Urteil vom Niedersächsisches Finanzgericht (10. Senat) - 10 K 141/18

Tatbestand

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Zwischen den Beteiligten ist die Auszahlung von Kindergeld für den Zeitraum August 2015 bis September 2017 streitig.

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Am 20. April 2015 beantragte der Kläger bei der Beklagten die Festsetzung von Kindergeld für das Kind …, geboren am …. Der Kläger gab an, dass die Tochter im Juli 2015 eine Ausbildung abschließen werde und ab September 2015 eine 3-jährige Ausbildung zur Erzieherin begänne. Mit Bescheid vom 3. Juni 2015 setzte die Beklagte Kindergeld für den Zeitraum ab März 2015 fest und hob die Festsetzung mit Bescheid vom 2. Juli 2015 ab August 2015 nach § 70 Abs. 2 EStG auf, da trotz Aufforderung nicht nachgewiesen wurde, dass sich das Kind weiterhin in Ausbildung befand.

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Mit Antrag vom 7. Oktober 2017, der erst am 4. März 2018 bei der Beklagten einging, begehrte der Kläger die Festsetzung von Kindergeld für den Zeitraum August 2015 bis August 2019. Mit Bescheid vom 9. April 2018 setzte die Beklagte Kindergeld ab dem Monat August 2015 fest, beschränkte jedoch die Auszahlung für den Zeitraum ab Oktober 2017, da der Kindergeldantrag verspätet gestellt worden sei.

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Mit Schreiben vom 16. April 2018, welches die Beklagte als Einspruch wertete, begehrte der Kläger die vollständige Auszahlung des Kindergelds, da er aufgrund von Krankheit nicht in der Lage gewesen sei, seine Verpflichtungen zu erfüllen. Er legte Unterlagen vor, aus denen hervorgeht, dass er an einer depressiven Störung bzw. Angststörung sowie dem Burnout-Syndrom litt, nachdem er im April 2016 einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte. In den folgenden Monaten unterzog sich der Kläger diversen Behandlungen und Therapien. Ab Januar 2017 führte er eine stufenweise Wiedereingliederung durch und war am dem 13. März 2017 wieder arbeitsfähig.

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Mit Einspruchsentscheidung vom 14. Mai 2018 wies die Beklagte den Einspruch als unbegründet zurück. Nach § 66 Abs. 3 EStG könnten Anträge, die nach dem 31. Dezember 2017 eingingen, nur noch zur Nachzahlung für die letzten 6 Kalendermonate vor dem Eingang des Antrags bei der Familienkasse führen. Folglich bestünde, da der Antrag des Klägers erst am 4. März 2018 bei der Beklagten eingegangen sei, ein Zahlungsanspruch lediglich ab Oktober 2017.

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Dagegen wendet sich der Kläger nunmehr mit seiner Klage und wiederholt seinen Vortrag aus dem Einspruchsverfahren. Er sei von der Beklagten falsch beraten worden, da sie ihn in einem Telefonat im letzten Quartal 2017 nicht darauf hingewiesen habe, dass sich die Nachforderungsmöglichkeit von Kindergeld ab dem 1. Januar 2018 von vier Jahren auf sechs Monate verringere. Aufgrund seiner Erkrankung von 12 Monaten sei eine Verschiebung des Beantragungszeitraums gerechtfertigt. Der Antrag aus März 2018 sei so zu werten, als wäre er im März 2017 gestellt worden. Er beruft sich auf Normen des Verwaltungsverfahrensgesetzes.

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Der Kläger beantragt,

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den Bescheid vom 9. April 2018 dergestalt zu ändern, dass das für das Kind Lea Sickermann ab August 2015 festgesetzte Kindergeld für den Zeitraum ab August 2015 bis September 2017 auszuzahlen ist.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Sie nimmt Bezug auf die Ausführungen der Einspruchsentscheidung und trägt vor, dass das Verwaltungsverfahrensgesetz vorliegend nicht anwendbar sei. Als der Kläger im September 2017 bei der Beklagten angerufen habe, hätten die Mitarbeiter der Beklagten von der Gesetzesänderung noch keine Kenntnis gehabt. Dies sei erst durch Einzelanweisung vom 25. Oktober 2017 geschehen.

Entscheidungsgründe

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I. Die Klage ist begründet. Der Abrechnungsbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 100 Abs. 1 Satz 1 FGO).

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Die Beklagte hat im Abrechnungsbescheid vom 9. April 2018 das ab August 2015 festgesetzte Kindergeld für den Zeitraum August 2015 bis September 2017 zu Unrecht als nicht auszahlbar angesehen.

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1. Der Kläger wendet sich mit seiner Anfechtungsklage i.S.d. § 40 Abs. 1 Alt. 1 FGO gegen den Abrechnungsbescheid vom 9. April 2018 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 14. Mai 2018. Der angegriffene Bescheid enthält neben dem Festsetzungsteil auch einen Abrechnungsteil. Unter der Überschrift Nachzahlung wird in dem Bescheid der noch auszuzahlende Betrag ermittelt. Damit traf die Beklagte eine Entscheidung über eine Streitigkeit i.S.d. § 218 Abs. 2 AO. Es ist nicht erforderlich, dass die Beklagte ausdrücklich die Bezeichnung Abrechnungsbescheid verwendet (BFH-Urteil vom 7. August 1990 VII R 120/89, BFH/NV 1991, 569).

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2. Der Kläger hat einen Anspruch auf Auszahlung des Kindergelds in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang. Die Beklagte hat das mit Bescheid vom 9. April 2018 festgesetzte Kindergeld in voller Höhe auszuzahlen und kann die Auszahlung nicht unter Berufung auf § 66 Abs. 3 EStG begrenzen.

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§ 66 Abs. 3 EStG normiert, dass das Kindergeld rückwirkend nur für sechs Monate vor Beginn des Monats gezahlt wird, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist. Die Norm gilt für Anträge, die nach dem 31. Dezember 2017 eingehen (§ 52 Abs. 49a S. 7 EStG). Zwar liegen die Voraussetzungen dieser Vorschrift vor, jedoch wäre in der Rechtsfolge bereits die Festsetzung des Kindergelds abzulehnen gewesen. Eine Einschränkung (allein) des Auszahlungsanspruchs ergibt sich aus der Vorschrift nicht.

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Dem steht nicht der Wille des Gesetzgebers entgegen, da sich dieser nicht eindeutig ermitteln lässt. In der BT-Drs. 18/12127, S. 62 wird ausgeführt, dass § 66 Abs. 3 EStG eine Regelung abweichend von der regulären Festsetzungsfrist des § 169 AO treffen soll. Folglich wäre das Erhebungsverfahren nicht tangiert. Die Wortwahl spricht für eine Wirkung im Festsetzungsverfahren (so auch Selder, in: Blümich EStG, Stand Juni 2018, § 66 Rn 35a; § Wendl, DStR 2018, 2065, 2066). Damit korrespondiert jedoch nicht der folgende Absatz, wonach der materiell-rechtliche Anspruch durch die Regelung nicht berührt werde und das Kindergeld nicht zur Auszahlung gelangen könne. Danach würde die Norm das Erhebungsverfahren betreffen.

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Die Finanzverwaltung geht im Schreiben bezüglich des Familienleistungsausgleichs (BZSt-Schreiben vom 25. Oktober 2017, BStBl I 2017, 1540) davon aus, dass § 66 Abs. 3 EStG nicht das Festsetzungsverfahren betrifft. Jedoch sind die Ausführungen des Schreibens in sich widersprüchlich. In der Einleitung wird ausdrücklich auf die Festsetzungsfrist des § 169 Abs. 2 Satz 1 Nummer 2 AO Bezug genommen und im Hinblick auf die lange Rückwirkung eine damit verbundene Missbrauchsgefahr gesehen. Ausweislich des Schreibens wird, um dieser entgegenzuwirken, die Sechsmonatsfrist des § 66 Abs. 3 EStG eingeführt. Die Aufeinanderfolge dieser beiden Sätze deutet zunächst auf eine Regelung des Festsetzungsverfahrens hin. Zwar wird dies unter Nummer 1 des Schreibens mit der Formulierung, dass die Regelung nicht das Festsetzungsverfahren betreffen solle, revidiert. Auch unter Nr. 2.1. wird hervorgehoben, dass die Norm nur im Erhebungsverfahren anzuwenden ist. Jedoch grenzt die Finanzverwaltung hier das Festsetzungsverfahren nicht im erforderlichen Maße vom Erhebungsverfahren ab.

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Eine Auslegung der Norm des § 66 Abs. 3 EStG unter Heranziehung ihrer Stellung im Gesetz führt dazu, die Regelung dem Festsetzungsverfahren zuzuordnen (so auch Pust, in: Littmann/Bitz/Pust, EStG, Stand: Februar 2018, § 66 Rn 70; Mutschler, in: BeckOK EStG, Stand Januar 2018, § 66 Rn 55; Selder, in: Blümich EStG, Stand Juni 2018, § 66 Rn 35a; Wendl, DStR 2018, 2065, 2066).

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Die Vorschriften der §§ 62 bis 66 EStG enthalten materielle Regelungen zum Anspruch auf Kindergeld. Erst die §§ 67 ff EStG regeln formelle Aspekte. Die Regelungen zum Kindergeld beginnen mit § 62 EStG, der zunächst regelt wer anspruchsberechtigt ist. Es folgt in § 63 EStG eine Regelung, für welche Kinder ein Berechtigter einen Anspruch auf Kindergeld hat, wobei an den Kinderbegriff des § 32 Abs. 1 EStG angeknüpft wird. § 64 EStG beschäftigt sich mit der Frage, welchem Berechtigten der Anspruch zusteht, wenn mehrerer Ansprüche zusammentreffen. Die Problematik der Anspruchskonkurrenz im Hinblick auf die Gewährung von Leistungen, die dem Kindergeld ähnlich sind, den behandelt § 65 EStG. § 66 EStG regelt in Absatz 1 die Höhe des Kindergelds und in Absatz 2 Zahlungszeitraum. Dort wird das Monatsprinzip festgeschrieben und klargestellt, dass ein Anspruch auf Kindergeld auch für den Monat besteht, in dem die Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld entfallen. Mit § 67 EStG beginnt sodann der verfahrensrechtliche Teil (so auch Selder, in: Blümich EStG, Stand Juni 2018, § 67 Rn 1). Zunächst werden in § 67 EStG das Antragserfordernis und in § 68 EStG Mitwirkungspflichten festgelegt. § 70 EStG regelt sodann die Festsetzung und die Zahlung des Kindergelds.

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Der Ansicht des Senats steht auch die Wortwahl des Gesetzgebers, der teilweise im Rahmen der materiellen Reglungen von Zahlung des Kindergelds spricht, nicht entgegen. Zweifelsohne regelt § 66 Abs. 2 EStG, wann der Anspruch auf die Steuervergütung entsteht (Festsetzungsverfahren) und nicht ob sie auszuzahlen ist (Erhebungsverfahren) (vergl. Selder, in: Blümich EStG, Stand Juni 2018, § 66 Rn 1,19ff; Weber-Grellet, in: Schmidt EStG, 37. Auflage 2018, § 66 Rn 4). Folglich kann sich auch der Begriff der Zahlung in § 66 Abs. 3 EStG sinnvollerweise nur auf das Festsetzungs- und nicht das Erhebungsverfahren beziehen. Die Verwendung des Wortes „gezahlt“ muss unter Berücksichtigung von systematischen Erwägungen in beiden Absätzen die gleiche Bedeutung haben und kann sich nicht in Abs. 2 auf das Festsetzungsverfahren und in Abs. 3 auf das Erhebungsverfahren beziehen. Aus dem Gesetzeswortlaut lässt sich eine Zugehörigkeit des § 66 Abs. 3 EStG zum Erhebungsverfahren daher nicht ableiten (Selder, in: Blümich EStG, Stand Juni 2018, § 66 Rn 65a). Zweifelsohne sind die §§ 64 und 65 EStG dem Festsetzungsverfahren zuzuordnen, auch wenn dort der Begriff „gezahlt“ verwendet wird (so auch Selder, in: Blümich EStG, Stand Juni 2018, § 66 Rn 65a; Wendl, DStR 2018, 2665, 2667), so dass allein das Wort „gezahlt“ in § 66 Abs. 3 EStG keine Zugehörigkeit zum Erhebungsverfahren begründet.

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Gegen die Auslegung des Senats spricht auch nicht der Umstand, dass der Gesetzgeber scheinbar mit § 66 Abs. 3 EStG nur das Erhebungsverfahren regeln wollte, um den Anspruch auf an das Kindergeld anknüpfende Annexleistungen zu erhalten. Dies ist ein Problem, dass nicht das Steuerrecht betrifft, sondern durch Auslegung der jeweiligen Gesetze zu lösen ist. Zudem lässt sich der in der Entwurfsbegründung enthaltene Hinweis, wonach § 66 Abs. 3 EStG den materiell-rechtlichen Anspruch bezüglich der Annexleistungen nicht berührt, auch dahingehend auslegen, dass die Annexleistungen nur das von der Ausschlussfrist unabhängige Entstehen des materiell-rechtlichen Kindergeldanspruchs verlangen (Wendl, DStR 2018, 2065, 2066; so auch Pust, in: Littmann/Bitz/Pust EStG, Stand Februar 2018, § 66 Rn 72).

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Die Auffassung des Senats wird zudem von der Rechtsprechung des BFH zur alten Fassung des § 66 Abs. 3 EStG gestützt.

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Die jetzige Fassung des § 66 Abs. 3 EStG ist mit der bis einschließlich 1997 geltenden Fassung wortgleich. Der BFH hat in ständiger Rechtsprechung zu der damaligen Vorschrift (vgl. u.a. BFH-Urteil vom 24. Oktober 2000 VI R 65/99, BStBl II 2001,109; vom 23. März 2001 VI R 181/98, juris; vom 14. Mai 2002 VIII R 68/00, BFH/NV 2002, 1293; vom 14. Mai 2002 VIII R 50/00, juris; 13. September 2012 V R 59/10, BFHE 239, 59) entschieden, dass sie den Kindergeldanspruch materiell-rechtlich ausschließe. Folglich handelte es sich nach Ansicht des BFH bei der alten Vorschrift um eine Vorschrift des Festsetzungsverfahrens. Ein anderes Verständnis der neuen Fassung des § 66 Abs. 3 EStG ist im Hinblick auf die alte Rechtsprechung zu einer identischen Regelung nicht angebracht. Selbst die Finanzverwaltung ging in den Einkommensteuerrichtlinien in der bis zum 31. Dezember 1997 geltenden Fassung davon aus, dass die Regelung den Beginn und das Ende des Kindergeldanspruchs regelt (R 242 Abs. 3 EStR 1996 in der Fassung vom 28. Februar 1997)

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Der festsetzende Teil des angefochtenen Bescheides bildet den Rechtsgrund für die Verpflichtung zur Auszahlung des Kindergelds. Da die Festsetzung selbst keine Beschränkung auf 6 Monate seit Antragstellung enthält, ist diese Begünstigung zwar nicht gesetzeskonform, aber infolge der Bestandskraft des Bescheides bindend.

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3. Im Übrigen hätte die Beklagte auch unter Zugrundelegung ihrer Rechtsansicht das Kindergeld für den Zeitraum September 2017 auszahlen müssen. Die sechs Kalendermonate vor Antragsstellung sind die Monate September 2017 bis Februar 2018 (siehe BZSt-Schreiben vom 25. Oktober 2017, BStBl. I 2017, 865, Bsp. 1)

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II. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.

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III. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 151 Abs. 1, 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).

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IV. Die Revision wird gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 und 2 FGO zugelassen.

 


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