.2014 geschlossen wurde (anderenfalls würde es von der Altvertragsklausel in Art. 1 Abs. 4 des Beschlusses erfasst sein können), aber der Durchführung einer altvertraglichen Lieferverpflichtung dient. Die Erfassung von Frachtverträgen als akzessorische Verträge im Sinne von Art. 2 Abs. 4 des Beschlusses ergibt ebenfalls Sinn, weil man die Handelsverbote nach Art. 2 Abs. 1-3 des Beschlusses so verstehen kann, dass die Transportverträge, ohne die eine Handelstransaktion nicht abgewickelt werden kann, von diesen Verboten erfasst sind. Art. 2 Abs. 4 des Beschlusses stellt für Frachtverträge klar, dass diese nicht verboten sind, auch wenn sie nach dem Stichtag abgeschlossen werden.
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Entgegen der klägerischen Auffassung ist es für die Auslegung der Altvertragsklausel unerheblich, dass diese - anders als etwa Art. 2b Abs. 4 der Verordnung (EU) Nr. 692/2014 hinsichtlich des Krim-Embargos - keine zeitliche Befristung der Erfüllungsmöglichkeit bestehender Verträge vorsieht. Die Befristung der Altvertragsklausel im Krim-Embargo betrifft nämlich einzig den zeitlichen Anwendungsbereich der Norm. Rück- oder Gegenschlüsse auf die sachliche Reichweite der hier in Rede stehenden Altvertragsklausel sind nicht möglich.
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Soweit die Klägerin darauf abstellt, dass Art. 2 Abs. 4 des Beschlusses 2014/512/GASP eine Ausnahme auch von dem in Abs. 3 eigentlich verbotenen Kauf von Rüstungsgütern enthält, führt dies zu keiner anderen Entscheidung. Hieraus kann nämlich nicht geschlossen werden, dass die Altvertragsklausel in einem weiteren, über die Auslegung des Senats hinausgehenden Sinne zu verstehen sei. Die Nennung von Kaufgeschäften in Art. 2 Abs. 3 des Beschlusses hat nämlich einen sachlichen Grund. Dadurch, dass neben der Einfuhr auch der Kauf verboten ist, werden der bloße Erwerb von russischen Rüstungsgütern und deren direkte Versendung in Drittstaaten erfasst. Die Frage, welche Arten von (eigentlich nach Abs. 3 verbotenen) Käufen der Altvertragsklausel unterliegen, stellt sich bei dieser Konstellation genauso wie bei dem hier in Rede stehenden Import.
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Anders als die Klägerin meint, kann der Schutzzweck der Altvertragsklausel nicht in einem weiteren Sinne verstanden werden. Hiergegen spricht schon die formale Auslegungsregel, dass Ausnahmen eng auszulegen sind. Entscheidend ist jedoch, dass eine Altvertragsklausel die beabsichtigte Beugefunktion eines Handelsembargos - abhängig von den vorhandenen Altverträgen - erheblich abschwächen kann und damit auch die außenpolitische Handlungsfähigkeit der Union und ihrer Mitgliedstaaten beeinträchtigt wäre. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip gebietet die Wahrung der Außenhandelsfreiheit im Rahmen der Altvertragsklausel daher nur, soweit es um die Erfüllung bereits eingegangener Verpflichtungen geht. Ein solches Verständnis fügt sich ein in die in § 4 Abs. 4 S. 3 AWG zum Ausdruck kommende Wertung zur Zulässigkeit von Handelsbeschränkungen, die keine Altvertragsklausel enthalten. Nach dieser Vorschrift dürfen Beschränkungen und Handlungspflichten abgeschlossene Verträge nur berühren, wenn der in der Ermächtigung angegebene Zweck erheblich gefährdet wird. Hieraus folgt, dass eine Altvertragsklausel nicht zwingend erforderlich ist, um eine Handelsbeschränkung verhältnismäßig zu machen. Die rückwirkende Anwendung einer Sanktion ist vielmehr dann zulässig, wenn der Zweck der Beschränkung anderenfalls erheblich gefährdet wäre. Wenn dies zutrifft, ist es erst recht rechtlich statthaft, eine Altvertragsklausel auf die hier dargestellten Fälle zu beschränken.
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§ 4 Abs. 4 S. 3 AWG steht der hier vertretenen Sichtweise auch im Übrigen nicht entgegen. Diese Auffangregel für die rechtlichen Folgen von Handelsbeschränkungen für Altverträge, die durch die spezielle Altvertragsklausel in § 77 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 AWV verdrängt wird (Simonsen in Wolffgang/Simonsen/Rogmann, AWR-Kommentar, 50. EL Dez. 2016, § 4 AWG Rn. 105), geht ersichtlich von dem Normalfall aus, dass bereits durch Abschluss des Vertrags konkrete Lieferpflichten entstehen. Die hier inmitten stehende Problematik der Lieferoption wird weder in der Vorschrift selbst noch von ihren Kommentatoren (Krämer in Hocke/Sachs/Pelz, Außenwirtschaftsrecht, 2017, § 4 AWG Rn. 38; Simonsen in Wolffgang/Simonsen/Rogmann, AWR-Kommentar, 50. EL Dez. 2016, § 4 AWG Rn. 105; Stein/Thoms in Dorsch, 143. EL Sept. 2013, § 4 AWG Rn. 39; Gramlich, Außenwirtschaftsrecht 1991, S. 145) angesprochen.
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Zu Recht verweist die Klägerin auf die schwierigen politischen Verhandlungen zwischen den Mitgliedstaaten über die Reichweite des Russland-Embargos. So lässt sich auch die Fassung der Altvertragsklausel im Beschluss 2014/512/GASP erklären, die - worauf die Klägerin ebenfalls zu Recht hinweist - nach ihrem Wortlaut offen für verschiedene Auslegungen ist. Der Senat hält gleichwohl an seiner bereits im Eilbeschluss geäußerten Rechtsauffassung fest, weil nur diese Auslegung Missbrauchsmöglichkeiten beschränkt und der Altvertragsklausel klare Konturen verleiht, die den Wirtschaftsbeteiligten Rechtssicherheit bietet.
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3.3 Bei Anwendung dieser Auslegungsgrundsätze ist der Senat davon überzeugt, dass die hier in Rede stehenden Einfuhren nicht der Erfüllung eines Altvertrags dienen, sondern in Erfüllung einer Abnahmepflicht erfolgen, die nach dem Stichtag entstanden ist. Dies ergibt sich zum einen daraus, dass der Vertrag vom 27.07.2011 als Rahmenvertrag zu verstehen ist und folglich die Liefer- bzw. Abnahmepflicht erst mit der Anforderung einer konkreten Menge eines bestimmten Patronentyps, die für die hier in Rede stehende Lieferung nach dem Stichtag erfolgte, entstanden ist (dazu 3.3.1). Unabhängig davon ergibt sich die Unanwendbarkeit der Altvertragsklausel daraus, dass der ursprüngliche Vertrag zeitlich befristet war und somit durch das Supplement Nr. 8 neue vertragliche Pflichten von wesentlicher Bedeutung begründet wurden (dazu 3.3.2).
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3.3.1 Der Vertrag vom 27.07.2011 ist nicht als Sukzessivlieferungsvertrag, sondern als Rahmenvertrag zu verstehen, der für sich genommen weder für die Klägerin als Käuferin eine Verpflichtung zur Abnahme der Patronen noch für A als Verkäufer eine Verpflichtung zur Lieferung der Patronen begründet. Die konkrete Lieferverpflichtung entsteht erst dadurch, dass die Klägerin Patronen in einer bestimmten Beschaffenheit (nomenclature) und Menge (quantity) gemäß Ziff. 4.3 des Vertrags bestellt.
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Zwar ist in Ziff. 1 des Vertrags die Gesamtmenge von ... der ... in den Anhängen genannten Patronentypen genannt, die gemäß Ziff. 4.1 bis zum dort vereinbarten Zeitpunkt geliefert werden sollen. Der Verkäufer muss nach dem Wortlaut von Ziff. 8.1 auch eine Vertragsstrafe zahlen, wenn er nicht in dem Zeitraum, der in Ziff. 4.1 genannt ist, die Waren liefert. Dem Vertrag, der insoweit durch die Supplemente nicht verändert worden ist, fehlen gleichwohl entscheidende Vertragsbestandteile, um eine konkrete Lieferverpflichtung einerseits sowie eine Abnahme- und Zahlungsverpflichtung andererseits bereits im Zeitpunkt des Vertragsschlusses begründen zu können. Im Vertrag ist nämlich nicht spezifiziert, wann genau innerhalb der vereinbarten und vor dem Stichtag drei Mal verlängerten Laufzeit (Ziff. 4.1) welche Menge welchen Typs der über ... Milliarden Patronen geliefert werden soll. Allein anhand der Angaben in Ziff. 1 und Ziff. 4.1 wäre der Vertrag nicht durchführbar, weil A nicht wissen kann, wann sie welche Menge welchen Typs liefern soll bzw. wann die Klägerin spätestens verpflichtet sein soll, die Patronen abzunehmen. Hinzu kommt, dass neben dem Zeitpunkt auch die Anzahl der Teillieferungen völlig ungewiss ist. Weder weiß der Produzent A, wann, in welchem Umfang welchen Typs Patronen hergestellt und an die Klägerin geliefert werden sollen, noch weiß die Klägerin, zu welchem Zeitpunkt Patronen welchen Typs und in welcher Größenordnung abzunehmen sind. Im Zeitpunkt des Vertragsschlusses am 27.07.2011 waren Anzahl, Inhalt und Zeitpunkt der Teillieferungen völlig ungewiss.
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Der Vertrag kann auch nicht so verstanden werden, dass spätestens mit Ablauf des in Ziff. 4.1 bzw. 14.4 genannten Zeitpunkts alle Patronen geliefert werden sollen. Es ist nämlich völlig unrealistisch, dass ein Unternehmen wie die Klägerin, die nach eigenen Angaben einen Jahresumsatz von € ... Mio. hat, innerhalb von sechs oder zwölf Monaten eine derart gewaltige Menge Patronen abnehmen und den Kaufpreis von ca. € ... Mio. bezahlen könnte. Tatsächlich hat die Klägerin in den über fünf Jahren, in denen der Vertrag vom 27.07.2011 durchgeführt wurde, lediglich ca. 15 % der im Vertrag genannten Patronen angefordert.
- 54
Wenn man - was der Senat tatsächlich nicht tut (siehe unten 3.3.2) - die Rechtsauffassung der Klägerin zugrunde legt, dass der Vertrag wegen Art. 425 Abs. 3 ZGB trotz des in Ziff. 4.1 bzw. 14.4 genannten Endtermins zeitlich unbefristet geschlossen worden sei, wird noch deutlicher, dass der Vertrag vom 27.07.2011 nur als Rahmenvertrag verstanden werden kann. In diesem Fall könnte man noch nicht einmal in Erwägung ziehen, dass die Klägerin zu dem im Vertrag genannten Endzeitpunkt alle Patronen abnehmen müsste. Sie könnte in diesem Fall die Anforderung konkreter Mengen nach Ziff. 4.3 des Vertrags beliebig hinauszögern, ohne eine Vertragsverletzung zu begehen.
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Gegen eine konkrete Verpflichtung zur Abnahme von Patronen bereits im Zeitpunkt des Vertragsschlusses spricht ebenfalls, dass für die Klägerin nur für den Fall des Zahlungsverzugs eine Vertragsstrafe vorgesehen ist, nicht jedoch für den Fall, dass sie von ihrem Recht, gemäß Ziff. 4.3 des Vertrags konkrete Patronen zu bestellen, keinen Gebrauch macht. Auch aus der Vertragsstrafenklausel für den Verkäufer (Ziff. 8.1 des Vertrags) kann keine Abnahmepflicht abgeleitet werden. Zwar wird dort für ihn eine Vertragsstrafe für den Fall vereinbart, dass er die Waren nicht innerhalb der in Ziff. 4.1 des Vertrags genannten Frist liefert. Die Lieferpflicht nach Ziff. 4.1 entsteht jedoch erst mit der Anforderung konkreter Waren in konkreter Menge nach Ziff. 4.3 des Vertrags. Ohne konkrete Warenbestellung kann somit auch keine Vertragsstrafe für den Lieferanten entstehen.
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Auch wenn man - wie die Klägerin dies in der mündlichen Verhandlung getan hat - unterstellt, dass es im russischen allgemeinen Schuldrecht eine Pflicht zum Schadenersatz wegen der Nichterfüllung eines Vertrags gibt, lässt sich hieraus nichts für die Bestimmung der Reichweite der vertraglichen Verpflichtungen ableiten. Vielmehr ist es so, dass ein solcher Anspruch eine Vertragsverletzung voraussetzen würde. Eine solche kann von Seiten der Klägerin - wie dargelegt - nicht darin liegen, eine bestimmte Menge an Patronen nicht abzunehmen, ohne dass sie diese konkret angefordert hat.
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Vor diesem Hintergrund kann - unabhängig von der Frage, ob die Vertragsverlängerungen deklaratorischer oder konstitutiver Art waren - der Vertrag nur so verstanden werden, dass er die Konditionen festlegt, zu denen die Klägerin bis zu der in Ziff. 1 des Vertrags genannten Menge Patronen abnehmen darf, aber nicht muss. Alle Liefer- bzw. Abnahmeverpflichtungen standen unter dem Vorbehalt, dass die Klägerin in der Lage sein würde, Abnehmer für die Patronen russischer Provenienz zu finden, und dass sie konkret spezifizierte Ware anfordert. Ein so verstandener Vertrag lag auch im Interesse der Klägerin. Sie hatte nämlich dadurch Rechtssicherheit über ihre Einkaufspreise und konnte entsprechend ihre Weiterverkaufspreise kalkulieren.
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Auf den vorliegenden Fall angewendet bedeutet dies, dass die Leistungspflicht, deren Erfüllung die hier in Rede stehenden Einfuhren dienen, nach dem Stichtag begründet wurde. Diese Lieferungen wurden nämlich - wie sich aus der Bezugnahme auf das jeweilige Vorpapier in der Begründung der Rücknahmen der Annahmen der Zollanmeldungen ergibt - im Juli 2016 ins Zollgebiet der Union verbracht und dort in ein Zolllager überführt. Da die Lieferungen auf die Supplemente Nr. 11 und 12 abgeschrieben wurden, muss die Leistungspflicht von A, die zugleich die Abnahmepflicht der Klägerin ist, nach Abschluss dieser Supplemente, mithin nach dem 01.08.2014 erfolgt sein.
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Der Senat musste dem in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag nicht nachgehen. Diesen Beweisantrag versteht er so, dass hierdurch erstens das auf den Vertrag vom 27.07.2011 anwendbare russische Recht ermittelt und zweitens geklärt werden soll, ob dieser Vertrag im Lichte dieses Rechts eine konkrete Liefer- bzw. Abnahmepflicht für die Parteien begründete, die nicht zum 31.12.2014 erloschen ist.
- 60
Im Hinblick auf das anwendbare russische Recht war der Senat nicht zu einer Beweiserhebung verpflichtet. Auch wenn ausländische Rechtssätze für den deutschen Richter keine Tatsachen, sondern - einem Beweis an sich nicht zugängliche - Rechtssätze sind (Geimer in Zöller, 32. Auflage 2017, § 293 ZPO Rn. 14), ordnet § 293 S. 1 ZPO i. V. m. § 155 S. 1 FGO an, dass das in einem anderen Staate geltende Recht des Beweises bedarf, allerdings nur insofern, als es dem Gericht unbekannt ist. Hierbei steht es im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts, auf welche Weise es sich die Kenntnis von dem maßgeblichen ausländischen Recht verschafft (BGH, Urt. v. 30.04.1992, IX ZR 233/90, BGHZ 118, 151, juris Rn. 26). Vorliegend verfügt der Senat durch das von der Klägerin vorgelegte Gutachten C über die für die Streitentscheidung nötigen Kenntnisse des russischen Zivilrechts. Dort werden die Grundsätze der Vertragsauslegung behandelt. Die hier vorgenommene Auslegung, wann nach dem Vertrag vom 27.07.2011 eine konkrete Abnahmepflicht entsteht - nämlich erst nach konkreter Anforderung einer bestimmten Warenmenge -, bewegt sich innerhalb des im Gutachten C dargelegten Rahmens der Auslegung des Vertragswortlauts (Art. 431 Abs. 1 S. 1 ZGB). Letztlich bestätigt das Gutachten C die hier vertretene Auslegung. Dort (S. 14) heißt es nämlich, dass die Klägerin "vor einer aufgedrängten Abnahmeverpflichtung der Lieferantin durch das von ihrer Entscheidung abhängige Abruferfordernis gemäß Ziff.4.3 des Vertrags vom 27.[07].2011 geschützt" sei.
- 61
Soweit durch den Beweisantrag geklärt werden soll, wie der Vertrag im Lichte des russischen Zivilrechts auszulegen ist, handelt es sich um eine rechtliche Wertung, die des Beweises nicht zugänglich ist. Ein solcher Subsumtionsakt ist vielmehr die ureigene Aufgabe des Gerichts. Der Senat ist überzeugt, dass das gefundene Ergebnis - Rahmenvertrag mit Entstehung eine Abnahmepflicht erst durch konkrete Warenanforderung - nicht mit dem russischen Zivilrecht unvereinbar ist. Die Rechtsfigur des Rahmenvertrags ist seit 2015 in Art. 429 Abs. 1 ZGB gesetzlich positiviert. Auch wenn das Gutachten C die Frage der Anwendbarkeit dieser Norm auf den Vertrag vom 27.07.2011 offenlässt (S. 12), hat der Senat keinen Zweifel, dass Rahmenverträge auch vorher nach dem ZGB zulässig waren. Dies ergibt sich aus dem Hinweis im Gutachten, dass im Jahre 2015 eine "ausdrückliche" Regelung über Rahmenverträge ins ZGB aufgenommen worden sei. Dass sich der Senat hinsichtlich der Anwendung der Auslegungsregeln nicht außerhalb des nach russischem Recht Erlaubten bewegt, wurde bereits dargelegt.
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3.3.2 Unabhängig davon, ob man den Vertrag vom 27.07.2011 (in der Fassung des Supplements Nr. 7 vom 05.02.2014, mit dem der Vertrag letztmals vor dem Stichtag inhaltlich geändert wurde) als Rahmenvertrag versteht (so oben unter 3.3.1), erfolgten die hier in Rede stehenden Lieferungen auch aus einem anderen Grund nicht in Erfüllung eines Altvertrags: Die Auslegung des Vertrags vom 27.07.2011 im Lichte seiner nachfolgenden Änderungen ergibt nämlich, dass die Vertragsparteien eine zeitliche Befristung der Laufzeit des Vertrags bis zum jeweiligen Laufzeitende gewollt haben. Dies bedeutet, dass durch das Supplement Nr. 8 vom 15.12.2014, mit dem die Laufzeit des Vertrags vom 27.07.2011 bis Ende 2017 verlängert wurde, neue schuldrechtliche Pflichten begründet wurden (dazu 3.3.2.1). Dieser Neuabschluss stellt keine nur unwesentliche Änderung des Vertrags dar (dazu 3.3.2.2). Die auf der Grundlage des Vertrags vom 27.07.2011 in der Fassung ab dem Supplement Nr. 8 gelieferten Patronen, zu denen auch die hier in Rede stehenden Waren gehören, dienten mithin nicht der Erfüllung eines Altvertrags, sondern einer nach dem Stichtag geschlossenen neuen Abrede. Im Einzelnen:
- 63
3.3.2.1 Mit dem Supplement Nr. 8 vom 15.12.2014 wurde die Laufzeit des Vertrags vom 27.07.2011 verlängert; es hatte mithin konstitutive Wirkung. Gegen den deklaratorischen Charakter der im Vertrag niedergelegten Vertragslaufzeit sprechen bereits die Zeiträume, für die der Vertrag jeweils verlängert wurde. Während der Vertrag zunächst zweimal um sechs Monate verlängert wurde, folgte die dritte Verlängerung für ein Jahr und die letzte Verlängerung mit Supplement Nr. 8 vom 15.12.2014 sodann für drei Jahre. Wenn die Verlängerungen nur deklaratorisch gewesen wären, hätte die Länge der Laufzeit keine Rolle gespielt; man hätte daher eine Verlängerung für jeweils identische Zeiträume erwartet. Die zweimalige Verlängerung um lediglich sechs Monate mit der anschließenden Steigerung der Laufzeit von einem auf drei Jahre bringt vielmehr zum Ausdruck, dass die Vertragsparteien eine Testphase gewollt haben, nach dessen Ablauf die geschäftlichen Beziehungen hätten enden können.
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Genauso wie das Auftragsvolumen gegen eine konkrete Lieferpflicht spricht (siehe oben 3.3.1), ist es auch ein deutliches Indiz dafür, dass die wechselseitigen Pflichten aus dem Vertrag vom 27.07.2011 mit Ablauf der jeweiligen Vertragslaufzeit erlöschen sollten, soweit nicht konkrete Waren angefordert worden sind. Würden die Lieferpflichten, soweit sie nicht erfüllt worden sind, nach Ablauf der vereinbarten Laufzeit fortbestehen, wären die Vertragsparteien bei Abschluss des Vertrags immense wirtschaftliche Risiken eingegangen: A wäre in diesem Fall auf unabsehbare Zeit und zu für ihn nicht bestimmbaren Zeitpunkten der Anforderung von Patronen in nicht kalkulierbarer Menge ausgesetzt. Hierfür müsste er Produktionskapazitäten reservieren bzw. die ... verschiedenen Typen von Patronen, die zuletzt vor dem Stichtag Gegenstand des Vertrags waren (siehe Supplement Nr. 7), auf unbestimmte Zeit vorhalten. Auch wenn die Geschäftsbeziehung bereits bei Vertragsschluss seit mehreren Jahren bestand, konnte die Klägerin nicht plausibel machen, warum man gleichwohl dieses Risiko eingehen wollte. Im Gegenteil: Die Klägerin hat eingeräumt, dass die Vertragserfüllung über einen sehr langen Zeitraum erfolgen sollte und die kurzfristige Erfüllung die Leistungsfähigkeit beider Vertragsparteien überfordert hätte.
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Überdies hätte sich A in eine sehr schlechte Verhandlungsposition begeben, wenn die Lieferverpflichtung nicht zum vereinbarten Zeitpunkt erloschen wäre. Die Klägerin hätte dann nämlich keinen Anreiz gehabt, sich auf Preisänderungen einzulassen, die im Laufe der Zeit nötig gewesen wären und zu denen es im Verlauf der Geschäftsbeziehung tatsächlich kam (siehe die Supplemente Nr. 1, 4 und 7). Gerade wegen der Verpflichtung zur Lieferung sehr großer Mengen Patronen, die bei Hochrechnung der bisher abgerufenen Mengen erst nach vielen Jahren erfüllt sein würde, sind Veränderungen der Produktionskosten und des Rubel-Dollar-Wechselkurses zu erwarten. Es ist nicht im Ansatz nachvollziehbar, warum sich A durch eine von Anfang an unbefristete Lieferverpflichtung darauf hätte einlassen sollen, derartige Kostenveränderungen nicht auf die Klägerin abwälzen zu können.
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Die Klägerin hat keine anderen überzeugenden Gründe angegeben, warum die Klausel über die Vertragslaufzeit nur deklaratorischer Art sein soll. In der Stellungnahme des Rechtsanwalts D vom 12.12.2016 ist lediglich davon die Rede, dass derartige Klauseln "in der Regel auf Anforderungen der russischen Banken, die mit der Zahlungsabwicklung beauftragt sind", beruhten. Die Klägerin hat jedoch nicht dazu vorgetragen, warum im vorliegenden Fall eine solche Klausel aufgenommen wurde, zumal A ausschließlich als Verkäufer auftritt. Vor diesem Hintergrund ist es nicht nachvollziehbar, warum die Bank-1, bei der die Kaufpreise in US-Dollar eingezahlt werden sollen, auf einer solchen Klausel bestanden haben soll. Weiter hat die Klägerin - zuletzt in der mündlichen Verhandlung - lediglich darauf verwiesen, dass die Vertragsverlängerung, so wie sie erfolgte, von A gewünscht gewesen sei. Dies beschreibt jedoch nur, welche Partei den Anstoß für die Verlängerung gegeben hat, sagt jedoch nichts darüber aus, wie dieses Verhalten - Einigung über eine Vertragsverlängerung - rechtlich zu werten ist. Auch der Hinweis darauf, dass die Klägerin von einer langfristigen Lieferbeziehung ausgegangen sei, führt nicht weiter, weil der Vertrag tatsächlich regelmäßig verlängert wurde und damit die Frage, ob die Verlängerungen deklaratorisch oder konstitutiv waren, keine praktischen Auswirkungen auf die Durchführung des Vertrags hatte. Entscheidend ist vielmehr, ob die Beteiligten das Recht gehabt hätten, den Vertrag nicht zu verlängern. Diese Frage ist nach der oben dargelegten Interessenlage der Parteien nach Ansicht des Senats zu bejahen.
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Auch aus dem russischen Zivilrecht, das nach der Rechtswahlklausel (Ziff. 10.3 des Vertrags vom 27.07.2011) auf den Vertrag anwendbar ist, ergibt sich nicht, dass die vertraglichen Pflichten nach Auslaufen des Vertrags fortbestehen sollen. Insbesondere steht Art. 425 Abs. 3 ZGB dieser Betrachtung im Ergebnis nicht entgegen. Dort heißt es (Übersetzung nach Roggemann/Bergmann, Zivilgesetzbuch der Russischen Föderation [Erster Teil] von 1994, 1997):
- 68
"Durch Gesetz oder Vertrag kann bestimmt werden, dass das Ende der Gültigkeitsdauer das Erlöschen der Verpflichtungen der Parteien aus dem Vertrag nach sich zieht.
- 69
Ein Vertrag, in dem eine solche Bedingung fehlt, ist bis zu dem in ihm bestimmten Zeitpunkt gültig, zu welchem die Parteien die Erfüllung der Verpflichtungen beendet haben."
- 70
Hieraus folgt, dass grundsätzlich das Ende der vertraglich vereinbarten oder gesetzlich vorgesehenen Geltungsdauer des Vertrags nicht dazu führt, dass vorher im Vertrag begründete Verpflichtungen entfallen (Gutachten C, S. 13). Da im Vertrag vom 27.07.2011 eine ausdrückliche Regelung darüber fehlt, dass die vertraglichen Verpflichtungen nach Ende der Gültigkeitsdauer erlöschen, könnte man den Vertrag vom 27.07.2011 im Lichte von Art. 425 Abs. 3 ZGB so verstehen, dass auch bei Nichtverlängerung die vertraglichen Verpflichtungen weiter bestanden hätten. Bei dieser Lesart hätte die Verlängerung des Vertrags am 15.12.2014 durch das Supplement Nr. 8 keine konstituierende Wirkung gehabt. Die hier in Rede stehenden Lieferungen wären daher in Erfüllung des Vertrags vom 27.07.2011 in Gestalt des Supplements Nr. 7 vom 05.02.2014 erfolgt.
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Der Senat vermag jedoch auch unter Berücksichtigung von Art. 425 Abs. 3 ZGB den Vertrag vom 27.07.2011 nicht in diesem Sinne zu verstehen. Dies ergibt sich aus Folgendem: Die Fortgeltung der vertraglichen Pflichten über das Ende der Geltungsdauer des Vertrags hinaus, die Art. 425 Abs. 3 ZGB anordnet, kann durch Vereinbarung derogiert werden (Gutachten C, S. 13). Eine solche Vereinbarung liegt hier vor. Zwar lässt sich dem Vertrag vom 27.07.2011 und den Supplementen isoliert betrachtet eine solche Vereinbarung (ausdrücklich) nicht entnehmen. Sie ergibt sich jedoch aus der Gesamtschau der jeweils vorgenommenen Verlängerungen, die die Parteien viermal zu ganz unterschiedlichen Konditionen vereinbart haben (siehe oben). Hieraus folgt, dass sie selbst nicht davon ausgegangen sind, dass die ursprünglichen Verpflichtungen aus dem Vertrag vom 27.07.2011 über die vereinbarte Laufzeit hinaus fortbestehen. Ansonsten hätte die abgestufte Verlängerung keinen Sinn ergeben. Die von der Klägerin vorgebrachten und im Gutachten C (S. 14) wiedergegebenen Argumente, dass die Vertragsverlängerungen der "Klarstellung der Vertragslage" gedient und die Parteien veranlasst hätten, laufend im Gespräch zu bleiben, hält der Senat nicht für überzeugend. Die mehrmalige ausdrückliche Verlängerung der Vertragslaufzeit stiftet nämlich, wenn eigentlich die unbefristete Fortgeltungsfiktion aus Art. 425 Abs. 3 ZGB gelten soll, nur Verwirrung. Um im Gespräch zu bleiben, hätte es keiner "klarstellenden" Vertragsverlängerung bedurft.
- 72
Der Senat musste dem in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag auch nicht im Hinblick auf die hier inmitten stehende Frage der Rechtsnatur der Vertragsverlängerung nachgehen. Diesen Beweisantrag versteht er so, dass hierdurch zum einen das auf den Vertrag vom 27.07.2011 anwendbare russische Recht ermittelt und zum anderen geklärt werden soll, ob der Vertrag vom 27.07.2011 im Lichte dieses Rechts eine konkrete Liefer- bzw. Abnahmepflicht für die Parteien begründete, die nicht zum 31.12.2014 erloschen ist.
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Im Hinblick auf das anwendbare russische Recht war der Senat nicht zu einer Beweiserhebung verpflichtet. Der Senat durfte gemäß § 293 S. 1 ZPO i. V. m. § 155 S. 1 FGO die im Gutachten C niedergelegten Grundsätze der Vertragsauslegung berücksichtigen (siehe oben 3.3.1).
- 74
Die hier vorgenommene Auslegung, dass die Vertragsverlängerungen konstitutive Wirkung haben, bewegt sich innerhalb des im Gutachten C dargelegten Rahmens des ZGB. Sie erfolgt nicht im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung, die im russischen Recht nicht vorgesehen ist (Gutachten C, S. 13, 8). Der Senat hat nämlich nicht erforscht, was die Parteien vereinbart hätten, wenn sie einen im Vertrag nicht geregelten Sachverhalt gekannt hätten. Seine Exegese ist vielmehr das Ergebnis der von Art. 431 Abs. 1 S. 2 ZGB vorgesehenen Auslegung unklarer Vertragsbestimmungen unter Berücksichtigung anderer Vertragsbestimmungen und dem Sinn des Vertrags (Gutachten C, S. 8). Eine solche Gegenüberstellung von "Worte[n] und Ausdrücke[n]" hat der Senat vorgenommen, indem er die jeweils vereinbarten Endzeitpunkte des Vertrags in den Blick genommen und hieraus Schlüsse gezogen hat.
- 75
Soweit die Klägerin in dem Beweisantrag Beweis dafür anbietet, dass die Verlängerungen nur deklaratorischer Natur seien, muss der Senat dem nicht nachgehen. Es handelt sich hierbei nämlich um eine rechtliche Wertung, die des Beweises nicht zugänglich ist (siehe oben 3.3.1). Daher ist er auch nicht an die im Gutachten C geäußerte Ansicht, dass die Verlängerungen des Vertrags nur deklaratorischer Natur seien (S. 13 f.), gebunden. Im Übrigen wäre es auch nicht möglich zu ermitteln, wie im Einzelfall ein russisches Gericht den Vertrag auslegen würde.
- 76
Zur Klarstellung sei darauf verwiesen, dass selbst für den Fall, dass Art. 425 Abs. 3 ZGB die Fortgeltung der "Pflichten der Parteien" anordnen würde, die hier in Rede stehenden Einfuhren nicht unter die Altvertragsklausel fallen. Die Pflicht zur Lieferung der hier in Rede stehenden Patronen war nämlich keine Pflicht, die alleine aus dem Vertrag folgt. Wie oben (3.3.1) dargelegt, entsteht die Verpflichtung zur Lieferung konkreter Waren nämlich erst durch die Anforderung seitens der Klägerin, die hier nach dem Stichtag erfolgt ist.
- 77
3.3.2.2 Der Neuabschluss des Vertrags vom 27.07.2011 durch das Supplement Nr. 8 stellt auch keine nur unwesentliche Vertragsänderung dar. Soweit sich Gerichte bisher mit der Reichweite von Altvertragsklauseln befasst haben, haben sie zwischen wesentlichen Vertragsänderungen, die den Status als Altvertrag entfallen lassen, und unwesentlichen Änderungen, die bloße Modifikationen des Altvertrags darstellen, unterschieden (LG Hamburg, Urt. v. 03.07.2014, 311 O 71/13, juris Rn. 29). Wendet man dieses Differenzierungskriterium auf den vorliegenden Fall an, ergibt sich, dass die mit dem Supplement Nr. 8 vorgenommene Vertragsverlängerung eine wesentliche Veränderung des Vertrags vom 27.07.2011 darstellt, weil die Lieferverpflichtung für die am 15.12.2014 noch nicht abgerufenen Patronen ohne Abschluss des Supplement Nr. 8 mit Ablauf des Jahres 2014 erloschen wäre.
- 78
4. Da damit die Voraussetzungen von Art. 28 Abs. 1 Buchst. a) UZK vorliegen und es sich um eine gebundene Entscheidung handelt, waren die Annahmen der Zollanmeldungen zwingend zu widerrufen.
III.
- 79
Die Kosten des Verfahrens fallen der Klägerin zur Last (§ 135 Abs. 1 FGO).
- 80
Die Revision ist wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Reichweite der Altvertragsklausel in § 77 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 AWV, zu der es bisher keine Rechtsprechung gibt, zuzulassen (§ 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO).
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- ZollVG § 7 Nichtannahme der Zollanmeldung 2x
- 6 A 1996/14 1x (nicht zugeordnet)
- 6 A 2113/08 1x (nicht zugeordnet)
- § 4 AWG 6x (nicht zugeordnet)
- § 77 Abs. 4 S. 1 Nr. 2 AWV 10x (nicht zugeordnet)
- FGO § 135 1x
- § 77 Abs. 1 AWV 3x (nicht zugeordnet)
- FGO § 155 2x
- § 2 Nr. 11 AWG 1x (nicht zugeordnet)
- § 4 Abs. 4 S. 3 AWG 2x (nicht zugeordnet)