Urteil vom Landesarbeitsgericht Sachsen-Anhalt (6. Kammer) - 6 Sa 242/13

Tenor

Auf die Berufung des Klägers wird das Urteil des Arbeitsgerichts Halle vom 21.02.2013 – 5 Ca 1097/12 NMB – abgeändert.

Es wird festgestellt, dass die Beklagte verpflichtet ist, dem Kläger ab dem 01.03.2011 Vergütung nach der Vergütungsgruppe 08 des Tarifvertrages Eingruppierung vom 16.11.2010 zu gewähren.

Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits.

Die Revision wird zugelassen.

Tatbestand

1

Die Parteien streiten über die korrekte Eingruppierung des Klägers.

2

Dieser ist seit dem 01.09.1977 bei der Beklagten bzw. deren Rechtsvorgängern tätig.

3

Die Rechtsbeziehungen der Parteien bestimmen sich nach dem Änderungsvertrag vom 08.08.2000 (Bl. 5 d.A.), dem unter anderem folgender Inhalt zukommt:

4

5

1. Änderung der Arbeitsaufgabe
Arbeitsaufgabe ist
        Energieanlagenelektroniker hochwertige Arbeiten Veredelungsanlagen
                    (07038)
2. Änderung des Arbeitsortes
Arbeitsort ist
                    W
3. Änderung der Vergütung
Die Vergütung erfolgt nach Tarifgruppe 07 des jeweils gültigen Vergütungstarifvertrages (VTV-BG) zuzüglich zutreffender Zuschläge.

6

7

Weiter ist auf die Rechtsbeziehungen der Parteien der für das Unternehmen der Beklagten seit dem 01.03.2011 geltende Tarifvertrag Eingruppierung (TV-EG – Bl. 333 – 350 d.A.) vom 16.11.2010 anwendbar. Vor dessen Inkrafttreten kam der Tarifvertrag Stelleneinteilung (TV Stelleneinteilung – Bl. 139 – 141 d.A.) vom 15.02.1993, dessen betrieblicher Anwendungsbereich sich auf die Braunkohleindustrie in der Lausitz und in Mitteldeutschland erstreckte, zur Anwendung.

8

§ 3 TV-EG enthält wiederum für bei Inkrafttreten bereits bestehende Eingruppierungen nach dem TV Stelleneinteilung eine Überleitungsregelung.

9

Die Beklagte entlohnt den Kläger, der im Braunkohlekraftwerk W als Energieanlagenelektroniker tätig ist und über einen Berufsabschluss als Elektromonteur nach dem Recht der ehemaligen DDR verfügt, welcher dem nach bundesdeutschem Recht zu erwerbenden Abschluss als Elektroanlageninstallateur entspricht, gemäß der Vereinbarung im Änderungsvertrag vom 08.08.2000 nach Vergütungsgruppe (VG) 07 des TV-EG bzw. vor dessen Inkrafttreten nach VG 07 TV Stelleneinteilung.

10

Der Kläger hat diese Eingruppierung zunächst hingenommen, sich jedoch nach dem Inkrafttreten des TV-EG – Antrag vom 09.04.2011 – an die nach Maßgabe des § 2 Abs. 13 TV-EG gebildete paritätische Kommission mit der Bitte um Überprüfung seiner Eingruppierung gewandt. Die paritätische Kommission hat wiederum im Ergebnis eine inhaltliche Stellungnahme zur Eingruppierung des Klägers verweigert, weil hierfür eine Zuständigkeit – der Kläger werde lediglich aus dem TV Stelleneinteilung übergeleitet – nicht gegeben sei. Nachdem auch eine interne Eingabe bei der Personalabteilung der Beklagten erfolglos geblieben ist, verfolgt der Kläger nunmehr seine Ansprüche auf Vergütung nach VG 08 TV-EG mit der vorliegenden Eingruppierungsfeststellungsklage weiter.

11

Er hat die Auffassung vertreten, er sei bereits bei Übertragung der Tätigkeit als Energieanlagenelektroniker mit dem Arbeitsort im Kraftwerk W fehlerhaft nach dem damals geltenden TV Stelleneinteilung in die VG 07 eingruppiert worden. Korrekt wäre eine Eingruppierung in die VG 08/006 gewesen, die für Energieanlagenelektroniker mit hochwertigen Arbeiten in dampftechnischen Anlagen gelte und – unstreitig – eine Überleitung in die VG 08 TV-EG begründe. Eine solche Tätigkeit übe er tatsächlich aus. Bei dem Braunkohlekraftwerk in W handele es sich um eine dampftechnische Anlage und nicht um eine Veredelungsanlage im Sinne der VG 07/038 des vorgenannten Tarifvertrages. Sein Arbeitsbereich liege ganz überwiegend im Einflussbereich von dampftechnischen Anlagen, nämlich dem Kessel und der Turbine – dem Hauptbestandteil – des Kraftwerks. Dies sei bei 11 von 25 Arbeitsaufgaben der Fall. Dabei sei er auch ganz überwiegend den bei der Bewertung des Arbeitsplatzes „Energieanlagenelektroniker hochwertige Arbeiten dampftechnische Anlagen“ zugrunde gelegten Erschwernissen in Form von Hitze, Lärm und ähnlichen Faktoren ausgesetzt.

12

Der Kläger hat beantragt,

13

festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, den Kläger ab 01.03.2011 in der Vergütungsgruppe 08 des Tarifvertrages Eingruppierung, abgeschlossen zwischen dem Deutschen Braunkohlen-Industrie-Verein und der IG Bergbau-Chemie-Energie am 16.11.2010 zu entlohnen.

14

Die Beklagte hat beantragt,

15

die Klage abzuweisen.

16

Die Beklagte hat die von dem Kläger behaupteten Erschwernisse bei Ausübung seiner Tätigkeit im Kraftwerk W bestritten.

17

Sie hat im Übrigen die Auffassung vertreten, bei dem Kraftwerk in W als solchem handele es sich um eine Veredelungsanlage im tarifrechtlichen Sinne, so dass der Kläger zu Recht in die VG 07/038 TV Stelleneinteilung eingruppiert worden sei. Diese Tarifgruppe unterscheide sich von der VG 08/006TV Stelleneinteilung nach der von den Tarifvertragsparteien vorgenommenen analytischen Bewertung der Arbeitsplätze gemäß §§ 2 und 3 TV Stelleneinteilung lediglich durch die Bewertung der Arbeitsumgebung. Hingegen seien die Arbeitsplätze hinsichtlich der beruflichen Qualifikation und der auszuübenden Tätigkeit identisch bewertet worden. Für die Rubriken Unfallgefährdung und Arbeitserschwernisse haben die Tarifvertragsparteien bei jenem Arbeitsplatz in einer Veredelungsanlage lediglich 2,2 Punkte vergeben, während sie den identischen Arbeitsplatz in einer dampftechnischen Anlage insoweit mit 5,8 Punkten bewertet haben. Wegen der weiteren Einzelheiten der vorgenannten analytischen Bewertung (Anlage 2 zum TV Stelleneinteilung) wird auf die Anlage B4 zum Schriftsatz der Beklagten vom 19.07.2012 (Bl. 61 f.d.A) verwiesen.

18

Angesichts dieser Bewertung der Tarifvertragsparteien – so hat die Beklagte gemeint – setze eine Eingruppierung in die VG 08/006 TV Stelleneinteilung voraus, dass der von dem Kläger tatsächlich im Kraftwerk W ausgeübte Arbeitsplatz derartige Erschwernisse aufweise. Dies sei jedoch nicht der Fall. In dem – unstreitig – im Jahr 1994 in Betrieb gegangenen Kraftwerk W sei lediglich eine durchschnittliche Arbeitserschwernis und Unfallgefährdung, die mit dem für Veredelungsanlagen geltenden Punktewert von 2,2 abgedeckt sei, gegeben. Zwar werde in dem Kraftwerk W eine dampftechnische Anlage betrieben. Das Kraftwerk insgesamt sei jedoch als Veredelungsanlage im tarifrechtlichen Sinne zu bewerten. Da im Übrigen die von den Tarifvertragsparteien erstellte Funktionsbeschreibung für die VG 07/038 (Anlage B2 zum vorgenannten Schriftsatz – Bl. 59 d.A.) und für die VG 08/006 TV Stelleneinteilung (Anlage B3 zum vorgenannten Schriftsatz – Bl. 60 d.A.) identisch sei, sei die Eingruppierung des Klägers in die VG 07/038 TV Stelleneinteilung im Jahr 2000 korrekt erfolgt. Auf dieser Basis sei der Kläger im Jahr 2011 nach Maßgabe des § 3 TV-EG in Verbindung mit dem dort benannten Überleitungsraster zutreffend in die VG 07 TV-EG eingruppiert worden.

19

Das Arbeitsgericht hat mit Urteil vom 21.02.2013 die Klage abgewiesen und die Kosten des Rechtsstreits dem Kläger auferlegt. Zur Begründung hat das Arbeitsgericht ausgeführt, die Klage sei schon deshalb abzuweisen, weil der Kläger die für die VG 08 TV Stelleneinteilung erforderliche berufliche Qualifikation eines Energieanlagenelektronikers nicht hinreichend substantiiert dargelegt habe. Im Übrigen habe er aber auch nicht konkret genug zu den für die Eingruppierung maßgeblichen Tätigkeiten im Kraftwerk W Sachvortrag gehalten. Wegen der weiteren Einzelheiten der angefochtenen Entscheidung wird auf Bl. 166 – 178 d.A. verwiesen.

20

Gegen diese, ihm am 21.05.2013 zugestellte Entscheidung hat der Kläger am 04.06.2013 Berufung eingelegt und diese sogleich begründet.

21

Mit seinem Rechtsmittel verfolgt er seine – wie er im Termin am 11.11.2014 klargestellt hat – Eingruppierungsfeststellungsklage gerichtet auf Vergütung nach VG 08 TV-EG weiter. Er ergänzt sein Vorbringen zu dem von ihm erlangten Berufsabschluss, wobei zwischen den Parteien nicht streitig ist, dass jener die tariflichen Voraussetzungen des „Energieanlagenelektronikers“ erfüllt. Weiter ergänzt er sein Vorbringen zu den im Kraftwerk W zu verrichtenden Tätigkeiten. Diese fallen zu 85 % im Einflussbereich dampftechnischer Anlagen an und seien so gestaltet, dass die von den Tarifvertragsparteien für die VG 08/006 TV Stelleneinteilung zugrunde gelegten Erschwernisse und Unfallgefahren gegeben seien. Wegen der weiteren Einzelheiten dieses Vorbringens wird auf die im Schriftsatz des Klägers vom 10.11.2013 auf den Seiten 5 und 6 eingearbeitete Tabelle (Bl. 255 f d.A.) verwiesen.

22

Der Kläger beantragt,

23

das Urteil des Arbeitsgerichts Halle vom 21.02.2013 abzuändern und festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, den Kläger ab 01.03.2011 in der Vergütungsgruppe 08 des Tarifvertrages Eingruppierung, abgeschlossen zwischen dem Deutschen Braunkohlen-Industrie-Verein und der IG Bergbau-Chemie-Energie am 16.11.2010 zu entlohnen.

24

Die Beklagte beantragt,

25

die Berufung des Klägers zurückzuweisen.

26

Sie verteidigt die angefochtene Entscheidung und hält insbesondere an ihrem Rechtsstandpunkt, eine Eingruppierung in die VG 08/006 TV Stelleneinteilung setze voraus, dass der konkret von dem Kläger ausgeübte Arbeitsplatz im Kraftwerk W die von den Tarifvertragsparteien in der analytischen Bewertung in Ansatz gebrachte Punktzahl betreffend Arbeitserschwernisse und Unfallgefahren aufweise, fest. Dies sei vorliegend nicht der Fall. Der diesbezügliche Vortrag des Klägers werde bestritten.

27

Im Übrigen haben die Parteien arbeitsvertraglich (Änderungsvertrag vom 08.08.2010) eine Tätigkeit des Klägers in einer Veredelungsanlage ausdrücklich vereinbart. Auch dies stehe der begehrten Eingruppierung in die VG 08 TV-EG entgegen.

28

Schlussendlich sei der Anspruch des Klägers verwirkt, weil er diesen über mehr als 10 Jahre nicht gegenüber der Beklagten geltend gemacht habe.

29

Wegen der weiteren Einzelheiten des Parteivorbringens wird auf die zur Akte gereichten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.

Entscheidungsgründe

A.

30

Die an sich statthafte (§§ 8 Abs. 2, 64 ArbGG) und auch im Übrigen zulässige (§ 66 Abs. 1 ArbGG) Berufung des Klägers ist begründet. Das Arbeitsgericht hat zu Unrecht die Eingruppierungsfeststellungsklage abgewiesen. Dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch auf Vergütung nach VG 08 TV-EG zu.

I.

31

Die – wie der Kläger klargestellt hat – Eingruppierungsfeststellungsklage ist zulässig. Ein Feststellungsinteresse gemäß § 256 Abs. 1 ZPO besteht. Weiter steht der Zulässigkeit nicht entgegen, dass der Kläger sein Klagebegehren in Form einer Leistungsklage geltend machen könnte. Eingruppierungsfeststellungsklagen auch in der Privatwirtschaft sind dann zulässig, wenn durch die begehrte Feststellung voraussichtlich der Streit zwischen den Parteien abschließend entschieden werden kann und keine Anhaltspunkte dafür erkennbar sind, dass der in einem solchen Prozess beklagte Arbeitgeber sich nicht an eine rechtskräftige allgemeine Feststellung der ihn betreffenden Leistungsverpflichtung halten würde (BAG 22.10.2008 – 4 AZR 735/07 – Rn. 16).

32

So verhält es sich vorliegend. Die Parteien streiten ausschließlich über die Frage, ob die Tätigkeit des Klägers als Energieanlagenelektroniker mit hochwertigen Arbeiten hinsichtlich seines Tätigkeitsbereiches dem tariflichen Begriff „Veredelungsanlage“ oder jenem der „dampftechnischen Anlage“ zuzuordnen ist. Es steht daher zu erwarten, dass nach Klärung dieser Rechtsfrage der Streit der Parteien über die korrekte Vergütung des Klägers erledigt ist.

II.

33

Die Klage ist auch begründet. Dem Kläger steht aus § 3 Abs. 1 TV-EG i.V.m. Anlage 2 Nr. 76 „Energieanlagenelektroniker hochwertig Tagebau/Dampftechnik“ i.V.m. Anlage 3 Nr. 76 „Energieanlagenelektr. hochwertige Arbeiten dampftechnische Anlagen – Energieanlagenelektroniker hochwertig Tagebau/Dampftechnik“ i.V.m. § 2 TV Stelleneinteilung Anlage 1 (Stelleneinteilung) und 2 (Tariffunktionen) ein Anspruch auf Vergütung aus VG 08 seit 01.03.2011 zu.

34

§ 3 TV-EG lautet:

35

(1) Die Tätigkeiten des Tarifvertrages Stelleneinteilung vom 15. Februar 1993 werden entsprechend dem Überleitungsraster (Anlage 3) dem neuen Vergütungsgruppenverzeichnis (Anlage 2) zugeordnet.

36

(2) Bisher erreichte Zeiten der jeweiligen Stufe der Tarifgruppenjahre werden auf die Zeiten für die Gewährung der nächst höheren Stufe der Vergütungsgruppenjahre angerechnet.

37

§§ 2 und 3 TV Stelleneinteilung kommt folgender Inhalt zu:

38

§ 2 Stelleneinteilung

39

1. Die Stelleneinteilung als Auflistung der Tariffunktionen, geordnet nach Tarifgruppen und in alphabetischer Reihenfolge, ist als Anlage 1 Bestandteil dieses Tarifvertrages.

40

2. Der Katalog Tariffunktionen mit der Beschreibung und Bewertung der in der Stelleneinteilung enthaltenen Tariffunktionen ist als Anlage 2 Bestandteil dieses Tarifvertrages.

41

3. Die Funktionsbezeichnungen gelten gleichermaßen für Männer und Frauen, soweit gesetzliche Bestimmungen dem nicht entgegenstehen.

42

Die Bezeichnungen der Tariffunktionen wurden entsprechend dem üblichen Sprachgebrauch gewählt. In betrieblichen Dokumenten und Arbeitsverträgen kann die maskuline oder feminine Bezeichnung gleichermaßen angewendet werden.

43

4. Die Funktionsbeschreibungen enthalten die für die Bewertung maßgebenden Tätigkeiten. Sie sind keine umfassende und abschließende Aufgabenbeschreibung. Es müssen die wesentlichen Tätigkeitsmerkmale erfüllt werden, um den Rechtsanspruch auf Eingruppierung nach einer bestimmten Tariffunktion zu begründen.

44

§ 3 Bewertung der Tariffunktionen

45

1. Die Punktzahl für die in der Stelleneinteilung enthaltenen Tariffunktionen, auf denen die Arbeitnehmer entsprechend den dazugehörenden Funktionsbeschreibungen eingesetzt sind, wird durch Bewertung ermittelt und von den Tarifvertragsparteien vereinbart.

46

2. Die Zuordnung der in der Stelleneinteilung enthaltenen und nach den Bestimmungen dieses Tarifvertrages bewerteten Tariffunktionen zu den Tarifgruppen erfolgt nach folgenden für die Tarifgruppen festgelegten Punktzahlspannen:

47

Tarifgruppe

        

Punktzahlspanne

        

Tarifgruppe

        

Punktzahlspanne

1       

        

10,0 – 12,9

        

11    

        

46,7 – 51,1

2       

        

13,0 – 16,0

        

12    

        

51,2 – 55,9

3       

        

16,1 – 19,4

        

13    

        

56,0 – 60,9

4       

        

19,5 – 22,8

        

14    

        

61,0 – 66,2

5       

        

22,9 – 26,4

        

15    

        

66,3 – 71,6

6       

        

26,5 – 30,0

        

16    

        

71,7 – 77,3

7       

        

30,1 – 33,9

        

17    

        

77,4 – 83,2

8       

        

34,0 – 37,9

        

18    

        

83,3 – 89,5

9       

        

38,0 – 42,2

        

19    

        

89,6 – 95,9

10    

        

42,3 – 46,6

        

20    

        

96,0 und mehr

48

49

Den in Anlage 1 TV Stelleneinteilung aufgenommenen, hier streitgegenständlichen Vergütungsgruppen, die in Anlage 2 TV Stelleneinteilung näher definiert werden, kommt hinsichtlich der Funktionsbeschreibung folgender Inhalt zu:

50

51

Tarifgr./Ordnungsnr. 07/038 [Energieanlagenelektroniker hochwertige Arbeiten Veredelungsanlagen]

52

Führt hochwertige Instandhaltungsarbeiten (einschließlich Inspektion), Errichtungs- und Erweiterungsarbeiten an elektrischen Anlagen der Energie-, Nachrichten- und Zugsicherungstechnik einschließlich der ggf. erforderlichen Korrektur der Schaltungs- und Planunterlagen durch, z.B.

53

- führt Kontrollen und Arbeiten einschließlich Einstellen an Steuer-, Meß-, Schutz-, Regel- und Überwachungseinrichtungen und zugehörigen Stromkreisen von Haupt- und Zentralschaltungen (einschließlich Warten) durch,

54

- arbeitet an kontaktlosen Anlagen,

55

- führt Arbeiten an Funk-, Fernwirk- und Informationsanlagen durch,

56

- arbeitet an Selbstblockeinrichtungen, Zugnummernmeldungen, Fernsteuerungen und Abhängigkeitsschaltungen.

57

Führt Fehlersuche, Meß- und Prüfvorgänge, Änderungen in schwierigen Steuer-, Melde-, Meß- und Regelkreisen durch.

58

Stellt her und sichert den spannungsfreien Zustand von elektrischen Anlagen und führt Schalthandlungen nach den örtlich geltenden Festlegungen über die Schaltberechtigung aus.

59

Arbeitet an unter Spannung stehenden Teilen auf Anweisung der zuständigen Aufsichtsperson.

60

Reinigt Arbeitsplatz und hilft mit bei Störungsbeseitigungen, auch im nichthandwerklichen Bereich.

61

62

Tarifgr./Ordnungsnr. 08/006 [Energieanlagenelektroniker hochwertige Arbeiten dampftechnische Anlagen]

63

Führt hochwertige Instandhaltungsarbeiten (einschließlich Inspektionen), Errichtungs- und Erweiterungsarbeiten an elektrischen Anlagen der Energie- und Nachrichten- sowie Meß- und Regeltechnik einschließlich der ggf. erforderlichen Korrektur der Schaltungs- und Planungsunterlagen im unmittelbaren Einflussbereich von in Betrieb befindlichen dampftechnischen Anlagenteilen durch, z.B.

64

- führt Kontrollen und Arbeiten einschließlich Einstellen an Steuer-, Meß-, Schutz-, Regel- und Überwachungseinrichtungen und zugehörigen Stromkreisen von Haupt- und Zentralschaltungen durch,

65

- arbeitet an kontaktlosen Anlagen,

66

- führt Arbeiten an Fernwirk- und Informationsanlagen durch,

67

- arbeitet an Meßwertgebern und Meßstellen, Fernsteuerungen und Abhängigkeitsschaltungen.

68

Im unmittelbaren Einflussbereich von in Betrieb befindlichen Kesseln, Turbinen und Trocknern werden außerdem folgende Arbeiten ausgeführt:

69

- Fehlersuche, Meß- und Prüfvorgänge, Änderungen im Steuer-, Melde-, Meß- und Regelkreisen

70

- Herstellen und Sichern des spannungsfreien Zustandes von elektrischen Anlagen und Ausführen von Schalthandlungen nach den örtlich geltenden Festlegungen über die Schaltberechtigung.

71

- Arbeiten an unter Spannung stehenden Teilen auf Anweisung der zuständigen Aufsichtsperson.

72

Reinigt Arbeitsplatz und hilft mit bei Störungsbeseitigungen, auch im nichthandwerklichen Bereich.

73

74

Bei korrekter Auslegung dieser tariflichen Bestimmungen ist die von dem Kläger seit dem Jahr 2000 vertraglich auszuübende Tätigkeit als Energieanlagenelektroniker im Kraftwerk W mit hochwertigen Arbeiten der VG 08/006 TV Stelleneinteilung:

75

Energieanlagenelektroniker hochwertige Arbeiten
dampftechnische Anlagen

76

zuzuordnen.

77

Gemäß § 3 Abs. 1 TV-EG in Verbindung mit den dort benannten Anlagen war der Kläger sodann mit Wirkung zum 01.03.2011 in die VG 08 TV-EG überzuleiten.

78

1. Die dem Kläger vertraglich dauerhaft übertragene Tätigkeit als Energieanlagenelektroniker im Kraftwerk W erfüllt die tariflichen Voraussetzungen der VG 08/006 TV Stelleneinteilung.

79

a. Der Kläger verfügt über die dort genannte berufliche Qualifikation. Dass der (anerkannte) Berufsabschluss des Klägers als Elektroanlageninstallateur die tariflichen Voraussetzungen erfüllt, ist (und war) zwischen den Parteien unstreitig. Die Beklagte hat auch in ihrem zweitinstanzlichen Vorbringen diesbezüglich nichts Gegenteiliges vorgetragen, was im Übrigen auch im Widerspruch zu der von ihr selbst angenommenen Eingruppierung in die VG 07 TV Stelleneinteilung stehen würde, die ebenfalls den vorgenannten Berufsabschluss voraussetzt.

80

b. Weiter ist zwischen den Parteien unstreitig, dass die von dem Kläger auszuübenden Tätigkeiten als hochwertige Arbeiten im tarifvertraglichen Sinne einzustufen sind. Die Beklagte räumt die Erfüllung dieses Merkmals ein. Sie stützt die von ihr vorgenommene Eingruppierung in die VG 07 TV Stelleneinteilung ausschließlich darauf, dass der Kläger nicht im Einflussbereich von dampftechnischen Anlagen im Sinne der VG 08/006 TV Stelleneinteilung hochwertige Arbeiten verrichte.

81

c. Diese Rechtsauffassung der Beklagten ist jedoch unzutreffend. Nach dem sich bietenden Sachverhalt und der gebotenen Auslegung des TV Stelleneinteilung ist die von dem Kläger auszuübende Tätigkeit in einer dampftechnischen Anlage zu erbringen

82

aa. Der Erfüllung dieses Merkmals steht nicht der in Ziffer 1 des Änderungsvertrages vom 08.08.2000 von den Vertragsparteien im Zusammenhang mit der Definition der Arbeitsaufgabe des Klägers verwendete Begriff „Veredelungsanlagen“ entgegen.

83

Aus dem Gesamtinhalt des Änderungsvertrages ergibt sich vielmehr, dass die Parteien die vertraglich von dem Kläger geschuldete Tätigkeit – unbeschadet des vorgenannten Fachterminus – dahin geregelt haben, er solle als Energieanlagenelektroniker in einem Kohlekraftwerk, konkret dem Braunkohlekraftwerk W (Ziff. 2 Änderungsvertrag) tätig werden.

84

Damit bestimmt sich die tarifliche Bewertung der Tätigkeit des Klägers nach Maßgabe der von ihm in Vollzug des Änderungsvertrages tatsächlich im Kraftwerk W zu erbringenden Arbeitsleistung. Dass die Parteien unabhängig von den tariflichen Vorgaben die für die Tätigkeit im Kraftwerk W geschuldete Vergütung konstitutiv mit der VG 07 TV Stelleneinteilung bemessen wollten, ist dem Änderungsvertrag nicht zu entnehmen. Der Begriff „Veredelungsanlagen“ vermag einen hierauf gerichteten übereinstimmenden Willen der Parteien nicht zu begründen. Im Hinblick auf den konkret bezeichneten Tätigkeitsort liegt hierin lediglich eine sog. falsa demonstratio, die auf die Bestimmung des wirklichen Willens der Vertragsparteien keinen Einfluss hat.

85

bb. Der Einsatz des Klägers im Braunkohlekraftwerk W ist tarifrechtlich als Tätigkeit in einer dampftechnischen Anlage anzusehen.

86

Allerdings ist dieses Tarifmerkmal nicht bereits durch einen irgendwie gearteten Einsatz des Klägers als Energieanlagenelektroniker in dem Kraftwerk gegeben. Erforderlich ist vielmehr, dass die wesentlichen Tätigkeitsmerkmale im Bereich von dampftechnischen Anlagenteilen anfallen. Hingegen ist nicht erforderlich, dass bei einer solchen Tätigkeit konkret Arbeitserschwernisse in Form von Hitze, Lärm, Chemikalieneinwirkung oder ähnlichen Faktoren sowie erhöhte Unfallgefahren auftreten, die einen Punktewert von mindestens 2,5 gem. § 3 TV Stelleneinteilung aufweisen. Dies ergibt eine Auslegung des Tarifvertrages.

87

Die Auslegung des normativen Teils eines Tarifvertrages folgt nach ständiger Rechtsprechung den für die Auslegung von Gesetzen geltenden Regeln. Danach ist zunächst vom Tarifwortlaut auszugehen, wobei der maßgebliche Sinn der Erklärung zu erforschen ist, ohne am Buchstaben zu haften. Beim nicht eindeutigem Tarifwortlaut ist der wirkliche Wille der Tarifvertragsparteien mitzuberücksichtigen, soweit er in den tariflichen Normen seinen Niederschlag gefunden hat. Abzustellen ist stets auf den tariflichen Gesamtzusammenhang, weil dieser Anhaltspunkte für den wirklichen Willen der Tarifvertragsparteien liefert und nur so Sinn und Zweck der Tarifnorm zutreffend ermittelt werden können. Lässt dies zweifelsfreie Auslegungsergebnisse nicht zu, dann können die Gerichte für Arbeitssachen ohne Bindung an eine Reihenfolge weitere Kriterien wie die Entstehungsgeschichte des Tarifvertrages, ggf. auch die praktische Tarifübung ergänzend hinzuziehen. Auch die Praktikabilität denkbarer Auslegungsergebnisse ist zu berücksichtigen; im Zweifel gebührt derjenigen Tarifauslegung der Vorzug, die zu einer vernünftigen, sachgerechten, zweckorientierten und praktisch brauchbaren Regelung führt (BAG 05.10.1999 – 4 AZR 668/98 – juris Rn. 25).

88

aaa. Bei Anwendung dieser Grundsätze ergibt sich die von dem Kläger begehrte Eingruppierung in die VG 08/006 TV Stelleneinteilung nicht – quasi im Wege des Umkehrschlusses – bereits daraus, dass das Kraftwerk W per se keine Veredelungsanlage im tarifrechtlichen Sinne darstellt. Dem steht der Inhalt der Funktionsbezeichnung/-beschreibung der VG 08/006 TV Stelleneinteilung entgegen. Diese bezeichnet den räumlichen Funktionsbereich als „Kessel-/Turbinen-/Trocknungsanlagen“ und definiert die auszuübenden Tätigkeiten insoweit als

89

…Instandhaltungsarbeiten im unmittelbaren Einflussbereich von im Betrieb
befindlichen dampftechnischen Anlagenteilen.

90

Dieser Definition unterfällt – was auch die Beklagte nicht in Abrede stellt – die Turbinen- und Kesselanlage im Kraftwerk W. Andererseits ist aus der vorgenannten Funktionsbezeichnung und -beschreibung nicht zu entnehmen, dass unter den Begriff „dampftechnische Anlage“ unter Ausschließung des Begriffs „Veredelungsanlage“ ein Kohlekraftwerk insgesamt fällt. Eine nähere Definition dieser technischen Anlagen ist dem Tarifvertrag nicht zu entnehmen. Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch erfasst der Begriff der Kohleveredelung auch deren Verstromung (Duden, Deutsche Rechtschreibung: „Gesamtheit der Verfahren, durch die Kohle aufbereitet und in andere Formen von Energie umgewandelt wird.“). Dementsprechend findet sich auf der Homepage der RWE-Gruppe (www.rwe.com) unter dem Stichwort „Kohleveredelung“ folgender Eintrag: „Das erste Produkt aus rheinischer Braunkohle war nicht Strom, sondern die „Klütte“. In die gleiche Richtung geht der Eintragung im Internetlexikon wikipedia (http://de.wikipedia.org/.wiki.kohleveredelung), wo es zum Stichwort „Verstromung“ heißt: „Letztlich mag man auch die Nutzung von Kohle in Kohlekraftwerken, die aus Kohle Elektrizität erzeugen, als Veredelung bezeichnen“.

91

Weiter spricht dafür, dass der Betrieb einer dampftechnischen Anlage in einem Kohlekraftwerk es nicht ausschließt, jenes im Sinne des vorgenannten Tarifvertrages als Veredelungsanlage einzustufen, der Inhalt der Funktionsbeschreibung VG 08/006, die auf den Einsatz im unmittelbaren Einflussbereich von dampftechnischen Anlagenteilen abstellt, während die dieselbe Tätigkeit betreffende Funktionsbeschreibung in der VG 07/038 der Anlage 2 zum TV Stelleneinteilung den Einsatz des Energieanlagenelektronikers in einer Veredelungsanlage räumlich nicht näher eingrenzt.

92

Schlussendlich entspricht diese Auslegung dem Normzweck. Die höhere Bewertung einer Tätigkeit als Energieanlagenelektroniker im Bereich von dampftechnischen Anlagen beruht ausschließlich auf einer von den Tarifvertragsparteien vorgenommenen analytischen Bewertung der jeweiligen Arbeitsplätze, wonach der Arbeitsplatz in einer dampftechnischen Anlage in Bezug auf die dort auftretenden Erschwernisse und Unfallgefahren sich deutlich von einer entsprechenden Tätigkeit in Veredelungsanlagen abhebt. Zwar haben die Tarifvertragsparteien – wie noch auszuführen sein wird – das Vorliegen von bestimmten Erschwernissen bei Tätigkeiten im Bereich von dampftechnischen Anlagen nicht zur Tatbestandsvoraussetzung einer Eingruppierung in die VG 08/006 TV Stelleneinteilung erhoben. Aus der vorgenannten Bewertung eines „Referenzarbeitsplatzes“ wird aber andererseits der tarifliche Zweck deutlich, nur solche Tätigkeiten vergütungsrechtlich höher zu bewerten, die in einem Zusammenhang mit den in einer dampftechnischen Anlage typischerweise auftretenden Erschwernissen und Unfallgefahren stehen, was unstreitig nicht bei sämtlichen Arbeiten, die für einen Energieanlagenelektroniker in einem Kraftwerk anfallen, gegeben ist.

93

bbb. Gemäß § 2.4 Satz 3 TV Stelleneinteilung setzt der Rechtsanspruch auf Eingruppierung vielmehr voraus, dass die wesentlichen Tätigkeitsmerkmale [der Funktionsbezeichnung] erfüllt sind. Die Tarifvertragsparteien verlangen damit zwar nicht, dass die gesamte auszuübende Tätigkeit von der Funktionsbezeichnung erfasst wird. Der Begriff „wesentlich“ bedeutet aber, dass die Tätigkeit zumindest überwiegend der Funktionsbezeichnung unterfällt (so ausdrücklich nunmehr § 2 Abs. 3 TV-EG).

94

Jedoch verlangt § 2.4 Satz 3 TV Stelleneinteilung nicht, dass die in die Funktionsbezeichnung/-beschreibung eingeflossene analytische Bewertung des Arbeitsplatzes durch die Tarifvertragsparteien (§ 3 TV Stelleneinteilung) hinsichtlich der von den Tarifvertragsparteien jeweils vergebenen Punkte sich „1 : 1“ konkret in dem dem Arbeitnehmer übertragenen Arbeitsplatz als „Energieanlagenelektroniker hochwertige Arbeiten dampftechnische Anlagen“ widerspiegelt. Aus der Systematik des TV Stelleneinteilung ergibt sich vielmehr, dass die Tarifvertragsparteien bei der von ihnen anhand eines einvernehmlich festgelegten Punkteschemas vorgenommenen analytischen Bewertung der maßgeblichen Tätigkeiten eine „abstrakte“, eingruppierungsrechtlich abschließende tarifliche Regelung treffen wollten. Die von der Beklagten vertretene Auffassung, bei der Eingruppierung eines „Energieanlagenelektronikers hochwertige Arbeiten dampftechnische Anlagen“ sei in jedem Einzelfall konkret zu prüfen, ob der Einsatzbereich des Mitarbeiters die von den Tarifvertragsparteien festgelegte Punktezahl für Erschwernisse und Unfallgefahren in Höhe von 5,8 rechtfertigt oder zumindest einen Wert aufweist, bei dem die für die VG 08 erforderliche Punktezahl von 34 gemäß § 3 TV Stelleneinteilung erreicht ist, findet im Tarifvertrag keine Stütze.

95

Gegen eine solche Annahme spricht bereits der Wortsinn. Die für die Eingruppierung maßgebliche Funktionsbeschreibung (§ 2.4 Satz 1 TV Stelleneinteilung) enthält keinen Hinweis darauf, dass die Erfüllung der dort detailliert vorgegebenen Tätigkeitsmerkmale allein nicht ausreichen soll, um die Eingruppierung in die VG 08 TV Stelleneinteilung zu begründen, sondern dass darüber hinaus der jeweilige Arbeitsplatz einer vom Arbeitgeber vorzunehmenden konkreten Gefährdungs- und Erschwernisanalyse zu unterziehen ist, bei der mindestens ein Punktewert von 2,5, um den für die VG 08 erforderlichen Schwellenwert des § 3.2 TV Stelleneinteilung zu erreichen, erfüllt wird. Zwar haben die Tarifvertragsparteien die Funktionsbeschreibung einer analytischen Bewertung unterworfen und dort dezidiert anhand des zwischen ihnen vereinbarten Punkteschemas den Arbeitsplatz – auch hinsichtlich Erschwernisse und Unfallgefahren – bewertet. Jedoch findet sich weder in den Regelungen des TV Stelleneinteilung unmittelbar (§§ 2 und 3) noch in der Funktionsbeschreibung ein Hinweis darauf, dass der für einen Referenzarbeitsplatz ermittelte Wert von dem Arbeitgeber in jedem Einzelfall „nachzuvollziehen“ ist.

96

Nichts anderes folgt aus der Systematik des Tarifvertrages. Die analytische Bewertung beruht auf der gemäß § 3 TV Stelleneinteilung von den Tarifvertragsparteien vorgenommenen Beurteilung des Arbeitsplatzes eines „Energieanlagenelektronikers hochwertige Arbeiten dampftechnische Anlagen“. § 3.1 TV Stelleneinteilung „ermächtigt“ jedoch gerade nicht den Arbeitgeber, im Rahmen der vorzunehmenden Eingruppierung eines Arbeitnehmers eine auf den Tätigkeitsbereich konkret bezogene analytische Bewertung im Einzelfall (erneut) vorzunehmen. Die Befugnis zur Bewertung des Arbeitsplatzes steht nach dieser tariflichen Norm den Tarifvertragsparteien zu. Die von diesen getroffene Bewertung bildet wiederum nach § 3.2 TV Stelleneinteilung die Grundlage für die Zuordnung zu den jeweiligen Vergütungsgruppen. Die Systematik der §§ 2 und 3 TV Stelleneinteilung macht mithin deutlich, dass die Tarifvertragsparteien die für die Eingruppierung jeweils maßgeblichen Kriterien selbst abschließend bestimmt und nach einem von ihnen gemeinsam vereinbarten Punkteschema einer Entgeltgruppe zugeordnet haben. Im Hinblick auf die den Tarifvertragsparteien vorbehaltene „Punktevergabe“ (§ 3.1 TV Stelleneinteilung) würde die von der Beklagten vertretene Auslegung dazu führen, dass bei jeder vorzunehmenden Eingruppierung von den Tarifvertragsparteien – nicht von der Beklagten allein eine analytische Bewertung des konkreten Arbeitsplatzes „Energieanlagenelektroniker“ hinsichtlich der dort auftretenden Erschwernisse und Unfallgefahren erfolgen müsste. Für eine derartige, in der betrieblichen Praxis nur schwer handhabbare Regelungsweise lässt sich den §§ 2 und 3 des TV Stelleneinteilung jedoch kein Anhaltspunkt entnehmen.

97

Schlussendlich entspricht die vorgenommene Auslegung dem Zweck des TV Stelleneinteilung, der darin liegt, die Arbeitsplätze im Unternehmen der Beklagten möglichst rechtssicher vergütungsrechtlich zuzuordnen. Dieser Zweck würde konterkariert werden, wenn in jedem Einzelfall die Tarifvertragsparteien eine „Gefährdungsanalyse“ von Arbeitsplätzen nach Maßgabe ihres Punkteschemas durchführen müssten. Die von den Tarifvertragsparteien hinsichtlich eines Referenzarbeitsplatzes konkret vorgenommene Bewertung mit 5,8 Punkten wäre bei einer derartigen Auslegung überflüssig. Entscheidend wäre allein, ob im konkreten Fall der Schwellenwert für die VG 08 gemäß § 3.2 TV Stelleneinteilung erreicht wäre. Umgekehrt hätte die Auffassung der Beklagten konsequenterweise zur Folge, dass auch bei dem Arbeitsplatz eines „Energieanlagenelektronikers hochwertige Arbeiten Veredelungsanlage“ abweichend von der Bewertung der Tarifvertragsparteien mit VG 07 eine Eingruppierung in die VG 08 TV Stelleneinteilung zu erfolgen hätte, wenn der konkrete Arbeitsplatz Erschwernisse und Unfallgefahren aufweisen würde, die die für den Referenzarbeitsplatz ermittelten Werte derart – konkret um 0,3 Punkte – überschreiten, dass der Schwellenwert des § 3.2 TV Stelleneinteilung betreffend die VG 08 erreicht wäre. Dies macht deutlich, dass bei der von der Beklagten vorgenommenen Auslegung die mit einem Eingruppierungstarifvertrag typischerweise verfolgte abstrakte Regelung der Vergütungsordnung bezogen auf einen Betrieb bzw. ein Unternehmen vollkommen konterkariert würde. Ein solcher Regelungszweck lässt sich angesichts der sehr dezidierten tarifrechtlichen Regelungen nicht annehmen.

98

Nach alledem ist die Eingruppierungsregelung betreffend die VG 08/006 TV Stelleneinteilung dahin zu verstehen, dass ein „Energieanlagenelektroniker hochwertige Arbeiten“ bereits dann nach der VG 08 TV Stelleneinteilung zu vergüten ist, wenn er überwiegend (wesentlich) im unmittelbaren Einflussbereich von dampftechnischen Anlagen beschäftigt wird, ohne dass es darauf ankommt, welche besonderen Erschwernisse und Unfallgefahren von der dampftechnischen Anlage konkret ausgehen.

99

ccc. Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger. Er ist nach dem sich bietenden Sachverhalt überwiegend im unmittelbaren Einflussbereich von im Betrieb befindlichen dampftechnischen Anlagen tätig. Der Kläger hat in seinem Schriftsatz vom 11.10.2013 in der Tabelle Seite 5 f dezidiert seinen Aufgabenbereich geschildert und dabei für Tätigkeiten, die im Einflussbereich von dampftechnischen Anlagen auszuüben sind, einen Wert von 85 % ermittelt.

100

Von diesem Vorbringen ist für die Entscheidungsfindung auszugehen, weil die Beklagte den Sachvortrag des Klägers hinsichtlich der Tätigkeit „an sich“ nicht substantiiert bestritten hat. Sie ist zwar diesem Vorbringen in ihrer Berufungsduplik entgegengetreten, hat sich aber darauf beschränkt – ihrer Rechtsauffassung entsprechend – zu bestreiten, dass die von dem Kläger aufgelisteten Tätigkeiten Erschwernisse und Unfallgefahren aufweisen, die über das übliche, in der analytischen Bewertung der VG 07/038 TV Stelleneinteilung bereits erfasste Maß hinausgehen. Dass der Kläger „an sich“ überwiegend im unmittelbaren Einflussbereich von dampftechnischen Anlagen tätig ist, räumt sie vielmehr auf Seite 14 ihrer Berufungsduplik dahingehend ein, dass der von dem Kläger beschriebene „Einflussbereich“ sein Aufgabenbereich sei. Weiter räumt sie (Seite 15 Berufungsduplik) ausdrücklich ein, der Kläger sei im Kesselraum tätig. Auch im Übrigen ergibt sich aus dem Gesamtvorbringen der Parteien kein Anhaltspunkt, dass der Kläger im Kraftwerk W, das von der Kesselanlage und der Turbine nach dem von der Beklagten nicht bestrittenen Vorbringen des Klägers „geprägt wird“, überwiegend mit Tätigkeiten an der „Peripherie“ beschäftigt ist.

101

2. Der Anspruch des Klägers auf Zahlung von Vergütung nach VG 08 TV-EG ab 01.03.2011 ist entgegen der Auffassung der Beklagten nicht verwirkt.

102

Die Verwirkung ist ein Sonderfall der unzulässigen Rechtsausübung (§ 242 BGB). Mit ihr wird die illoyal verspätete Geltendmachung von Rechten ausgeschlossen. Sie beruht auf dem Gedanken des Vertrauensschutzes (§ 242 BGB) und dient dem Bedürfnis nach Rechtssicherheit und Rechtsklarheit. Mit der Verwirkung soll das Auseinanderfallen zwischen rechtlicher und sozialer Wirklichkeit beseitigt werden; die Rechtslage wird der sozialen Wirklichkeit angeglichen. Die Verwirkung verfolgt nicht den Zweck, den Schuldner stets dann von seiner Verpflichtung zu befreien, wenn dessen Gläubiger längere Zeit seine Rechte nicht geltend gemacht hat (Zeitmoment). Der Berechtigte muss vielmehr unter Umständen untätig geblieben sein, die den Eindruck erweckten, dass er sein Recht nicht mehr geltend machen wolle, sodass der Verpflichtete sich darauf einstellen durfte, nicht mehr in Anspruch genommen zu werden (Umstandsmoment). Hierbei muss das Erfordernis des Vertrauensschutzes auf Seiten des Verpflichteten das Interesse des Berechtigten derart überwiegen, dass ihm die Erfüllung des Anspruchs nicht mehr zuzumuten ist (BAG 17.10.2013 – 8 AZR 974/12 – Rn. 26).

103

Diese Voraussetzungen sind nicht gegeben. Die Verwirkung des von dem Kläger hier geltend gemachten Stammrechtes scheitert jedenfalls daran, dass die Beklagte kein überwiegendes schutzwürdiges Vertrauen hinsichtlich der Nichtgeltendmachung von Höhergruppierungsansprüchen für – bezogen auf den Zeitpunkt der Geltendmachung – die Zukunft dargetan hat. Vorliegend hat der Kläger im Zusammenhang mit dem Inkrafttreten des TV-EG, der seinen Vergütungsanspruch auf eine veränderte rechtliche Grundlage (§ 3) stellt, seine Ansprüche verfolgt. Auch dieser Umstand steht einem schutzwürdigen Vertrauen der Beklagten, Arbeitnehmer werden anlässlich der Neuregelung der Eingruppierung eine Überprüfung derselben bei unveränderter Tätigkeit nicht verlangen, entgegen.

III.

104

Nach alledem war auf die Berufung der Beklagten das erstinstanzliche Urteil wie tenoriert abzuändern. Der Einräumung eines Schriftsatznachlasses für die Beklagte hinsichtlich des Vorbringens des Klägers im Schriftsatz vom 06.11.2014 bedurfte es nicht, weil der Inhalt dieses Schriftsatzes für die Entscheidungsfindung nicht erheblich war.

B.

105

Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO.

C.

106

Gemäß § 72 Abs. 2 Nr. 1 ArbGG war wegen grundsätzlicher Bedeutung der entscheidungserheblichen Rechtsfragen die Revision für die Beklagte zuzulassen. Die Kammer nimmt nach dem Vorbringen der Parteien im Termin am 11.11.2014 an, dass die hier maßgebliche Rechtsfrage – Auslegung des Tarifbegriffs „dampftechnische Anlage“ – ungeachtet der Beschränkung des TV-EG auf das Unternehmen der Beklagten von grundsätzlicher Bedeutung ist. Zum einen sind – hiervon geht die Kammer nach der Erörterung im Termin aus – ca. 40 „Altfälle“ gegeben, nämlich Arbeitnehmer mit vergleichbarer Tätigkeit, bei denen sich die Eingruppierung ebenfalls aufgrund der Bestimmung in § 3 Abs. 1 TV-EG nach dem Eingruppierungsschema des TV Stelleneinteilung richtet. Darüber hinaus enthält auch der TV-EG die Differenzierung zwischen Tätigkeiten eines Energieanlagenelektronikers mit hochwertigen Arbeiten in einer Veredelungsanlage bzw. einer dampftechnischen Anlage, sodass sich die hier streitige Tarifauslegung zukünftig im gesamten Unternehmen der Beklagten auswirken kann.


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