Urteil vom Finanzgericht Münster - 1 K 2235/18 Kg,AO
Tenor
Der Ablehnungsbescheid vom 21.02.2018 und die Einspruchsentscheidung vom 17.05.2018 werden aufgehoben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens werden der Klägerin und der Beklagten jeweils zur Hälfte auferlegt.
Das Urteil ist wegen der Kosten ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages abwenden, soweit nicht die Klägerin zuvor Sicherheit in Höhe des vollstreckbaren Betrages leistet.
Die Revision wird zugelassen.
1
T a t b e s t a n d
2Streitig ist der Erlass einer Kindergeldrückforderung.
3Die Klägerin erhielt aufgrund eines Abzweigungsbescheides vom 08.05.2014 laufend Kindergeld für sich selbst. Im Oktober 2014 beendete die Klägerin ihre Ausbildung vorzeitig, wovon die zuständige Familienkasse erst im Jahr 2016 Kenntnis erlangte und daraufhin die Kindergeldfestsetzung gegenüber dem Vater der Klägerin aufhob und mit Bescheid vom 08.12.2016 von der Klägerin, als Abzweigungsempfängerin, das für den Zeitraum von November 2014 bis einschließlich Juli 2016 gezahlte Kindergeld zurückforderte. Beide Bescheide wurden bestandskräftig.
4Die Vollstreckung des Rückforderungsbescheides übernahm die Agentur für Arbeit Inkasso-Service (Beklagte).
5Am 15.11.2017 beantragte die Klägerin den Erlass dieser Rückforderung. Zur Begründung gab sie an, dass sie während des Rückforderungszeitraums Leistungen nach dem SGB II bezogen habe, bei denen die Kindergeldzahlungen in vollem Umfang angerechnet worden seien. Mit Bescheid vom 21.02.2018 erließ die Beklagte eine Teilforderung i.H.v. 184 € und lehnte den Erlassantrag mit Hinweis auf die Verletzung der Mitwirkungspflicht der Klägerin im Übrigen ab.
6Den hiergegen eingelegten Einspruch wies die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom 17.05.2018, bekannt gegeben mit Schreiben vom 21.06.2018, als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie an, die Klägerin habe die vorzeitige Beendigung ihrer Ausbildung der Familienkasse nicht mitgeteilt. Hierdurch sei die Rückforderung verursacht worden. Eine sachliche Unbilligkeit sei wegen der Verletzung der Mitwirkungspflicht zu verneinen. Aus demselben Grund sei sie auch persönlich nicht erlasswürdig.
7Wegen der Einzelheiten wird auf die Einspruchsentscheidung der Familienkasse vom 17.05.2018 Bezug genommen.
8Mit ihrer fristgerecht erhobenen Klage begehrt die Klägerin weiterhin den Erlass der Kindergeldrückforderung vom 08.12.2016. Zur Begründung führt sie aus, sie habe den Abbruch ihrer Ausbildung gegenüber dem Träger der Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II umgehend mitgeteilt. Einen ausdrücklichen Hinweis, dass auch die Familienkasse entsprechend zu informieren sei, habe sie, die Klägerin, nicht erhalten. Ein Antrag gegenüber dem Träger der Grundsicherungsleistungen auf Nachzahlung des angerechneten Kindergeldes sei abgelehnt worden.
9Die Klägerin trägt weiter vor, nach der BFH-Rechtsprechung käme ein Erlass gemäß § 227 Abgabenordnung (AO) in Fällen der Anrechnung des Kindergeldes auf Leistungen nach dem SGB II in Betracht, wenn dem Kindergeldberechtigten nicht bewusst gewesen sei, dass eine Kommunikation zwischen den Behörden nicht stattfinde. Der Klägerin seien die Konsequenzen aus der Beendigung ihrer Ausbildung in Bezug auf den Wegfall des Kindergeldes nicht bewusst gewesen. Aus dem Umstand, dass auch das zuständige Jobcenter das Kindergeld fortlaufend weiter angerechnet habe, habe sie vielmehr schließen dürfen, dass ihr weiterhin ein Anspruch zustehe. Auch das Jobcenter sei offenbar ebenfalls davon ausgegangen, dass trotz Abbruchs der Ausbildung ein Anspruch auf Kindergeld fortbestehe.
10Es bestehe auch eine Unbilligkeit aus persönlichen Gründen, weil sie, die Klägerin, weiter fortlaufende Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes nach SGB II beziehe und finanziell daher nicht in der Lage sei, die Forderung zu tilgen. Sie sei insoweit in ihrer wirtschaftlichen Existenz gefährdet. Allein der Schutz durch Pfändungsfreigrenzen sei nicht ausreichend.
11Die Klägerin beantragt,
12die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 21.02.2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 17.05.2018 zu verpflichten, die Rückforderung gemäß Bescheid vom 08.12.2016 in voller Höhe zu erlassen.
13Die Beklagte beantragt,
14die Klage abzuweisen.
15Sie vertritt die Auffassung, die Voraussetzungen für einen Erlass lägen weder aus sachlichen noch aus persönlichen Gründen vor. Im Fall der Anrechnung von Kindergeld bei Leistungen nach dem SGB II könne zwar unter Umständen ein Erlass aus Billigkeitsgründen gerechtfertigt sein, jedoch sei bei der Entscheidung über den Erlass das Verhalten des Kindergeldempfängers zu berücksichtigen. Ein Erlass käme nach der aktuellen Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz (DA-KG) dann in Betracht, wenn die Überzahlung nicht auf das Verhalten des Berechtigten zurückzuführen sei. Ein Erlass sei jedoch regelmäßig zu versagen, wenn der Betroffene die ungerechtfertigte Weiterzahlung und damit die Überzahlung durch eigenes Verhalten, wie die Verletzung von Mitwirkungspflichten, herbeigeführt habe. Die Klägerin habe es unterlassen, die Familienkasse über den Abbruch ihrer Ausbildung zu unterrichten, obwohl sie auf ihre Verpflichtung zur Mitteilung geänderter Verhältnisse mehrfach hingewiesen worden sei, unter anderem durch das Merkblatt Kindergeld bei der Antragstellung und mit den erteilten Festsetzungsbescheiden. Die Verletzung der Mitteilungspflicht sei ursächlich für die eingetretene Überzahlung. Die Klägerin könne ihre Mitwirkungspflichten nicht auf das Jobcenter abwälzen, denn die Mitwirkungspflicht bestehe gegenüber der Familienkasse und nicht gegenüber dem Jobcenter. Es bestehe für die Familienkasse keine Veranlassung, Informationen bei dem Jobcenter einzuholen, denn nach den eingereichten Unterlagen konnte die Familienkasse davon ausgehen, dass sich die Klägerin bis Juli 2016 in Ausbildung befunden hat.
16Das Verfahren hatte wegen der vor dem BFH anhängigen Revisionsverfahren zu der Frage, ob die Agentur für Arbeit, Inkassoservice Familienkasse für die Entscheidung über Erlassanträge sachlich zuständig sei, geruht und wurde nach der Entscheidung der anhängigen Revisionsverfahren durch den BFH wieder aufgenommen.
17Die Beteiligten haben auf eine mündliche Verhandlung verzichtet.
18E n t s c h e i d u n g s g r ü n d e
191. Der Senat entscheidet im Einverständnis der Beteiligten gemäß § 90 Abs. 2 Finanzgerichtsordnung (FGO) ohne mündliche Verhandlung.
202. Die Klage ist dahin auszulegen, dass sie sich gegen die Agentur für Arbeit Inkasso-Service als Beklagte richtet.
21Nach § 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO ist die Klage gegen die Behörde zu richten, die den beantragten Verwaltungsakt ursprünglich abgelehnt hat. Aus der Bezugnahme auf den „ursprünglichen“ Verwaltungsakt folgt, dass nur die Ausgangsbehörde und nicht die Rechtsmittelbehörde Beklagte im Sinne des § 63 Abs. 1 Nr 2 FGO sein soll (BFH, Urteil vom 25.02.2021 III R 36/19, BStBl. II 2021, 712, Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 63 FGO Rz. 20). Etwas anderes gilt gem. § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO, wenn vor Erlass der Einspruchsentscheidung eine andere als die ursprünglich zuständige Behörde für den Steuerfall örtlich zuständig geworden ist.
22Im Streitfall hat die Beklagte den beantragten Erlass der Kindergeldrückforderung ab-gelehnt, so dass die Klage gegen sie zu richten ist. Ein Wechsel der örtlichen bzw. sachlichen Zuständigkeit gemäß § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO hat im Streitfall nicht stattgefunden. Vielmehr wurden nach den Vorstandsbeschlüssen der Bundesagentur für Arbeit vom 18.04.2013 (21/2013, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Mai 2013, Tz. 2.3), vom 14.04.2016 (15/2016, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Mai 2016, Tz. 2.4), vom 20.09.2018 (23/2018, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Oktober 2016, Tz. 2.6) und vom 24.10.2019 (33/2019, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft April 2020, Tz. 2.6) von vornherein die Ausgangsentscheidung und die Einspruchsentscheidung von zwei verschiedenen Behörden getroffen. In diesem Fall bleibt die Ausgangsbehörde, die den Rechtsbehelf veranlasst hat, passiv prozessführungsbefugt (vgl. BFH, Urteil vom 25.02.2021 III R 36/19, BStBl. II 2021, 712, Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 63 FGO Rz. 20). Der Senat folgt insoweit nicht der Gegenansicht des FG Düsseldorf (Urteile vom 14.06.2021 9 K 2976/20 und vom 28.09.2021 9 K 465/21, juris), wonach in Fällen, in denen die Ausgangsentscheidung von der sachlich unzuständigen, die Einspruchsentscheidung dagegen von der sachlich zuständigen Behörde gefällt wird, § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO analog anzuwenden sein soll.
23Die Klägerin hat zwar in ihrer Klageschrift die Familienkasse als Beklagte bezeichnet, jedoch ist die Klageerhebung als Prozesshandlung im Zweifel gem. §§ 133, 157 BGB auszulegen. Eine Auslegung hat im Einklang mit Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz (GG) rechtsschutzgewährend zu erfolgen. Es ist davon auszugehen, dass die Klägerin eine zulässige Klage gegen die richtige Beklagte erheben wollte. Die Bezeichnung der Familienkasse als Beklagte beruht offensichtlich auf der insoweit unzutreffenden Rechtsbehelfsbelehrung der Familienkasse in ihrer Einspruchsentscheidung. Die Klage ist dahingehend auszulegen, dass sie gegen die Agentur für Arbeit Inkassoservice als Beklagte gerichtet ist.
243. Die Klage ist zulässig und teilweise begründet. Der Ablehnungsbescheid vom 21.02.2018 und die Einspruchsentscheidung vom 17.05.2018 sind rechtswidrig und verletzen die Klägerin in ihren Rechten (§ 101 Satz 1 FGO), soweit der Ablehnungsbescheid von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen wurde. Soweit die Klägerin beantragt, die Beklagte zu einem Erlass der Rückforderung aus dem Rückforderungsbescheid vom 08.12.2016 zu verpflichten, ist die Klage unbegründet.
25a) Die Rechtswidrigkeit des Ablehnungsbescheids vom 21.02.2018 folgt bereits daraus, dass dieser Bescheid von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen und dieser Mangel der sachlichen Zuständigkeit weder geheilt wurde noch unbeachtlich ist.
26aa) Die Beklagte war für die Entscheidung über den Erlassantrag sachlich nicht zuständig. Die sachliche Zuständigkeit richtet sich gemäß § 16 AO nach dem Gesetz über die Finanzverwaltung (FVG). Nach § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 1 FVG ist für die Durchführung des Familienleistungsausgleichs, zu dem auch das Erhebungsverfahren in Kindergeldsachen gehört, das Bundeszentralamt für Steuern zuständig. Nach Satz 2 dieser Vorschrift stellt die Bundesagentur für Arbeit diesem zur Durchführung dieser Aufgaben ihre Dienststellen als Familienkassen zur Verfügung. Innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs kann der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit von den Vorschriften der Abgabenordnung über die örtliche Zuständigkeit von Finanzbehörden die Entscheidung über den Anspruch auf Kindergeld für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten einer anderen Familienkasse übertragen (§ 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG). Da die Übertragung bestimmter Sachaufgaben auf eine Familienkasse nicht die örtliche Zuständigkeit betrifft, ist die Übertragung des Bereichs „Inkasso“ auf die Beklagte nicht von § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG gedeckt. Für diesen Bereich verbleibt es vielmehr bei der sachlichen Zuständigkeit der örtlichen Familienkasse. Der Senat folgt insoweit den zur Frage der sachlichen Zuständigkeit der Beklagten ergangenen BFH-Urteilen vom 25.02.2021 (III R 36/19, BStBl II 2021, 712 und III R 28/20, BFH/NV 2021, 1100) und vom 07.07.2021 (III R 21/18, BFH/NV 2021, 1457) und nimmt auf deren Entscheidungsgründe Bezug (vgl. auch FG Münster, Urteil vom 02.11.2021 1 K 3623/20 AO, juris).
27bb) Dieser Zuständigkeitsmangel wurde weder durch den Erlass der Einspruchsentscheidung durch die Familienkasse geheilt, noch ist er unbeachtlich.
28(1) Der Umstand, dass die Einspruchsentscheidung durch die Familienkasse, die für die Entscheidung über den Erlassantrag örtlich und sachlich zuständig gewesen wäre, erlassen wurde, führt nicht zu einer Heilung der sachlichen Unzuständigkeit bei Erlass des Ablehnungsbescheides durch die Beklagte. Die Frage der Heilung durch eine Einspruchsentscheidung der für den Ausgangsbescheid zuständigen Behörde wird in Rechtsprechung und Literatur unterschiedlich beurteilt (für eine Heilung: FG Berlin-Brandenburg Urteil vom 17.06.2020 7 K 14045/18, EFG 2020,1284; FG Münster Urteil vom 03.12.2020 3 K 2344/20, juris; FG Düsseldorf Urteil vom 14.06.2021 9 K 2976/20 AO, juris; FG Düsseldorf Urteil vom 28.09.2021 9 K 465/21 AO, juris; Wackerbeck in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO § 16 AO Rz. 55; Schmieszek in Gosch AO/FGO § 16 Rz. 17; gegen eine Heilung: FG Düsseldorf Urteil vom 14.05.2019 10 K 3317/18 AO, juris; FG Düsseldorf Urteil vom 08.12.2020 10 K 2769/19, EFG 2021, 513).
29(a) Die wegen des Verstoßes gegen die sachliche Zuständigkeit rechtswidrige Ablehnungsentscheidung der Beklagten wurde nicht gemäß § 126 Abs. 2 AO durch Erlass der Einspruchsentscheidung geheilt.
30§ 126 AO enthält einen Katalog von Verstößen gegen Verfahrens- oder Formvorschriften, die, soweit sie nicht bereits zur Nichtigkeit (§ 125 AO) geführt haben, durch Nachholung erforderlicher Handlungen – z.T. sogar bis zum Abschluss der Tatsacheninstanz eines finanzgerichtlichen Verfahrens – geheilt werden können.
31Der Katalog des § 126 Abs. 1 AO enthält jedoch eine enumerative Aufzählung der Heilungstatbestände; er ist angesichts des Ausnahmecharakters der Vorschrift abschließend. Andere als die in § 126 Abs. 1 AO genannten Verfahrens- und Formfehler sind damit von einer Nachholung mit Heilungswirkung i.S.d. § 126 ausgeschlossen (vgl. Rozek in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO § 126 AO Rz. 16; von Wedelstädt in Gosch AO/FGO § 126 AO Rz. 1, 5; Seer in Tipke/Kruse AO/FGO § 126 AO Rz. 3).
32Ein Verstoß gegen die Vorschriften der sachlichen Zuständigkeit ist in § 126 AO nicht aufgeführt. Für eine Extension auf zusätzliche Verfahrens- oder Formfehler im Wege der Analogie ist grundsätzlich kein Raum, da im Hinblick auf § 127 AO nicht von einer planwidrigen Regelungslücke ausgegangen werden kann (Rozek in Hübsch-mann/Hepp/Spitaler, AO/FGO § 126 AO Rz. 16).
33(b) Auch die Gesamtüberprüfung des angefochtenen Verwaltungsakts im Einspruchsverfahren führt im Streitfall nicht zu einer Heilung der fehlenden sachlichen Zuständigkeit durch Erlass der Einspruchsentscheidung. Anders als bei einer Abhilfeentscheidung oder einer verbösernden Entscheidung (vgl. § 367 Abs. 2 Sätze 2 und 3 AO) trifft die Finanzbehörde, die über den Einspruch entscheidet, durch die Zurückweisung des Einspruchs keine Entscheidung in der Sache, die – anders als ein ändernder oder ersetzender Verwaltungsakt gemäß § 365 Abs. 3 AO – an die Stelle des angefochtenen Verwaltungsaktes träte. Der Senat folgt insofern der Auffassung des 10. Senats des Finanzgerichts Düsseldorf in dessen Urteil vom 08.12.2020 (10 K 2769/19 AO, EFG 2021, 513). § 367 AO ist nicht zu entnehmen, dass einer den Einspruch lediglich zurückweisenden Entscheidung eine derartige rechtliche Bedeutung zukäme. Eine andere Beurteilung hätte zur Folge, dass die sachliche Unzuständigkeit der den angefochtenen Verwaltungsakt erlassenden Behörde – abgesehen von Fällen der Verwerfung des Einspruchs (§ 358 Satz 2 AO) – nie erfolgreich gerügt werden könnte (FG Düsseldorf, Urteil vom 08.12.2020 10 K 2769/19 AO, EFG 2021, 513). Wenn ein solcher Zuständigkeitsmangel im Einspruchsverfahren ohne weiteres und insbesondere ohne ausdrückliche gesetzliche Regelung geheilt werden könnte, wäre die sachliche Unzuständigkeit der Ausgangsbehörde grundsätzlich bis zum Einspruchsverfahren unbeachtlich.
34Etwas anderes ergibt sich auch nicht daraus, dass im Einspruchsverfahren auch die sachliche und örtliche Zuständigkeit erneut zu prüfen ist und als Ergebnis dieser Überprüfung nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs die Entscheidung über den Einspruch auch der tatsächlich zuständigen Behörde überlassen werden kann (vgl. BFH, Urteil vom 19.01.2017 III R 31/15, BStBl II 2017, 642). Im Streitfall hat zwar die Familienkasse, in deren örtlichem Zuständigkeitsbereich die Klägerin wohnt, die Einspruchsentscheidung erlassen. Dies beruhte aber nicht auf einer Überprüfung und Erkenntnis der fehlenden sachlichen Zuständigkeit der Beklagten im Einspruchsverfahren, sondern darauf, dass der Vorstand der Bundesagentur für Arbeit mit seinen Beschlüssen vom 18.04.2013 (21/2013, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Mai 2013, Tz. 2.3), vom 14.04.2016 (15/2016, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Mai 2016, Tz. 2.4), vom 20.09.2018 (23/2018, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft Oktober 2016, Tz. 2.6) und vom 24.10.2019 (33/2019, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Monatsheft April 2020, Tz. 2.6) der Familienkasse ausdrücklich die „Zuständigkeit für die Bearbeitung von Rechtsbehelfen gegen Entscheidungen des Inkasso-Service im Bereich des steuerlichen Kindergeldes“ zugewiesen hat. Unabhängig davon, ob es an einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage für eine derartige Regelung fehlte (so der 10. Senat des Finanzgerichts Düsseldorf in dessen Urteil vom 08.12.2020 10 K 2769/19 AO, EFG 2021, 513), kann dies auch unter Berücksichtigung der vorgenannten BFH-Rechtsprechung nicht zu einer Heilung führen. Würde eine Heilung angenommen, würde dies zu einer Rechtsschutzverkürzung für all diejenigen potentiellen Erlass- und Stundungsberechtigten führen, die „zufällig“ im Bezirk der Familienkasse wohnhaft sind, denn gegenüber potentiellen Erlass- und Stundungsberechtigten, die im Bezirk einer anderen Familienkasse wohnen, könnte eine Heilung nicht eintreten und der Weg für eine erneute Sachentscheidung wäre frei. Darüber hinaus versteht der erkennende Senat die Rechtsprechung des BFH dahingehend, dass nur die Überlassung der Entscheidung an die sachlich und örtlich zuständige Behörde im „Bewusstsein“ der eigenen sachlichen und/oder örtlichen Unzuständigkeit zu einer Heilung führen kann.
35(2) Der Fehler, dass der Ablehnungsbescheid von der sachlich unzuständigen Behörde erlassen wurde, ist auch nicht gemäß § 127 AO unbeachtlich.
36§ 127 AO erfasst nach seinem eindeutigen Wortlaut nur Verstöße gegen Vorschriften über das Verfahren, die Form oder die örtliche Zuständigkeit. Die Aufzählung ist enumerativ. Die Vorschrift ist aufgrund ihres Ausnahmecharakters hinsichtlich anderer Fehler nicht analogiefähig. Eine Erstreckung des § 127 AO auf nicht genannte formelle Mängel, wie hier die Verletzungen der sachlichen Zuständigkeit, kommt daher nicht in Betracht (BFH-Urteil vom 21.04.1993 X R 112/91 Rz. 52 m.w.N., BStBl. II 1993, 649; Rozek in Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO § 127 AO Rz. 13; Seer in Tipke/Kruse AO/FGO § 127 AO Rz. 11; Drüen in Tipke/Kruse AO/FGO § 16 AO Rz. 15).
37Zudem ist die Vorschrift des § 127 AO bereits deshalb nicht auf Ermessensentscheidungen, wie die Entscheidung über einen Stundungsantrag, anwendbar, weil bei eingeräumtem Ermessen grundsätzlich (soweit nicht ein Ausnahmefall der Ermessensreduzierung auf Null vorliegt) mehrere rechtmäßige Entscheidungen in der Sache getroffen werden können.
38b) Der Umstand, dass die Beklagte für die Entscheidung über den Erlassantrag der Klägerin sachlich unzuständig war, kann allerdings nur dazu führen, dass die Ablehnungsentscheidung und die Einspruchsentscheidung aufgehoben werden (vgl. FG Düsseldorf, Gerichtsbescheid vom 14.05.2019 10 K 3317/18 AO, juris, i. Erg. bestätigt durch BFH-Urteil vom 25.02.2021 III R 36/19, BStBl. II 2021, 712). Eine Verpflichtung der Beklagten als sachlich unzuständiger Behörde, den Erlass zu gewähren, kann aus verfahrensrechtlichen Gründen nicht ausgesprochen werden.
394. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 1 FGO und richtet sich nach dem Verhältnis des Obsiegens und Unterliegens. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf §§ 151 Abs. 3, 155 FGO i. V. m. §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung.
405. Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 FGO wegen grundsätzlicher Bedeutung und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zugelassen. Die Rechtsfrage, ob die sachliche Unzuständigkeit der Ausgangsbehörde im Rechtsbehelfsverfahren durch eine Entscheidung der sachlich zuständigen Behörde geheilt werden kann, ist in der finanzgerichtlichen Rechtsprechung und der Literatur umstritten. Der BFH hat diese Frage in seinen Entscheidungen vom 25.02.2021 III R 36/19, BStBl. II 2021, 712 und III R 28/20, BFH/NV 2021, 1100 und vom 07.07.2021 III R 21/18, BFH/ NV 1457-1461 ausdrücklich offen gelassen.
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
- 10 K 3317/18 2x (nicht zugeordnet)
- FGO § 151 1x
- § 367 AO 1x (nicht zugeordnet)
- § 365 Abs. 3 AO 1x (nicht zugeordnet)
- § 127 AO 6x (nicht zugeordnet)
- BGB § 133 Auslegung einer Willenserklärung 1x
- 1993 X R 112/91 1x (nicht zugeordnet)
- 10 K 2769/19 4x (nicht zugeordnet)
- § 126 Abs. 1 AO 2x (nicht zugeordnet)
- III R 36/19 1x (nicht zugeordnet)
- § 16 AO 3x (nicht zugeordnet)
- § 358 Satz 2 AO 1x (nicht zugeordnet)
- FGO § 63 6x
- BGB § 157 Auslegung von Verträgen 1x
- 7 K 14045/18 1x (nicht zugeordnet)
- § 126 AO 6x (nicht zugeordnet)
- 1 K 3623/20 1x (nicht zugeordnet)
- § 125 AO 1x (nicht zugeordnet)
- FGO § 115 1x
- FGO § 136 1x
- 2017 III R 31/15 1x (nicht zugeordnet)
- FGO § 155 1x
- FGO § 101 1x
- III R 28/20 2x (nicht zugeordnet)
- § 126 Abs. 2 AO 1x (nicht zugeordnet)
- 9 K 2976/20 2x (nicht zugeordnet)
- § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 1 FVG 1x (nicht zugeordnet)
- 2021 III R 36/19 4x (nicht zugeordnet)
- 9 K 465/21 2x (nicht zugeordnet)
- 3 K 2344/20 1x (nicht zugeordnet)
- § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 FVG 2x (nicht zugeordnet)
- III R 21/18 1x (nicht zugeordnet)
- 2021 III R 21/18 1x (nicht zugeordnet)