Beschluss vom Finanzgericht Mecklenburg-Vorpommern (3. Senat) - 3 V 40/20
Tenor
Der Antrag auf Aussetzung der Vollziehung wird zurückgewiesen.
Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.
Die Beschwerde wird zugelassen.
Streitwert: € 476.082.
Tatbestand
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I. Die Beteiligten streiten um die Aussetzung der Vollziehung eines Haftungsbescheides.
1.
- 2
Der Antragsteller, ein unstreitig der deutschen Sprache nicht mächtiger tschechischer Staatsbürger, war Alleingesellschafter und Geschäftsführer der am 20.08.2013 gegründeten A Limited. Im Jahr 2013 wurde außerdem die B GmbH gegründet. Die A Limited erwarb das Grundstück … von der C KG und verpachtete es an die B GmbH. Die B GmbH stellte auf dem Gelände die Produkte Cleanol-7 und Mol-F her.
- 3
Gegen den Antragsteller und mehrere andere Personen wurde im Zusammenhang mit der Herstellung und dem Vertrieb dieser beiden Produkte ein Ermittlungsverfahren wegen Steuerhinterziehung geführt. Am 19.10.2016 fand bei der B GmbH eine Durchsuchungsmaßnahme statt. Der Antragsteller wurde sodann durch Urteil des Landgerichts D vom 06.07.2018 wegen Steuerhinterziehung zu einer Freiheitsstrafe von fünf Jahren verurteilt. Das Urteil wurde durch Zurückweisung der Revision rechtskräftig. Es beruhte auf den folgenden Feststellungen:
- 4
Der Antragsteller habe gemeinsam mit dem Mitangeklagten E von Anfang an den Plan verfolgt, die in F hergestellten Produkte gegenüber dem Hauptzollamt als Reinigungs- und Schmiermittel zu deklarieren, sie aber tatsächlich zur Verwendung als Kraftstoff oder Kraftstoffzusatz in Verbrennungsmotoren abzugeben. Es sei beabsichtigt gewesen, die dadurch entstehende Energiesteuer zu hinterziehen; daher seien die Produkte zur Verdeckung als Reinigungs- und Schmiermittel deklariert worden.
- 5
Bei dem Antragsgegner seien die Produkte wie folgt in die Kombinierte Nomenklatur (KN) Stand 01.01.2002 eingeordnet worden:
Cleanol-7:
Unterposition 27101999 KN („andere Schmieröle und andere Öle“)
Mol-F:
Unterposition 3824 9097 (3824 9097) KN („Zubereitete Bindemittel für Gießereiformen oder -kerne; chemische Erzeugnisse und Zubereitungen der chemischen Industrie oder verwandter Industrien (einschließlich Mischungen von Naturprodukten), anderweit weder genannt noch inbegriffen: andere“)
- 6
Der Antragsgegner habe der B GmbH am 16.10.2014 eine Erlaubnis zur steuerfreien Verwendung von Dieselkraftstoff zur Herstellung von Cleanol 7 erteilt. Am 26.10. und 10.11.2015 habe der Antragsgegner der B GmbH eine Erlaubnis zur steuerfreien Verwendung von Dieselkraftstoff zur Herstellung von MOL-F erteilt.
- 7
In der Folgezeit seien die Produkte hergestellt und im Zeitraum bis Oktober 2016 an Abnehmer in verschiedene europäische Länder verkauft worden. Der Antragsteller habe dabei zusammen mit dem Mitangeklagten E die führende Rolle eingenommen und die Geschäfte der B GmbH als faktischer Geschäftsführer geleitet. Die Konstruktion mit der A Limited als Verpächterin und der B als Herstellerin sei gewählt worden, um die verantwortliche Stellung des Antragstellers bei der Herstellung der beiden Produkte zu verschleiern.
- 8
Der Antragsteller habe sich zwar weder zur Person noch zur Sache eingelassen. Die Strafkammer sei jedoch aufgrund des im Urteil eingehend dargestellten Ergebnisses der Beweisaufnahme von dem Tatgeschehen überzeugt.
- 9
Der Antragsteller habe sich nach § 370 Abs. 1 Nr. 1 Abgabenordnung -AO- strafbar gemacht. Durch ihn und durch die weiteren Mitangeklagten sei gegenüber dem Antragsgegner konkludent erklärt worden, die beiden Produkte bestimmungsgemäß als steuerfreies Reinigungs- und Schmiermittel abzugeben. Das sei objektiv falsch gewesen, denn tatsächlich seien die Produkte als Kraftstoff beziehungsweise Kraftstoffzusatz abgegeben worden.
- 10
Das Urteil ist seit 13.11.2019 rechtskräftig. Der Antragsteller verbüßt derzeit die ausgeurteilte Strafe.
2.
- 11
Der Antragsgegner erließ am 03.02.2020 einen Haftungsbescheid gegen den Antragsteller (Streitakte Bl. 47). In dem Haftungsbescheid wurde die Energiesteuer auf insgesamt € 4.760.823,26 festgesetzt. Dem Antragsteller wurde aufgegeben, diesen Betrag zu zahlen.
- 12
Das Produkt Cleanol 7 sei tatsächlich zur Verwendung als Kraftstoff abgegeben worden; dadurch sei die Steuer nach § 23 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 EnergiestG entstanden. Für Mol-F sei die Energiesteuer nach § 30 Abs. 1 S. 1, 1. Alt. EnergiestG bereits durch Abweichen von der Betriebserklärung und der Bewilligung entstanden. Steuerschuldner sei jeweils die B GmbH. Nachdem der Antragsteller mit Urteil des Landgerichts D rechtskräftig wegen Steuerhinterziehung verurteilt sei, sei er nach § 71 AO in Haftung zu nehmen. Für die Berechnung der geschuldeten Energiesteuer wird auf die Anlage zum Haftungsbescheid, Streitakte Bl. 52 ff. verwiesen.
- 13
Mit Anwaltsschreiben vom 21.02.2020 (Streitakte Bl. 67) legte der Antragsteller Einspruch ein und beantragte die Aussetzung der Vollziehung. Zugleich beantragte er gemäß § 364 AO die Mitteilung der Besteuerungsunterlagen. Außerdem beantragte er mit Schreiben vom 05.05.2020 (Streitakte Bl. 69), ihm weiterhin die Nutzung eines Laptops zu ermöglichen, da er auf diesen für das laufende steuerliche Rechtsbehelfsverfahren dringend angewiesen sei.
- 14
Mit Schreiben vom 05.05.2020 (Streitakte Bl. 71) teilte der Antragsgegner dem Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers mit, dass das rechtskräftige Urteil des Landgerichts D die Grundlage für die Haftungsinanspruchnahme des Antragstellers bilde. In die Besteuerungsgrundlagen könne grundsätzlich nach Absprache in den Diensträumen des Hauptzollamtes Einsicht genommen werden. Das sei momentan jedoch aufgrund der Pandemiesituation nicht möglich. Mit Hinweis auf das dem Antragsteller bekannte Urteil des Landgerichts D seien die Besteuerungsgrundlagen bereits offengelegt, so dass kein Bedürfnis nach Akteneinsicht an Amtsstelle bzw. Übersendung von Aktenkopien zum Verbleib erkennbar sei.
- 15
Der Antragsteller wies mit Anwaltsschreiben vom 02.06.2020 (Streitakte Bl. 73) darauf hin, dass er keine Akteneinsicht beantragt habe, sondern die Offenlegung der Besteuerungsgrundlagen nach § 364 AO. Der Antragsteller habe einen Anspruch auf diejenigen Unterlagen, mit denen er die Entscheidung der Finanzbehörde nachvollziehen und prüfen könne. Der Hinweis auf das Strafurteil reiche keinesfalls aus. Einmal sei ihm nie eine tschechische Übersetzung des Urteils zur Verfügung gestellt worden, und insoweit sei ihm der Inhalt des Urteils nicht bekannt. Außerdem seien die ihm vorgeworfenen Steuerstraftaten offenbar abweichend rechtlich gewürdigt worden; das gelte auch für die Höhe der vermeintlichen Steuerschuld.
- 16
Der Antragsgegner wies mit Schreiben vom 11.06.2020 darauf hin, dass die Justizvollzugsanstalt über die Nutzung eines Laptops zu entscheiden habe. Mit Bescheid vom 11.06.2020 (Streitakte Bl. 77) lehnte der Antragsgegner den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung ab.
- 17
Die Justizvollzugsanstalt genehmigte dem Antragsteller die Benutzung eines eigenen Laptops nicht. Sein Antrag auf gerichtliche Entscheidung wurde durch Beschluss des Landgerichts D vom 10.08.2020 zurückgewiesen.
3.
- 18
Mit seinem am 27.07.2020 bei Gericht eingegangenen Antrag begehrt der Antragsteller die Aussetzung der Vollziehung. Er bringt zur Begründung vor:
- 19
Die Vollziehung könne schon dann auszusetzen sein, wenn die Finanzbehörde es unterlasse, dem Steuerschuldner trotz eines gestellten Antrages nach § 364 AO die Besteuerungsgrundlagen offenzulegen. Nach dieser Maßgabe sei vorliegend schon aus formalen Gründen die Aussetzung der Vollziehung zu gewähren, da die Besteuerungsgrundlagen dem Antragsteller bis heute nicht vollständig offengelegt worden seien. Ihm sei kein effektives rechtliches Gehör gewährt worden. Ein substantiierter Vortrag gegen die Richtigkeit der Feststellungen des Strafurteils sei ihm daher nicht möglich. Der Antragsteller habe auch nach der Richtlinie (EU) 2010/64 Anspruch auf eine Übersetzung der wesentlichen Unterlagen, also hier insbesondere des Strafurteils.
- 20
Die Verletzung des § 364 AO sei nicht durch die Verweisung auf eine Akteneinsicht geheilt worden. Mangels Mitteilung der Besteuerungsgrundlagen wisse der Antragsteller bis heute nichts über den Stand der primären Steuerforderung gegenüber der B GmbH. Weder könne beurteilt werden, ob die Steuerschuld inzwischen getilgt sei, noch ob der Antragsgegner sein Entschließungs- und Auswahlermessen fehlerfrei ausgeübt habe.
- 21
Darüber hinaus sei ihm vor Erlass des Haftungsbescheides gar kein rechtliches Gehör gewährt worden, ohne dass dafür ein Grund nach § 91 Abs. 2 und 3 AO vorgetragen oder ersichtlich sei. Schon dieser Umstand begründe ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Haftungsbescheides. Der Mangel sei nicht geheilt und könne nicht durch Gewährung des rechtlichen Gehörs im Gerichtsverfahren nachgeholt werden.
- 22
Der Haftungsbescheid genüge nicht den Formerfordernissen. Es fehle an der nach § 119 Abs. 3 S. 2 AO erforderlichen Unterschrift oder Namenswiedergabe des Behördenleiters, seines Vertreters oder seines Beauftragten.
- 23
Außerdem seien begründete Zweifel hinsichtlich der tatsächlichen Feststellungen, der Beweiswürdigung und der rechtlichen Würdigung durch das Landgericht D gegeben. Insoweit dürfe die Beweiswürdigung und rechtliche Würdigung nicht ungeprüft aus dem Strafverfahren übernommen werden; vielmehr sei eine eigenständige Prüfung geboten.
- 24
Der Straftatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO setze voraus, dass nicht nur unrichtige Angaben gegenüber der Finanzbehörde gemacht werden, sondern dass dadurch auch Steuern verkürzt werden. Die zuletzt genannte Voraussetzung sei hier nicht erfüllt. Selbst wenn man unterstelle, dass für jede Produktabgabe an Dritte inhaltlich unrichtige Avisierungen gegenüber der Zollbehörde erfolgt seien, habe dies keine steuerlichen Auswirkungen gehabt. Den Avisierungen sei keine steuerliche Bedeutung zugekommen.
- 25
Die Strafkammer habe keine Feststellungen dazu getroffen, dass der Antragsteller jemals beim Mischen oder beim Beladen der Fahrzeuge anwesend gewesen sei oder Avisierungen gegenüber der Zollbehörde vorgenommen habe.
- 26
Dem Antragsteller sei zu Unrecht die Stellung eines faktischen Geschäftsführers zugesprochen worden; die nach der Rechtsprechung erforderlichen Kriterien seien nicht erfüllt.
- 27
Im Strafverfahren seien die Tatsachen unzutreffend festgestellt worden. Das gelte insbesondere für die angeblich nicht erlaubniskonforme Produktion und Verwendung der Erzeugnisse Cleanol-7 und Mol-F.
- 28
Fehlerhaft sei schließlich auch die Berechnung der Höhe der Steuer.
- 29
Der Antragsteller beantragt,
die Vollziehung des Haftungsbescheides gemäß § 71 AO vom 03.02.2020 ab der ursprünglichen Fälligkeit auszusetzen.
- 30
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung abzulehnen, hilfsweise Aussetzung der Vollziehung lediglich gegen Sicherheitsleistung zu bewilligen.
- 31
Er vertritt die Auffassung, dass der Antrag nicht allein aufgrund einer unterbliebenen Offenlegung der Besteuerungsgrundlagen nach § 364 AO Erfolg haben könne. Die von dem Antragsteller zitierte Rechtsprechung betreffe Sachverhalte, in denen die strafrechtliche Ermittlung noch nicht abgeschlossen gewesen sei. Vorliegend beruhe der Haftungsbescheid jedoch nicht auf vorläufigen Ergebnissen der strafrechtlichen Ermittlung, sondern auf einem umfangreichen rechtskräftigen Urteil. Dem Antragsteller sei angesichts dessen der zugrundeliegende Sachverhalt in vollem Umfang bekannt. Es gebe vorliegend keinen Wissensvorsprung der Behörde, der durch Offenlegung der Besteuerungsgrundlagen ausgeglichen werden müsse.
- 32
Der Antragsteller habe keinen Anspruch auf Übersetzung in die tschechische Sprache, da ihm während des Strafverfahrens ein Dolmetscher zur Seite gestanden habe. Er habe auch einen Verteidiger besessen.
- 33
Aus dem Urteil des Landgerichts D ergebe sich nachvollziehbar und überzeugend, dass der Antragsteller eine Steuerhinterziehung begangen habe. Die Steuer sei auch der Höhe nach zutreffend berechnet.
- 34
Dem Gericht liegen eine Amtsakte und die Akte des Strafverfahrens vor.
Entscheidungsgründe
- 35
II. Der zulässige Antrag hat in der Sache keinen Erfolg. Die Aussetzung der Vollziehung setzt ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Haftungsbescheides voraus (unten 1.), wie sie vorliegend weder durch eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (unten 2.) noch durch formelle Fehler (unten 3.) oder durch eine unzureichende tatsächliche oder rechtliche Würdigung (unten 4.) begründet werden.
1.
- 36
Die Vollziehung ist auf Antrag auszusetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes bestehen (§ 69 Abs. 2 S. 2 in Verbindung mit Abs. 3 S. 1 und 2 Finanzgerichtsordnung -FGO-). Ernstliche Zweifel liegen dann vor, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Bescheids neben für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung entscheidungserheblicher Tatfragen bewirken. Die Entscheidung hierüber ergeht bei der im AdV-Verfahren gebotenen summarischen Prüfung aufgrund des Sachverhaltes, der sich aus dem Vortrag der Beteiligten und der Aktenlage ergibt. Zur Gewährung der AdV ist es nicht erforderlich, dass die für die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe im Sinne einer Erfolgswahrscheinlichkeit überwiegen (Bundesfinanzhof -BFH-, Beschl. vom 20.07.2012, V B 82/11, DStR 2012, 1702, 1703; BFH, Beschl. vom 03.09.2018, VIII B 15/18, BFH/NV 2018, 1279; ständige Rechtsprechung).
2.
- 37
Die Vollziehung des Haftungsbescheides ist nach diesem Maßstab nicht deshalb auszusetzen, weil dem Antragsteller die Besteuerungsunterlagen nicht offengelegt worden sind oder sonst das rechtliche Gehör verletzt ist.
a)
- 38
Die Vollziehung kann allerdings - worauf der Antragsteller im Ausgangspunkt zutreffend hinweist - allein deshalb ausgesetzt werden, weil die Finanzbehörde ihre Verpflichtung zur Offenlegung der Besteuerungsunterlagen nach § 364 AO nicht nachgekommen ist (BFH, Urt. vom 04.04.1978, VII R 71/77, BStBl II 1978, 402; FG Düsseldorf, Beschl. vom 19.03.2007, 16 V 4828/06 AHL, bei beck online). Wenn die Besteuerungsunterlagen nicht offengelegt worden sind, obwohl dies zur Gewährung des rechtlichen Gehörs erforderlich war, dann ist die Einspruchsentscheidung formell rechtswidrig. Die Hauptsacheklage kann allein wegen dieses Verfahrensfehlers Erfolg haben und eine Aufhebung ohne Sachentscheidung nach § 100 Abs. 3 S. 1 FGO rechtfertigen (Tipke/Kruse-Seer, AO/FGO, 162. Lief. § 364 Rn. 6). Ist noch keine Einspruchsentscheidung ergangen, so kann der Fehler zwar noch geheilt werden. Die Vollstreckung ist dann aber für diesen Verfahrensabschnitt, also bis zur Heilung des Mangels durch volle Gewährung des rechtlichen Gehörs und anschließenden Erlass der Einspruchsentscheidung, auszusetzen (FG Hamburg, Beschl. vom 30.01.2012, 4 V 4/12, bei beck online; FG Saarland, Beschl. vom 23.03.2020, 2 V 1042/20, EFG 2020, 908).
- 39
Der Anspruch aus § 364 AO dient der Gewährleistung des rechtlichen Gehörs. Der Begriff der „Unterlagen der Besteuerung“ ist grundsätzlich weit auszulegen. Er erstreckt sich auf alle Schriftstücke und Daten, die geeignet sind, die Sachverhaltsaufklärung zu beeinflussen. Dem als Haftenden in Anspruch Genommenen ist der Inhalt dieser Akten insoweit zugänglich zu machen, als diese für die Inanspruchnahme im Wege der Haftung erheblich sein können. Nicht offenzulegen sind jedoch solche Unterlagen, die dem Beteiligten schon vorliegen (BeckOK/AO-Birnbaum, 13. Ed. § 364 Rn. 15 f. und 21; Tipke/Kruse-Seer, AO/FGO, 162. Lief. § 364 Rn. 4).
b)
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Nach diesem Maßstab ist der Anspruch des Antragstellers auf Offenlegung der Besteuerungsunterlagen nicht verletzt worden.
- 41
Für die Frage, welche Unterlagen die Sachverhaltsaufklärung beeinflussen können und damit offenzulegen sind, ist auf die Besonderheit des vorliegenden Verfahrens abzustellen. Der Antragsgegner ist mit seinem Haftungsbescheid den Feststellungen eines rechtskräftigen Strafurteils gefolgt.
- 42
Wenn es vorliegend zur Hauptsacheklage kommt, dann ist das Finanzgericht zwar nicht an die Feststellungen des Strafgerichts gebunden. Es hat vielmehr grundsätzlich selbständig aufzuklären, ob der Tatbestand der Steuerhinterziehung erfüllt ist und eine Haftung nach § 71 AO begründet. Das Finanzgericht kann sich jedoch nach ständiger Rechtsprechung des BFH (Urt. vom 02.12.2003, VII R 17/03, DStRE 2004, 417, 419; Urt. vom 23.04.2014, VII R 41/12, DStRE 2014, 1143, 144; beide m. w. N.) die tatsächlichen Feststellungen, die Beweiswürdigung und die rechtliche Beurteilung des Strafverfahrens zu eigen machen, wenn nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung diese Feststellungen zutreffend sind. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Tatsachen, auf die es ankommt, bereits im Strafverfahren rechtskräftig festgestellt worden sind, die Beteiligten gegen diese Feststellungen keine substantiierten Einwendungen erheben und für das Gericht kein Grund besteht, gleichwohl eine weitere Aufklärung vorzunehmen.
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Aus diesem Verhältnis zwischen der Sachaufklärungspflicht des Gerichts und der Darlegungslast des Beteiligten ergibt sich, welche Unterlagen die Sachverhaltsaufklärung im Besteuerungsverfahren beeinflussen können und deshalb nach § 364 AO offengelegt werden müssen. Dazu gehören neben dem Strafurteil alle Unterlagen, die dem Beteiligten noch nicht vorliegen und die er benötigt, um die strafgerichtlichen Feststellungen substantiiert bestreiten zu können. In diesem Sinne hat der BFH (Urt. vom 04.04.1978, VII R 71/77, BStBl. II 1978, 402) entschieden, dass die Mitteilung von Anklageschrift und Strafurteil ausreicht, wenn dem Beteiligten damit genügend Unterlagen an die Hand gegeben werden, um den Haftungsbescheid überprüfen und sich dazu äußern zu können.
c)
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Das Strafurteil liegt jedenfalls dem Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers vor. Durch den Umstand, dass dem Antragsteller selbst keine Übersetzung in die tschechische Sprache zur Verfügung gestellt worden ist, ist sein Anspruch aus § 364 AO nicht verletzt worden.
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Nach der Rechtsprechung und dem Schrifttum zum Besteuerungsverfahren hat der Beteiligte keinen Anspruch darauf, dass ihm von Amts wegen ein Dolmetscher gestellt wird, oder dass ihm für das Verfahren erhebliche Schriftstücke von Amts wegen übersetzt werden. Vielmehr hat er selbst für eine Übersetzung Sorge zu tragen oder das Schriftstück einem sprachkundigen Bevollmächtigten zur weiteren Bearbeitung zu übergeben (BFH, Beschl. vom 21.05.1997, VII S 37/96, BFH/NV 1997, 634; BFH, Beschl. vom 17.03.2010, X B 114/09, BFH/NV 2010, 1239; BeckOK-AO-Kobor, 13. Ed. § 87 Rn. 5; Tipke/Kruse-Brandis, AO/FGO, 147. Lief. § 87 Rn. 2).
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Ob diese Rechtslage grundsätzlich mit europarechtlichen und verfassungsrechtlichen Vorgaben vereinbar ist, muss im Streitfall nicht entschieden werden. Vorliegend hat der Antragsgegner zur Begründung der Haftung auf ein Strafurteil Bezug genommen. Das Strafurteil ist in einem Verfahren ergangen, in dem dem Antragsteller ein Verteidiger und ein Dolmetscher zur Seite gestanden haben, und in dem ihm somit die Vorgänge in der Hauptverhandlung einschließlich des Urteils und der mündlichen Urteilsgründe übersetzt worden sind und er sich darüber mit seinem Verteidiger besprechen konnte. Unter diesen Umständen musste ihm der Antragsgegner nicht zusätzlich eine schriftliche Übersetzung des Urteils zur Verfügung stellen.
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Die speziell für das Strafverfahren geltenden Bestimmungen, zu denen sowohl Art. 6 Abs. 3 lit. a) EMRK als auch Art. 3 der Richtline 2010/64/EU gehören, sind für das Besteuerungsverfahren nicht einschlägig. Zudem schreiben diese Vorschriften zwar vor, dass dem Beschuldigten die gegen ihn erhobene Beschuldigung verständlich gemacht werden muss. Sie überlassen jedoch dem nationalen Recht die Entscheidung darüber, in welcher Form dies erfolgt (vgl. insbesondere Art. 3 Abs. 7 der Richtlinie 2010/64/EU), und schreiben keine besondere Form vor, in der der Beschuldigte zu unterrichten ist, insbesondere nicht die Übersetzung jedes einzelnen Schriftstückes (vgl. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte -EGMR-, Urt. vom 19.12.1989, Beschwerde Nr. 9783/82, Rn. 74 und 80 f. – Kamasinski, veröffentlicht bei hudoc.echr.coe.int; EGMR NJW 1999, 3545, 3546 Rn. 53 – Pelissier und Sassi; Europäischer Gerichtshof – EuGH - NJW 2016, 303, 304 Rn. 39 - Covaci). Dem entsprechen für das Strafverfahren die Regelung in § 187 Abs. 2 S. 4 und 5 GVG und ihre Auslegung durch die Rechtsprechung (vgl. Bundesgerichtshof -BGH-, Beschl. vom 18.02.2020, 3 StR 430/19, NJW 2020, 2041).
- 48
Auch nach deutschem Verfassungsrecht muss der Beteiligte zwar in die Lage versetzt werden, die ihn betreffenden wesentlichen Verfahrensvorgänge zu verstehen. Wie dies im Einzelnen geschieht, ist jedoch der Konkretisierung durch den Gesetzgeber und den das Gesetz anwendenden Behörden und Gerichten aufgegeben. Das Recht auf ein faires Verfahren ist erst dann verletzt, wenn eine Gesamtschau auf das Verfahrensrecht auch in seiner Auslegung und Anwendung durch die Gerichte ergibt, dass rechtsstaatlich zwingende Folgerungen nicht gezogen worden sind oder rechtsstaatlich Unverzichtbares preisgegeben worden ist (Bundesverfassungsgericht -BVerfG-, Beschl. vom 17.05.1983, 2 BvR 731/80, NJW 1983, 2762; BVerfG, Beschl. vom 03.06.2005, 2 BvR 760/05, NStZ-RR 2005, 273). Das trifft im Streitfall nicht zu. Dem Antragsteller ist das Urteil mündlich übersetzt worden. Das Urteil liegt außerdem seinem des Deutschen mächtigen Verfahrensbevollmächtigten vor, und der Antragsteller hat die Möglichkeit, das Urteil schriftlich übersetzen zu lassen, oder das Urteil unter Hinzuziehung eines Dolmetschers mit seinem Verfahrensbevollmächtigten zu besprechen. Ob das auch dann zutreffen würde, wenn der Antragsteller sich selbst vertreten würde und sich keine Übersetzung auf eigene Kosten leisten könnte, muss nicht entschieden werden; denn ersteres ist nicht der Fall, und letzteres ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.
- 49
Der Antragsteller kann insoweit auch nicht mit dem Argument durchdringen, dass er die Möglichkeit haben müsse, das Strafurteil gerade im Hinblick auf den Haftungsbescheid zu überprüfen, und dass es deshalb nicht genüge, wenn ihm das Strafurteil mündlich zu einem Zeitpunkt übersetzt worden sei, als der Haftungsbescheid noch nicht erlassen war. Auch insoweit reicht es aus, wenn das Strafurteil dem Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers aktuell vorliegt, und wenn der Antragsteller die Möglichkeit hat, selbst für eine Übersetzung Sorge zu tragen.
d)
- 50
Dem Antragsteller sind auch sonst keine Unterlagen verweigert worden, die er benötigen würde, um die Feststellungen des Strafurteils substantiiert bestreiten zu können.
- 51
Die Beweiswürdigung des Landgerichts D beruht ausweislich des Urteils auf den Einlassungen der Mitangeklagten H und I, auf den Aussagen einer Reihe von (teils auch sachverständigen) Zeugen und auf der Aussage des Sachverständigen L. Die Mitangeklagten haben sich in der Hauptverhandlung geäußert, ebenso die Zeugen und der Sachverständige. Schriftliche Gutachten des J, des Zolllabors der Zollkammer in K und des L sind ausweislich des Strafurteils (S. 243 ff.) in der Hauptverhandlung verlesen worden. Der Antragsteller war in der Hauptverhandlung anwesend und durch einen Dolmetscher unterstützt. Die Ergebnisse der Beweisaufnahme sind im Strafurteil ausführlich dargestellt, und der Antragsteller hat die Möglichkeit, sich entweder das Strafurteil übersetzen zu lassen oder das Urteil unter Hinzuziehung eines Dolmetschers mit seinem Verfahrensbevollmächtigten zu besprechen. Dasselbe gilt für den Haftungsbescheid. Der Antragsteller hat damit die Möglichkeit, den Haftungsbescheid zu überprüfen und sich substantiiert zu den Voraussetzungen der Haftung einzulassen.
e)
- 52
Nach Aktenlage hat der Antragsgegner das rechtliche Gehör auch nicht dadurch verletzt, dass dem Antragsteller Unterlagen vorenthalten worden sind, die er benötigen würde, um die dem Haftungsbescheid zugrundeliegende Ermessensausübung zu überprüfen. Das gilt insbesondere für die Frage, ob auf die Steuerschuld von dritter Seite geleistete Zahlungen zutreffend berücksichtigt worden sind.
- 53
Insoweit ist der Zweck des § 364 AO zu berücksichtigen: Der Einspruchsführer soll diejenigen Überlegungen nachvollziehen können, die dem Erlass des angefochtenen Verwaltungsakts zugrunde gelegen haben (Tipke/Kruse-Seer, AO/FGO, 162. Lief. § 364 Rn. 1). Ausweislich des Bescheides vom 11.06.2020, mit dem der Antragsgegner die Aussetzung der Vollziehung abgelehnt hat, ist der Antragsgegner davon ausgegangen, dass auf die Steuerschuld der B keine zu berücksichtigenden Zahlungen erfolgt sind. Über das Vermögen der B sei mit Beschluss des Amtsgerichts M vom 11.04.2017 das Insolvenzverfahren eröffnet worden. Der Gesamtbetrag der hinterzogenen Steuer sei zur Insolvenztabelle angemeldet worden. Nach dem Zwischenbericht des Insolvenzverwalters vom 10.07.2019 seien nur geringe Quotenzahlungen zu erwarten. Dabei handelt es sich um Angaben, die der Antragstellervertreter durch Einsicht in die beim Amtsgericht geführten Insolvenzakten überprüfen kann.
- 54
Weiter ist der Antragsgegner im Bescheid vom 11.06.2020 zutreffend davon ausgegangen, dass auf die Steuerschuld geleistete Zahlungen im Einspruchsverfahren und im nachfolgenden Klageverfahren nur zu berücksichtigen sind, soweit sie auf bestandskräftige Bescheide geleistet worden sind (BFH, Urt. vom 24.10.1979, VII R 7/77, BStBl II 1980, 58; Beschl. vom 27.03.2006, VII B 117/05, BFH/NV 2006, 1254). Deshalb sind Vollstreckungsmaßnahmen zu Lasten des Antragstellers und zu Lasten weiterer Personen, die den gegen sie ergangenen Haftungsbescheid angefochten haben, nicht zu berücksichtigen.
f)
- 55
Es kommt nicht darauf an, ob der Haftungsbescheid ohne vorherige Gewährung des rechtlichen Gehörs erlassen worden ist. Wenn das zutrifft, wäre die Vollziehung nur solange auszusetzen, bis die Gewährung des rechtlichen Gehörs nachgeholt worden ist. Nichts anderes ergibt sich aus der vom Antragsteller zitierten Entscheidung des Finanzgerichts Sachsen (Beschl. vom 25.02.2013, 8 V 1384/12; auch FG Hamburg, Beschl. vom 30.01.2012, 4 V 4/12; beide bei beck online).
- 56
Vorliegend ist die Gewährung des rechtlichen Gehörs jedenfalls nachgeholt worden. Dem Kläger ist das Strafurteil zugänglich, und er hat Gelegenheit gehabt, sich im Einspruchsverfahren zu äußern.
3.
- 57
Ernstliche Zweifel lassen sich nicht durch einen Verstoß gegen Formvorschriften begründen.
- 58
Ein schriftlich erlassener Verwaltungsakt muss die Unterschrift oder die Namenswiedergabe des Behördenleiters, seines Vertreters oder seines Beauftragten enthalten (§ 119 Abs. 3 S. 2, 1. Halbsatz AO). Die für den Haftungsbescheid geltende Spezialvorschrift des § 191 AO enthält insoweit keine abweichende Regelung.
- 59
Die Vorschrift verlangt, dass der Verwaltungsakt den Namen der Person mitteilt, die ihn verantwortet, und dass dies entweder der Behördenleiter oder sein Stellvertreter sein muss, oder sonst eine Person, die mit dem Namen und mit dem Zusatz „im Auftrag“ bezeichnet wird. Damit soll sichergestellt werden, dass für den Empfänger erkennbar ist, dass und von wem der Verwaltungsakt willentlich erlassen wurde (BeckOK-AO-Füssenich, 14. Ed. § 119 Rn. 74). Dieser formellen Anforderung ist genügt, indem der Haftungsbescheid mit „Im Auftrag N“ unterzeichnet ist.
- 60
Von dieser – vorliegend erfüllten – formellen Anforderung ist die Frage zu unterscheiden, ob der Behördenleiter den von § 119 Abs. 3 S. 2 AO vorausgesetzten Einzelauftrag tatsächlich erteilt hat. Dabei geht es nicht um die formellen Anforderungen an den Verwaltungsakt; denn diesen wird durch die Aussage, dass der Auftrag erteilt worden sei, und damit durch die Angabe „im Auftrag“ im Zusammenhang mit der Nennung des Namens genügt. Dafür, dass der Einzelauftrag entgegen dieser Angabe nicht erteilt worden sein könnte, liegen keine greifbaren Anhaltspunkte vor. Die „ins Blaue hinein“ erfolgte Annahme, dass es an dem Einzelauftrag fehlen könne, reicht nicht aus, um ernsthafte Zweifel zu begründen.
4.
- 61
Auch sonst bestehen keine ernstlichen Zweifel im Sinne des § 69 Absatz 2 Satz 2 FGO, auf die die Aussetzung der Vollziehung gestützt werden könnte.
a)
- 62
Die Einwände des Antragstellers gegen die dem Strafurteil zugrundeliegenden Feststellungen reichen dafür nach derzeitigem Stand nicht aus.
- 63
Das Gutachten des Zolltechnischen Labors der Tschechischen Republik vom 28.03.2017, das der Antragsteller als Anlage AS 13 vorlegt, vertritt die Auffassung, dass die Produkte Cleanol-7 und MOL-F sowohl für die Verwendung als Reinigungs- und Lubrikationsmittel geeignet seien (Antwort auf Frage 3), als auch für den Antrieb von Dieselmotoren (Antwort auf Frage 6). Die Aussage, dass die beiden Produkte auch als Reinigungs- und Lubrikationsmittel verwendbar seien, wird trotz der präzisen Fragestellung nach den maßgeblichen physikalisch-chemischen Eigenschaften nicht begründet. Es wird auch nicht dazu ausgeführt, wie die weiteren Bestandteile (Basisöl, Oxoöl, Oxoalkohol und Fettsäuremethylester) die Reinigungsfähigkeit beeinflussen (Frage 5).
- 64
Damit wird die Richtigkeit der Feststellungen der Strafkammer nicht hinreichend erschüttert. Nach dem Strafurteil (S. 287) hat der Sachverständige L ausgesagt, dass solchen Zubereitungen wie Cleanol 7 und Mol-F ein gewisses Lösungsvermögen für teerartige Rückstände und Zersetzungsprodukte nicht abgesprochen werden könne. Das Gutachten des Zolltechnischen Labors der Tschechischen Republik trifft keine davon wesentlich abweichende Aussage. Weiter ist zu berücksichtigen, dass die beiden Produkte nach dem Gutachten des Zolltechnischen Labors der Tschechischen Republik jedenfalls auch als Kraftstoff verwendbar sind, und dass die Strafkammer ihre Überzeugung von der tatsächlichen Abgabe als Kraftstoff nicht nur darauf gestützt hat, dass die Produkte tatsächlich nicht als Reinigungs- und Schmiermittel verwendbar seien, sondern noch auf weitere Umstände, wie sie im Strafurteil auf S. 281 ff. dargestellt werden. Auch die Begutachtung des Produktes Mol-F ist nachvollziehbar dargestellt worden (Strafurteil S. 249 ff.). Der Zeuge O hat demnach ausgesagt, dass der 5. Tank, aus dem die Probe entnommen worden sei, zuvor komplett leer gewesen sei. Demnach liegen keine konkreten Anhaltspunkte dafür vor, dass die von dem Sachverständigen untersuchte Probe verunreinigt war.
b)
- 65
Die rechtliche Würdigung, wonach der Antragsteller den Straftatbestand der Steuerhinterziehung erfüllt hat, unterliegt ebenfalls keinen ernstlichen Zweifeln.
- 66
Der Antragsteller bringt zunächst vor, dass die Strafkammer die Avisierungen der einzelnen Produktabgaben gegenüber dem Antragsgegner als unrichtige Erklärungen steuerlich erheblicher Tatsachen gewertet habe. Damit sei verkannt worden, dass die Avisierungen steuerlich unerheblich seien. Diesem Argument vermag der Senat nicht zu folgen. Es kommt nicht darauf an, dass die Energiesteuer allein durch im Sinne der Strafkammer zutreffende Avisierungen - nämlich, dass das jeweilige Produkt zur Verwendung als Kraftstoff abgegeben werde - nicht entstanden wäre, sondern erst mit dem der Avisierung nachfolgenden Beladen der Fahrzeuge. Tatsachen sind steuerlich erheblich im Sinne des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO, wenn sie auf die Entstehung, Höhe oder Fälligkeit der Steuer oder das Erlöschen des Steueranspruches von Einfluss sind. Es muss sich nicht um Tatsachen handeln, die den Tatbestand einer auf den konkreten Steuerausfall anzuwendenden Steuerrechtsnorm ausfüllen (Erbs/Kohlhaas-Hadamitzky/Senge, Strafrechtliche Nebengesetze, 231. EL § 370 AO Rn. 18; Joecks/Jäger/Randt-Joecks, Steuerstrafrecht, 8. Aufl. § 370 AO Rn. 186). Nach diesem Maßstab waren die Avisierungen steuerlich erheblich. Wenn die Angeklagten mit den Avisierungen konkludent erklärt haben, die Produkte bestimmungsgemäß als steuerfreies Reinigungs- und Schmiermittel abzugeben (Strafurteil S. 430), dann haben sie damit dafür gesorgt, dass der Antragsgegner den tatsächlich entstandenen Energiesteueranspruch nicht geltend machte. Das gilt auch dann, wenn der Steueranspruch nicht mit der Avisierung selbst, sondern danach mit dem Beladen der Fahrzeuge entstanden ist.
- 67
Soweit der Antragsteller weiter vorbringt, dass die Voraussetzungen einer faktischen Geschäftsführung nicht festgestellt worden seien, und dass er deshalb zu Unrecht als Mittäter einer Steuerhinterziehung eingeordnet worden sei, kann ihm ebenfalls nicht gefolgt werden.
- 68
Die Strafkammer hat den Antragsteller nicht wegen Steuerhinterziehung durch Unterlassen, sondern wegen mittäterschaftlicher Steuerhinterziehung durch aktives Tun nach § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO verurteilt (Strafurteil S. 430). Das ist schlüssig, da die inhaltlich unrichtigen Avisierungen als Tathandlungen angesehen wurden. Der Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO kann von jedermann erfüllt werden; es handelt sich nicht um ein Sonderdelikt (Joecks/ Jäger/Randt-Joecks, Steuerstrafrecht, 8. Aufl. § 370 AO Rn. 31; Kohlmann-Ransiek, Steuerstrafrecht, 67. Lief. § 370 AO Rn. 109). Daher muss die Zurechnung nicht über die Vorschrift des § 35 AO erfolgen. Auf die Frage, ob der Antragsteller nach außen - wenn auch nur gegenüber einer eingeschränkten Öffentlichkeit - als Verfügungsberechtigter im Sinne des § 35 AO aufgetreten ist (vgl. BFH, Urt. vom 24.02.1991, I R 56/89, BFH/NV 1992, 76; BFH, Urt. vom 05.08.2010, V R 13/09, BFH/NV 2011, 81), kommt es nicht an. Die Strafkammer hat zwar auch angenommen, dass der Antragsteller und der Mitangeklagte E gegenüber einem begrenzten Kreis der Öffentlichkeit als Inhaber der den Geschäftsbetrieb beherrschenden Stellung aufgetreten seien, und dass damit über die Zurechnungsnorm des § 35 AO auch der Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO erfüllt sei (Strafurteil S. 442). Das ist jedoch nicht entscheidungserheblich, denn die Strafkammer hat auch den Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO als erfüllt angesehen; der Tatbestand des § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO trete demgegenüber zurück (Strafurteil a. a. O.).
c)
- 69
Die Inanspruchnahme des Täters oder des Gehilfen einer vorsätzlichen Steuerhinterziehung nach §§ 191, 71 AO ist auch ohne nähere Darlegung der Ermessenserwägungen ermessensgerecht (BFH, Urt. vom 21.01.2004, XI R 3/03, DStR 2004, 1038). Das gilt auch dann, wenn mehrere Mittäter vorhanden sind, für die Inanspruchnahme des einzelnen Mittäters (FG Düsseldorf, Urt. vom 29.10.2019, 10 K 1908/15 H, DStRE 2020, 752, 756). Daher bestehen, solange den Feststellungen und der rechtlichen Würdigung der Strafkammer zu folgen ist, keine ernstlichen Zweifel daran, dass der Antragsgegner von seinem Entschließungs- und Auswahlermessen fehlerfreien Gebrauch gemacht hat.
d)
- 70
Substantiierte Einwände gegen das Strafurteil würde der Antragsteller dann erheben, wenn er den Sachverhalt aus seiner Sicht plausibel und nachvollziehbar darstellen und damit schlüssige Zweifel an der Richtigkeit der Verurteilung begründen würde.
- 71
Der Antragsteller hat im Steuerverfahren kein Schweigerecht. Auf ein etwa im Strafverfahren bestehendes Schweigerecht kann er sich nicht berufen, nachdem er dort rechtskräftig verurteilt ist. Von dem Antragsteller kann verlangt werden, dass er den maßgeblichen Sachverhalt darstellt, soweit er ihn aus eigener Anschauung kennt. Denkbar wäre insoweit eine Darstellung, wonach der Antragsteller keineswegs beherrschenden Einfluss auf die Geschäfte der B GmbH gehabt habe, oder eine Darstellung, wonach die beiden Produkte sehr wohl als Reinigungs- und Schmiermittel und nicht zur Verwendung als Kraftstoff hergestellt und abgegeben worden seien. Nicht ausgeschlossen wäre auch eine Kombination von beidem. Dann hätte der Antragsteller zu erläutern, woher er die Kenntnisse über Herstellung und Abgabe der beiden Produkte hat, obwohl er nicht die Geschäfte der B GmbH beherrscht hat, sondern nur der Geschäftsführer der Verpächterin gewesen ist. In allen Fällen hätte der Antragsteller zumindest eine plausible Möglichkeit aufzuzeigen, wonach er durch die von der Strafkammer verwerteten, für seine Verantwortlichkeit sprechenden Beweismittel (insbesondere Strafurteil S. 157 f., 165, 170, 176, 183, 262 bis 281) zu Unrecht belastet worden ist.
- 72
An einer solchen Darstellung fehlt es nach Aktenlage bisher vollständig. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Haftungsbescheides liegen nach allem nicht vor.
3.
- 73
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.
- 74
Der Streitwert ist für das Verfahren über den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung auf 10 % des Hauptsachestreitwertes festzusetzen (BFH, Beschl. vom 06.09.2012, VII E 12/12, BFH/NV 2013, 211).
- 75
Die Frage, wie weit der Anspruch aus § 364 AO reicht, unter welchen Voraussetzungen dem im Wege des Haftungsbescheides in Anspruch genommenen, nicht des Deutschen mächtigen Antragsteller von Amts wegen eine Übersetzung des Strafurteils und des Haftungsbescheids zur Verfügung gestellt werden musste, und welche Bedeutung dies für die Aussetzung der Vollziehung hat, hat grundsätzliche Bedeutung (§§ 115 Abs. 2 Nr. 1, 128 Abs. 3 FGO). Daher lässt der Senat die Beschwerde zu.
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Referenzen
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- § 370 Abs. 1 Nr. 1 AO 5x (nicht zugeordnet)
- GVG § 187 1x
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- FGO § 100 1x
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- FGO § 128 1x
- V R 13/09 1x (nicht zugeordnet)
- 8 V 1384/12 1x (nicht zugeordnet)
- § 119 Abs. 3 S. 2, 1. Halbsatz AO 1x (nicht zugeordnet)
- VIII B 15/18 1x (nicht zugeordnet)
- Beschluss vom Bundesfinanzhof (5. Senat) - V B 82/11 1x
- 4 V 4/12 2x (nicht zugeordnet)
- VII R 71/77 2x (nicht zugeordnet)
- § 370 Abs. 1 Nr. 2 AO 2x (nicht zugeordnet)
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- VII B 117/05 1x (nicht zugeordnet)
- EnergieStG § 30 Zweckwidrigkeit 1x
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- I R 56/89 1x (nicht zugeordnet)
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- FGO § 135 1x
- XI R 3/03 1x (nicht zugeordnet)
- EnergieStG § 23 Entstehung der Steuer für sonstige Energieerzeugnisse 1x
- VII R 41/12 1x (nicht zugeordnet)
- VII E 12/12 1x (nicht zugeordnet)
- VII R 7/77 1x (nicht zugeordnet)