Urteil vom Finanzgericht Mecklenburg-Vorpommern (2. Senat) - 2 K 34/11

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin.

Die Revision wird zugelassen.

Der Streitwert wird auf 1.848,00 € festgesetzt.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten über Kindergeld für das Jahr 2007.

2

Die Klägerin bezog bis April 2009 Kindergeld für ihre im August 1984 geborene Tochter S. S ist nicht verheiratet. 2007 lebte sie jedoch noch mit ihrem damaligen Lebensgefährten, dem Vater ihres im August 2006 geborenen Sohnes, in einem gemeinsamen Haushalt in D. Ihre nach der Geburt ihres Kindes wieder aufgenommenen und auch im Streitjahr fortgesetzten Bemühungen, einen Ausbildungsplatz zu finden, blieben zunächst ohne Erfolg. Ab dem 09. Juli 2007 nahm S dann an einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme und ab dem 21. August 2007 an einer Berufsausbildung an der Fortbildungsakademie der Wirtschaft gGmbH mit einer Wochenarbeitszeit von 38,5 Stunden teil. Das Ausbildungsverhältnis wurde am 11. März 2009 gekündigt.

3

Mit Schreiben vom 03. April 2009 bat S die Beklagte, die Zahlung des Kindergeldes einzustellen. Die Einstellung der Zahlungen wurde unter dem 15. April 2009 verfügt. Einen am 22. April 2009 bei ihr eingegangenen Antrag, das Kindergeld weiterzuzahlen, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 26. Mai 2009 ab. Den hiergegen eingelegten Einspruch vom 28. Mai 2009 wies die Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 14. Oktober 2009 zurück.

4

Nach Lage der Akten hatten sich S und ihr Lebensgefährte im Jahr 2008 getrennt. Im Rahmen des Einspruchsverfahrens gegen den Bescheid vom 26. Mai 2009 bat die Beklagte die Klägerin um Vorlage von Einkommensnachweisen des (vormaligen) Lebensgefährten ihrer Tochter für die Zeit ab September 2006. Nachdem jener der Beklagten entsprechende Verdienstabrechnungen vorgelegt und S der Beklagten mit einem am 01. September 2009 dort eingegangenen Schreiben mitgeteilt hatte, ab August 2006 nur vom Einkommen ihres vormaligen Lebensgefährten gelebt zu haben, hob die Beklagte mit Bescheid vom 18. Mai 2010 die Festsetzung des Kindergeldes ab Januar 2009 nach § 70 Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes -EStG- auf. Mit ihrem hiergegen form- und fristgerecht eingelegten Einspruch wandte die nunmehr anwaltlich vertretene Klägerin ein, dass die von der Beklagten herangezogene Vorschrift für einen Unterhaltsanspruch ihrer Tochter – § 1615 l des Bürgerlichen Gesetzbuches -BGB- schon dem Grunde nach nicht einschlägig sei. S sei nicht aufgrund der in § 1615 l Abs. 2 BGB genannten Gründe gehindert gewesen, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, sondern weil sie sich in einem Ausbildungsverhältnis befunden habe. Außerdem sei die angebliche Unterhaltspflicht des Kindesvaters der Höhe nach falsch berechnet worden.

5

Mit weiterem Bescheid vom 21. September 2010 hob die Beklagte die Festsetzung des Kindergeldes für den Zeitraum von Januar bis Dezember 2007 gemäß § 70 Abs. 4 EStG auf. Gleichzeitig forderte sie die Klägerin auf, das für den Zeitraum von Januar bis Dezember 2007 überzahlte Kindergeld in Höhe von 1.848,00 € zurückzuzahlen. Auch hierbei führte sie aus, dass S’s Einkünfte und Bezüge unter Berücksichtigung der Unterhaltsleistungen des Kindesvaters den Jahresgrenzbetrag überschritten hätten.

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Den hiergegen form- und fristgerecht eingelegten Einspruch, wies die Beklagte mit Einspruchsentscheidung vom 15. Dezember 2010 zurück. Nach den Gründen der Einspruchsentscheidung, auf die wegen der Einzelheiten Bezug genommen wird (Bl. 371 bis 374 der Kindergeldakte Bd. II), beliefen sich S’s eigene Einkünfte und Bezüge im Jahr 2007 zwar nur auf 737,82 € (2.586,42 € Berufsausbildungsbeihilfe für die Zeit von Juli bis Dezember 2007 + 1.231,40 € Ausbildungsvergütung für die Zeit von August bis Dezember 2007 – 920,00 € Werbungskosten-Pauschbetrag – 180,00 € Kostenpauschale – 1.980,00 € als „Kinderfreibetrag“ bezeichnete pauschalierte Unterhaltsleistungen für das eigene Kind). Die Beklagte vertrat jedoch die Ansicht, dass S sich als Bezüge auch Unterhaltsleistungen in Höhe der Hälfte der Differenz zwischen ihren eigenen Einkünften und Bezügen und den (höheren) Einkünften des Vaters ihres Kindes zurechnen lassen müsse. Dessen Nettoeinkommen habe sich 2007 auf 19.315,33 € belaufen. Abzüglich des Werbungskosten-Pauschbetrages (920,00 €) und als „Kinderfreibetrag“ bezeichneter pauschalierter Unterhaltsleistungen für das eigene Kind (1.980,00 €) verblieben 16.415,33 €. Die Einkommensdifferenz habe sich auf 15.677,51 €, die Hälfte davon auf 7.838,76 € belaufen. Schon diese Unterhaltsleistungen hätten den maßgeblichen Grenzbetrag in Höhe von 7.680,00 € überschritten.

7

Hiergegen wendet die Klägerin sich mit ihrer am 17. Januar 2011 bei der Beklagten eingegangenen und an das Gericht weitergeleiteten Klage. Mit dem die Kindergeldfestsetzung für das Jahr 2007 betreffenden Schriftsatz ihres „Verfahrensbevollmächtigten“, der als „Klage und Antrag auf Prozesskostenhilfe“ überschrieben ist und die Beteiligten als „Klägerin“ und „Beklagte“ bezeichnet, beantragt dieser namens und kraft Auftrags der Klägerin „zunächst, der Antragstellerin unter Beiordnung des Unterzeichners Prozesskostenhilfe zu bewilligen. (…) Nach Gewährung von Prozesskostenhilfe wird beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 21.09.2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 15.12.2010 aufzuheben.“ In der Sache wendet die Klägerin ein, dass S schon dem Grunde nach keinen Unterhaltsanspruch aus § 1615 l BGB gegen den Vater ihres Kindes habe. Ein Unterhaltsanspruch nach dieser Vorschrift setzte voraus, dass die Mutter aufgrund der Betreuung ihres Kindes einer Erwerbstätigkeit nicht nachgehen könne. S sei aber nicht wegen der Betreuung ihres Kindes daran gehindert gewesen, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, sondern weil sie sich in einem Ausbildungsverhältnis befunden habe. Darüber hinaus wendet sich die Klägerin auch gegen die Höhe des von der Beklagten berücksichtigten Unterhaltsanspruches. Bei einem Nettoeinkommen des Vaters des Kindeskindes – dessen Höhe sie mit Nichtwissen bestreitet – von 19.315,33 € und Unterhaltsleistungen für 12 Monate in Höhe von 7.838,76 € würde dem Vater des Kindeskindes der Selbstbehalt nicht belassen. Dieser belaufe sich auf mindestens 1.000,00 € monatlich. Selbst wenn das Nettoeinkommen des Vaters des Kindeskindes sich auf 19.315,33 € belaufen hätte, könne sich daraus für zwölf Monate keine Unterhaltszahlungspflicht in Höhe von 7.838,76 € ergeben. Wäre dies der Fall, so wäre S sicherlich keine Berufsausbildungsbeihilfe von der Bundesagentur für Arbeit gewährt worden. Schließlich habe die Beklagte bei ihrer Berechnung außer Acht gelassen, dass vorrangig eine Unterhaltspflicht für das Kindeskind bestehe.

8

Eine Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin ist erst nach Ablauf der Klagefrist bei Gericht eingegangen. Mit Schriftsatz vom 23. Juni 2011 hat die Klägerin vorgetragen, dass die Klage unbedingt erhoben worden sei.

9

Die  Klägerin beantragt, den Bescheid der Beklagten vom 21. September 2010 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 15. Dezember 2010 aufzuheben sowie die Zuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren für notwendig zu erklären.

10

Die Beklagte beantragt, die Klage abzuweisen.

11

Sie hält die Klage für unzulässig. Es sei nicht erkennbar, dass die Klage unbedingt erhoben worden sei. Eine Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse sei nicht innerhalb der Klagefrist eingereicht worden.

12

Dem Senat lagen zwei Bände Kindergeldakten und die Gerichtsakten aus dem Verfahren 2 K 35/11 vor.

Entscheidungsgründe

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Über die Klage entscheidet der Senat gemäß § 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung -FGO- ohne mündliche Verhandlung, weil die Beteiligten – die Klägerin mit Schriftsatz vom 22. Mai 2012 und die Beklagte mit Schriftsatz vom 31. Mai 2012 – sich mit einer solchen Entscheidung einverstanden erklärt haben.

14

I.) Die Klage ist zulässig.

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Die Klägerin hat mit dem noch innerhalb der Klagefrist bei der Beklagten eingegangenen Schriftsatz ihres Prozessbevollmächtigten vom 17. Januar 2011 rechtzeitig Klage erhoben, vgl. § 47 Abs. 1 in Verbindung mit Abs. 2 FGO. Der Senat legt diesen Schriftsatz rechtsschutzgewährend als – unbedingt erhobene – Klage und nicht lediglich als Prozesskostenhilfeantrag aus, dem im Hinblick auf die nicht binnen Klagefrist vorgelegte Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Erfolg zu versagen gewesen wäre (vgl. zu diesem Problem Bundesfinanzhof -BFH- Beschlüsse vom 21. August 1995, VI B 17/94, BFH/NV 1996, 161; vom 19. Mai 2004, VIII B 291/03, BFH/NV 2004,1414; vom 19. November 1985, VII B 103/85, BFH/NV 1986,180; vom 17. November 2009, X S 30/09, BFH/NV 2010, 232; vom 01. Dezember 2010, IV S 10/10, BFH/NV 2011, 444; vom 11. Mai 2009, II S 6/09, juris und vom 03. Februar 2005, VII B 304/03, BFH/NV 2005, 1111; Bundesverwaltungsgericht -BVerwG- Beschluss vom 16. Oktober 1990, 9 B 92/90, juris). Zwar hat der BFH in seinem Beschluss vom 19. Mai 2004 (VIII B 291/03, BFH/NV 2004, 1414) ausgeführt, dass Ausführungen eines Prozessbevollmächtigten, er würde nach Bewilligung von Prozesskostenhilfe Klage erheben, in Verbindung mit der Bezeichnung der Klägerin im Rubrum des Schriftsatzes ausschließlich als „Antragstellerin“ nur dahin verstanden werden könnten, dass mit einem solchen Schriftsatz noch keine Klage erhoben worden sei. Im Rubrum des Schriftsatzes vom 17. Januar 2011, der als „Klage und Antrag auf Prozesskostenhilfe“ überschrieben worden ist, werden die Beteiligten jedoch schon als „Klägerin“ bzw. „Beklagte“ bezeichnet. Einer bereits mit diesem Schriftsatz unbedingt erhobenen Klage steht auch nicht entgegen, dass der Prozessbevollmächtigte mit ihm „zunächst“ Prozesskostenhilfe beantragt und weiter ausgeführt hat, nach Gewährung von Prozesskostenhilfe werde er beantragen, den angefochten Bescheid aufzuheben (vgl. zu einem insoweit vergleichbaren Fall auch BFH-Beschluss vom 21. August 1995, VI B 17/94, BFH/NV 1996, 161).

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2.) Die Klage ist jedoch nicht begründet.

17

Der angefochtene Bescheid und die Einspruchsentscheidung sind rechtmäßig und verletzen die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).

18

Die Beklagte hat die Festsetzung des Kindergeldes für den Zeitraum von Januar bis einschließlich Dezember 2007 zu Recht nach § 70 Abs. 4 EStG aufgehoben, weil ihr nachträglich bekannt geworden ist, dass S’s Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung geeignet und bestimmt waren, den nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG für das Jahr 2007 maßgeblichen Grenzbetrag von 7.680,00 € überschritten haben.

19

a.) S hat die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchstabe a bzw. Buchstabe c EStG im gesamten Jahr 2007 erfüllt, weil sie eine Berufsausbildung mangels Ausbildungsplatz zunächst nicht beginnen konnte bzw. später für einen Beruf ausgebildet worden war. Das stellen die Beteiligten nicht in Abrede. S’s ernsthaftes Bemühen, einen Ausbildungsplatz zu finden, wird im Übrigen durch zahlreiche Bewerbungsschreiben und Schreiben angeschriebener Ausbildungsbetriebe (Bl. 143 bis 168 und 170 bis 186 der Kindergeldakte Bd. I) und Ausdrucke aus der Datenbank der Bundesagentur für Arbeit (Bl. 140, 141, 190, 192 der Kindergeldakte Bd. I), denen zufolge S dort erst ab dem 04. Juni 2007 nicht mehr als Ausbildungsplatzsuchende geführt wurde, belegt. Für die Teilnahme an einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme ab dem 09. Juli 2007 liegt eine Teilnahmebescheinigung  (Bl. 196 der Kindergeldakte Bd. I) und für die Berufsausbildung ab dem 21. August 2007 eine Ausbildungs- und Verdienstbescheinigung der Fortbildungsakademie der Wirtschaft gGmbH (Bl. 210, 211 der Kindergeldakte Bd. I) vor.

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b.) S’s eigene Einkünfte und Bezüge beliefen sich 2007 nach der von der Klägerin insoweit nicht angegriffenen Berechnung der Beklagten in der Einspruchsentscheidung – ohne Unterhaltsleistungen – auf lediglich 737,82 €. Als eigene Bezüge sind ihr aber auch Unterhaltsleistungen des Vaters ihres Kindes in Höhe von 7.838,46 € zuzurechnen. Dieser Betrag entspricht der Hälfte der Differenz aus den – jeweils um die pauschalierten Aufwendungen für das Kindeskind gekürzten – Einkünften des Vaters ihres Kindes und ihren eigenen Einkünften und Bezügen (vgl. hierzu Ziffer 31.2.3 Abs. 1, Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 in Verbindung mit Ziffer 31.2.2 der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienlastenausgleichs – DA-FamEStG, BStBl. I 2009, 1030).

21

aa.) Bezüge im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG sind alle Zuflüsse in Geld oder Naturalleistungen, die nicht im Rahmen der einkommensteuerrechtlichen Einkünfteermittlung erfasst werden (BFH-Urteil vom 28. Mai 2009, III R 8/06, BStBl II 2010, 346). Zu den Bezügen eines Kindes gehören nicht nur dem Kind zugeflossene Unterhaltszahlungen seines Ehepartners oder des mit ihm nicht verheirateten Vaters eines Kindeskindes nach § 1615 l BGB einschließlich des nach § 1615 l Abs. 2 Satz 2 BGB gezahlten Betreuungsunterhaltes, sondern auch entsprechende Sach- und Naturalleistungen, die zur Bestreitung seines Unterhalts bestimmt oder geeignet sind.

22

bb.) Die Höhe der als Bezüge im Sinne von § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG anzusetzenden Unterhaltsleistungen lässt sich bei Ehegatten, die in einem gemeinsamen Haushalt leben, regelmäßig nur rechnerisch ermitteln, da sich die tatsächlichen Zu- und Abflüsse von Geldmitteln oder Gütern in Geldeswert innerhalb einer bestehenden ehelichen Lebensgemeinschaft zumeist nicht nachvollziehen lassen. Deshalb sind die Unterhaltsleistungen des zum Unterhalt verpflichteten Ehepartners in diesen Fällen regelmäßig zu schätzen. Bei einer kinderlosen Ehe, in der allein ein Ehepartner verdient und ein durchschnittliches Nettoeinkommen erzielt, entspricht es der Lebenserfahrung, dass dem nicht verdienenden Ehepartner in etwa die Hälfte des Nettoeinkommens in Form von Geld- und Sachleistungen als Unterhalt zufließt. Verfügt das Kind auch über eigene Mittel, ist zu unterstellen, dass sich die Eheleute ihr verfügbares Einkommen teilen. Bei Prüfung der Frage, in welcher Höhe dem geringer verdienenden Ehegatten Unterhaltsleistungen seitens des höher Verdienenden als Bezüge zuzurechnen sind, ist somit in der Regel nicht auf den tatsächlichen Zufluss von Unterhaltsleistungen abzustellen (BFH-Beschluss vom 22. Dezember 2011, III R 8/08, BStBl II 2012, 340).

23

cc.) Der vorstehenden Rechtsprechung liegt zwar das Zusammenleben von Ehegatten in einem gemeinsamen Haushalt und ein aus der Ehe folgender Familienunterhaltsanspruch aus §§ 1360 ff. BGB zugrunde. Für ein Kind, das gegen den mit ihm nicht verheirateten Vater seines Kindes einen Unterhaltsanspruch aus § 1615 l BGB hat, kann aber nichts anderes gelten, wenn es mit dem Vater seines Kindes – wie im Streitfall – in einem gemeinsamen Haushalt lebt. Denn der Familienlastenausgleich – also auch das Kindergeld – dient der Umsetzung des sich aus Art. 3 des Grundgesetzes -GG- ergebenden Gebotes, eine aufgrund von Unterhaltspflichten gegenüber einem Kind verminderte Leistungsfähigkeit sachgerecht zu berücksichtigen. Umgekehrt darf dann das Erlöschen von Unterhaltspflichten nicht unberücksichtigt bleiben. Das Gesetz knüpft dementsprechend in typisierender Betrachtung an das Bestehen einer Unterhaltspflicht und eine typische Unterhaltssituation der Eltern gegenüber ihren Kindern an. Eine solche Unterhaltssituation besteht nach der Eheschließung grundsätzlich nicht mehr, weil ab diesem Zeitpunkt dem Kind in erster Linie – wie sich aus § 1608 Abs. 1 Satz 1 BGB ergibt – der Ehegatte zum Unterhalt verpflichtet ist (vgl. BFH-Urteil vom 02. März 2000, VI R 13/99, BStBl II 2000, 522). Eine mit dem Vater ihres Kindes nicht verheiratete Mutter kann aus Anlass der Geburt ihres Kindes einen Unterhaltsanspruch gegenüber dem Kindesvater aus § 1615 l BGB erwerben. Diese Unterhaltsverpflichtung des Kindesvaters geht ebenfalls der Verpflichtung der Eltern der Kindesmutter vor, § 1615 l Abs. 3 Satz 2 BGB. Die gesetzliche Unterhaltspflicht der Eltern gegenüber ihrer Tochter gemäß §§ 1601 ff BGB tritt zurück. Das Entstehen eines vorrangigen Unterhaltsanspruches gegenüber dem Kindesvater führt ebenso wie die vorrangige Unterhaltsberechtigung gegenüber dem Ehepartner des Kindes bei entsprechender Leistungsfähigkeit des vorrangig Unterhaltsverpflichteten zum Wegfall der Anspruchsvoraussetzungen für den Kinderfreibetrag bzw. das Kindergeld (vgl. BFH-Urteil vom 19. Mai 2004, III R 30/02, BStBl II 2004, 943).

24

dd.) Ob Geld- und oder Sachleistungen des mit dem Kind in einem gemeinsamen Haushalt zusammenlebenden Vaters des eigenen Kindes darüber hinaus auch dann Bezüge im Sinne des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG sind, wenn ein Unterhaltsanspruch aus § 1615 l Abs. 2 Satz 2 BGB nicht besteht – dafür könnte sprechen, dass es nach dem Wortlaut des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG ausreicht, dass die Bezüge zur Bestreitung des Unterhalts geeignet („…oder geeignet …“) sind – kann hier dahinstehen. Denn S hat nach der Geburt ihres Kindes im August 2006 einen – zumindest durch Sach- und Naturalleistungen erfüllten – Unterhaltsanspruch aus § 1615 l Abs. 2 Satz 2 BGB gegen den Vater ihres Kindes erworben. Das liegt für die Zeit bis zum 09. Juli 2007 auf der Hand. Der Unterhaltsanspruch bestand aber auch nach dem Beginn der berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme am 09. Juli 2007 und dem Beginn ihrer Berufsausbildung am 21. August 2007 jedenfalls bis Ende des Jahres 2007 fort (vgl. Ziffer 31.2.3 Abs. 1 Satz 7 DA-FamEStG).

25

Der hiervon abweichenden Rechtsauffassung des Niedersächsischen Finanzgerichtes, das im Anschluss an die – nicht tragenden – Gründe des Urteils des Finanzgerichts -FG- Münster vom 17. Juni 2010 (11 K 2790/09, EFG 2010, 1522) einen Unterhaltsanspruch der Kindesmutter gegen den (ebenfalls berufstätigen) Kindesvater aus § 1615 l Abs. 2 Satz 2 BGB verneint, wenn diese ihre Berufsausbildung in Vollzeit fortsetzt (vgl. Niedersächsisches FG, Urteil vom 27. Juni 2011, 16 K 123/11, EFG 2011, 1909; so nunmehr auch Sächsisches FG, Urteil vom 14. März 2012, 2 K 1569/11, veröffentlicht in juris), schließt sich der erkennende Senat nicht an. Sie misst dem Wortlaut des § 1615 l BGB nicht die notwendige Bedeutung bei und entspricht – soweit ersichtlich – auch nicht der Rechtsprechung der Familiengerichte.

26

Soweit die Mutter einer Erwerbstätigkeit nicht nachgeht, weil sie infolge der Schwangerschaft oder einer durch die Schwangerschaft oder die Entbindung verursachten Krankheit dazu außerstande ist, ist der Vater verpflichtet, ihr über die in § 1615 l Abs. 1 Satz 1 bezeichnete Zeit hinaus Unterhalt zu gewähren, § 1615 l Abs. 2 Satz 1 BGB. Das gleiche gilt nach dessen Satz 2, soweit von der Mutter wegen der Pflege oder Erziehung des Kindes eine Erwerbstätigkeit nicht erwartet werden kann. Die Unterhaltspflicht besteht nach dessen Satz 3 für mindestens drei Jahre nach der Geburt.

27

Anders als der Anspruch nach § 1615 l Abs. 2 Satz 1 BGB („Soweit die Mutter einer Erwerbstätigkeit nicht nachgehrt, weil …“) hängt der Anspruch aus § 1615 l Abs. 2 Satz 2 BGB nicht davon ab, dass die Mutter einer Erwerbstätigkeit nicht nachgeht. Er setzt seinem Wortlaut nach lediglich voraus, dass von ihr wegen der Pflege oder Erziehung des Kindes „eine Erwerbstätigkeit nicht erwartet werden kann“. Ist dies – wie im Streitfall – der Fall, weil das Kind erst im August 2006 geboren worden und daher selbst Ende des Jahres 2007 noch keine drei Jahre alt war, steht der Umstand, dass S ab dem 09. Juli 2007 an einer berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahme teilnahm und ab dem 21. August 2007 einer Berufsausbildung nachging, dem Anspruch aus § 1615 l Abs. 2 Satz 2 BGB nicht entgegen.

28

Für die Dauer der ersten drei Lebensjahre des Kindes hat der betreuende Elternteil die freie Wahl, ob er die Betreuung und Erziehung des Kindes in dieser Zeit selbst vornehmen möchte oder – um eine eigene Erwerbstätigkeit zu ermöglichen – staatliche Hilfen in Anspruch nimmt. Übt der betreuende Elternteil sein Wahlrecht dahin aus, dass er eine Erwerbstätigkeit aufnimmt und das Kind etwa in einer Kindertagesstätte oder von einer Tagesmutter betreuen lässt, ist zu beachten, dass ein Betreuungsbedarf des Kindes auch über die durch Fremdbetreuung abgedeckten Zeiten hinaus besteht. Deshalb verliert etwa eine Mutter ihren Unterhaltsanspruch nicht, wenn sie neben der Kinderbetreuung ihr Studium fortsetzt oder an einer vom Arbeitsamt geförderten Weiterbildungsmaßnahme teilnimmt (Brandenburgisches Oberlandesgericht -OLG- Urteil vom 02. März 2010, 10 UF 63/09, NJW-RR 2010, 874). Ein Unterhaltsanspruch aus § 1615 l Abs. 2 Satz 2 BGB entfällt auch nicht, wenn die Kindesmutter nach der Geburt ihres Kindes ihre Berufsausbildung fortsetzt (vgl. OLG Hamm, Beschluss vom 03. November 2010, II-8 UF 138/10, juris; vgl. auch Ziffer 31.2.3 Abs. 1 Satz 7 DA-FamEStG). Geht die betreuende Kindesmutter in den ersten drei Jahren einer Erwerbstätigkeit nach, sind die von ihr erzielten Einkünfte vielmehr überobligatorisch (vgl. OLG Bremen, Beschluss vom 20. Februar 2008, 4 WF 175/07, NJW 2008, 1745; Brudermüller in Palandt, 70. Auflage, § 1615 l BGB Rn. 11).

29

ee.) Hat S nach alledem einen Unterhaltsanspruch gegen den mit ihr 2007 noch in einem gemeinsamen Haushalt zusammenlebenden Vater ihres Kindes gehabt, ist der Wert der Unterhaltsleistungen nach den oben genannten Grundsätzen zu schätzen. Anlass zu einer solchen Schätzung bietet der Streitfall auch deshalb, weil S der Beklagten mit ihrem am 01. September 2009 dort eingegangenen Schreiben mitgeteilt hatte, ab August 2006 nur vom Einkommen ihres vormaligen Lebensgefährten gelebt zu haben, weil sie keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld II gehabt habe, da dessen Gehalt zu hoch gewesen sei, ab dem 09. Juli 2007 habe sie dann Berufsausbildungsbeihilfe bezogen. Das legt nahe, dass S und ihr damaliger Lebensgefährte „aus einem Topf“ gewirtschaftet haben und sie an dem Gesamteinkommen beider Lebensgefährten nach Abzug der Aufwendungen für das gemeinsame Kind etwa zur Hälfte partizipiert hat.

30

Die von der Beklagten vorgenommene Berechnung in der Einspruchsentscheidung lässt Fehler nicht erkennen, so dass der Senat sich diese für die hier vorzunehmende Schätzung zu eigen macht. Das von der Beklagten angenommene Nettoeinkommen des Vaters des Kindeskindes belief sich 2007 auf 19.315,33 €. Dieser Betrag wird durch die Verdienstabrechnung für den Dezember 2007 belegt und entspricht dem darin ausgewiesenen Gesamtbrutto-Entgelt für das Jahr 2007 abzüglich der dort ausgewiesenen Abzüge: Lohnsteuer, Solidaritätszuschlag, Kirchensteuer, Kranken-, Renten-, Arbeitslosen- und Pflegeversicherung (vgl. Bl 268 der Kindergeldakte Bd. II.). Dieser Betrag ist – da die Klägerin darüber hinausgehende Werbungskosten des Vaters des Kindeskindes nicht dargelegt hat – um den Werbungskosten-Pauschbetrag (920,00 €) zu kürzen. Der verbleibende Betrag (18.395,33 €) ist noch um die Aufwendungen des Vaters des Kindeskindes für sein Kind zu kürzen.

31

Der erkennende Senat hält es für sachgerecht, diese Aufwendungen unter Berücksichtigung des steuerlichen Existenzminimums für das Kindeskind pauschaliert zu berücksichtigen. Wie sich aus § 32 Abs. 6 Satz 1 und 2 EStG ergibt, belief sich das steuerliche Existenzminimum für ein Kind im Jahre 2007 auf 5.808,00 € jährlich, also 484,00 € monatlich. Dieser Betrag ist um das Kindergeld für das Kindeskind (1.848,00 € = 12 x 154,00 €) zu kürzen. Die verbleibenden Aufwendungen sind – dies hat die Beklagte bei der Berechnung S’s eigener Einkünfte und Bezüge berücksichtigt – jeweils zur Hälfte (1.980,00 €) der Mutter des Kindeskindes und dessen Vater zuzurechnen, wenn die Eltern des Kindeskindes – wie im Streitfall – in einem gemeinsamen Haushalt mit dem Kind zusammenleben (vgl. hierzu auch Ziffer 31.2.3 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 in Verbindung mit Ziffer 31.2.2 Abs. 3 Satz 8 DA-FamStG und Ziffer 63.4.3.4 Abs. 1 DA-FamEStG).

32

Nach alledem beliefen sich die Einkünfte des Vaters des Kindeskindes unter Berücksichtigung pauschalierter Aufwendungen für sein Kind auf 16.415,33 €. S’s eigene Einkünfte und Bezüge beliefen sich unter Berücksichtigung pauschalierter Aufwendungen für ihr Kind auf 737,82 €. Ihr die Hälfte der Differenz (7.838,76 €) als bezogene Unterhaltsleistungen zuzurechnen, ist unter den hier gegebenen Umständen sachgerecht.

33

II.) Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.

34

Der Senat hat die Revision nach § 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO zugelassen, weil er mit seiner Entscheidung von der Entscheidung des Niedersächsischen FG (Urteil vom 27. Juni 2011, 16 K 123/11, EFG 2011, 1909) abweicht und daher eine Entscheidung des Bundesfinanzhofes zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung erforderlich ist.

35

Der Streitwert war gemäß § 52 Abs. 1 und 3 des Gerichtskostengesetzes -GKG- mit dem in diesem Verfahren allein streitbefangenen Kindergeld für das Jahr 2007 festzusetzen.

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