Urteil vom Landgericht Arnsberg - 4 O 260/14
Tenor
1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin.
3. Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
1
Tatbestand:
3Die Klägerin ist die Krankenversicherung des L. D. (nachfolgend: Versicherungsnehmer). Sie begehrt die Feststellung der anteiligen Ersatzpflicht der Beklagten für Aufwendungen, die ihr gegenüber ihrem Versicherungsnehmer im Zusammenhang mit einem Verkehrsunfall vom 25.09.2011 zukünftig entstehen.
4Der Versicherungsnehmer befuhr am 25.09.2011 gegen 14.40 Uhr mit einem Motorrad den I in X. Bei dem I handelt es sich um eine vorfahrtsberechtigte Landstraße, auf der zunächst eine Höchstgeschwindigkeit von 100 km/h erlaubt ist. Auf der Landstraße gilt jedoch im Bereich der aus Sicht des Versicherungsnehmers von rechts einmündenden Autobahnabfahrt eine Geschwindigkeitsbegrenzung von 50 km/h (Verkehrszeichen 274). Die Ausgangsgeschwindigkeit des Versicherungsnehmers in diesem Einmündungsbereich betrug zwischen 121 und 136 km/h.
5Nachdem er zunächst angehalten sowie jeweils einmal nach links und rechts geblickt hatte, fuhr der Beklagte zu 1. von der Autobahnabfahrt in den Einmündungsbereich mit einer Anfahrbeschleunigung von 1m/sek2 ein, um nach links in den I abzubiegen. Zur Zeit der Einleitung seines Abbiegevorgangs war das Krad des Versicherungsnehmers für den Beklagten zu 1. wahrnehmbar und noch mindestens 170 m entfernt. Aufgrund des Abbiegevorgangs des Beklagten zu 1. leitete der Versicherungsnehmer eine Bremsung ein und zog dabei nach links auf die Linksabbiegerspur des Gegenverkehrs.
6Es kam zu einem Zusammenstoß zwischen dem von dem Versicherungsnehmer geführten Motorrad und dem von dem Beklagten zu 1. gesteuerten und bei der Beklagten zu 2. haftpflichtversicherten Pkw, infolgedessen der Versicherungsnehmer schwer verletzt wurde.
7Die Klägerin trägt vor, die Anfahrtsgeschwindigkeit des Beklagten zu 1. sei zu niedrig gewesen. Es sei dem Versicherungsnehmer nicht vorzuwerfen, dass er vor dem Unfall nach links gezogen sei. Ein solches Manöver stelle vielmehr eine instinktive Reaktion eines Verkehrsteilnehmers dar, der einem Hindernis ausweichen wolle.
8Die Klägerin beantragt,
9festzustellen, dass die Beklagten gesamtschuldnerisch verpflichtet sind, der Klägerin zu einem Drittel alle auf sie übergegangenen zukünftigen Aufwendungen zu ersetzen, die erforderlich sind, um die Verletzungen des Herrn L. D. aus Anlass des Unfalls vom 25.09.2011 zu behandeln.
10Die Beklagten beantragen jeweils,
11die Klage abzuweisen.
12Sie sind der Meinung, der Unfall sei für den Beklagten zu 1. unabwendbar gewesen. Jedenfalls trete ein etwaiges Verschulden des Beklagten vollständig hinter dem des Versicherungsnehmers zurück.
13Die Ermittlungsakte der Staatsanwaltschaft Arnsberg (Az.: 312 Js 340/11) einschließlich des im Ermittlungsverfahrens eingeholten schriftlichen Gutachtens des Sachverständigen Dipl.-Ing. B. T. vom 30.09.2011 war beigezogen und Gegenstand der mündlichen Verhandlung. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstands wird auf die wechselseitig eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen verwiesen.
14Entscheidungsgründe:
15Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Klägerin steht der geltend gemachte Feststellungsanspruch weder aus eigenem noch aus nach § 116 SGB X übergegangenem Recht zu. Eine Haftung der Beklagten für zukünftige Aufwendungen des klägerischen Versicherungsnehmers besteht nicht.
16I.
17Der Klägerin steht kein Anspruch gegen den Beklagten zu 1. zu. Ein solcher folgt weder aus §§ 18, 17 StVG noch aus §§ 823 Abs. 1, 2 BGB, § 8 StVO. Dabei kann dahinstehen, ob das Unfallereignis für den Beklagten zu 1. angesichts seines unterlassenen zweiten Linksblickes und seiner Anfahrtsgeschwindigkeit unvermeidbar im Sinne von § 17 Abs. 3 StVG gewesen ist. Die Gesamtabwägung der Verursachungsbeiträge unter Berücksichtigung der Betriebsgefahr des beteiligten Motorrads und Beklagtenfahrzeuges gemäß § 17 Abs. 2, 1 StVG führt jedenfalls zu dem Ergebnis, dass der Beklagte nicht haftet.
18Bei der Abwägung von Verursachungsbeiträgen mehrerer Unfallbeteiligter ist zunächst eine Einzelabwägung zwischen jedem Beteiligten und im Anschluss hieran eine Gesamtschau aller Umstände des Einzelfalles vorzunehmen (Burmann/Heß/Jahnke/Janker/Heß, Straßenverkehrsrecht, 23. Aufl., § 17 Rn. 23a m.w.N.). Die Einzelabwägung der Verursachungsbeiträge des Versicherungsnehmers und des Beklagten zu 1. ergibt, dass letzterer von einer Haftung vollständig frei ist.
19Auf Seiten des Versicherungsnehmers war zunächst die erhebliche Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit zu berücksichtigen, die einen Verstoß gegen § 39 Abs. 2 S. 1 StVO i.V.m. Nr. 49 der Anl. 1 zu § 40 Abs. 6, 7 StVO darstellt. Darüber hinaus war der Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot zu berücksichtigen, da der Versicherungsnehmer vor dem Zusammenstoß nach links gezogen ist und damit gegen § 2 Abs. 2 StVO verstoßen hat. Soweit die Klägerin im Hinblick auf den Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot auf die Rechtsprechung zur Vorwerfbarkeit falscher Reaktionen im Straßenverkehr verweist, folgt aus dieser keine abweichende Beurteilung. Die Klägerin geht zwar im Ansatz zutreffend davon aus, dass nach ständiger Rechtsprechung das falsche Reagieren eines Verkehrsteilnehmers dann kein Verschulden darstellt, wenn er in einer ohne sein Verschulden eingetretenen, für ihn nicht voraussehbaren Gefahrenlage keine Zeit zu ruhiger Überlegung hat und deshalb nicht das Richtige und Sachgerechte unternimmt, um den Unfall zu verhüten, sondern aus verständlicher Bestürzung objektiv falsch reagiert (BGH, NJW-RR 2009, 239, 240 m.w.N.). Eine solche ohne Verschulden des Versicherungsnehmers eingetretene und für ihn nicht voraussehbare Gefahrenlage lag jedoch nach den Umständen des Streitfalls nicht vor. Vielmehr hat der Versicherungsnehmer durch Missachtung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit erst maßgeblich zur Entstehung der Gefahrensituation beigetragen.
20Demgegenüber lässt sich ein als Unfallursache ins Gewicht fallendes Verschulden des Beklagten zu 1. nicht feststellen. Allerdings befuhr das Krad des Versicherungsnehmers eine vorfahrtberechtigte Straße. Der Beklagte zu 1. musste daher nach § 8 Abs. 2 StVO die Vorfahrt beachten. Nach dieser Regelung darf der Wartepflichtige nur weiterfahren, wenn er übersehen kann, dass er den vorfahrtberechtigten Verkehr weder gefährdet noch wesentlich behindert. Dies bedeutet auch, dass der Wartepflichtige sich nicht grundsätzlich auf ein verkehrsgerechtes Verhalten eines ihm gegenüber bevorrechtigten Verkehrsteilnehmers verlassen darf, sondern mit der Möglichkeit rechnen muss, dass dieser gegen Verkehrsregeln verstoßen kann (BayObLG, VersR 1980, 365). Im Zeitpunkt des Einfahrens in den Einmündungsbereich war für den Beklagten zu 1. das sich nähernde Krad sichtbar. Das ist zwischen den Parteien unstreitig, da beide übereinstimmend auf die Feststellungen des Sachverständigen T verweisen und dieser feststellt, das Motorrad sei beim Start des Pkw sichtbar gewesen (Bl. 6 d. SVGA). Der Beklagte zu 1. musste angesichts der Wahrnehmbarkeit des Krads demnach grundsätzlich mit der Möglichkeit rechnen, dass sich dieses mit einer Geschwindigkeit von mehr als 50 km/h näherte. Auch eine falsche Einschätzung der Annäherungsgeschwindigkeit geht beim Einfahren in eine bevorrechtigte Straße in der Regel zu Lasten des Wartepflichtigen (BGH, VersR 1964, 619).
21Vorwerfbar kann die falsche Geschwindigkeitseinschätzung jedoch nur solange sein, wie sich die Geschwindigkeitsüberschreitung des vorfahrtsberechtigten Fahrzeuges in einem Rahmen hält, mit dem vernünftigerweise noch zu rechnen ist (OLG Hamm, NJWE-VHR 1996, 212). In der konkreten Situation beurteilt jeder normale Verkehrsteilnehmer die Geschwindigkeit eines sich nähernden Fahrzeuges nicht rechnerisch, sondern aus einem durch Erfahrungswerte bestimmten Gefühl heraus. Für exorbitant hohe und daher seltene Geschwindigkeitsüberschreitungen fehlen solche Erfahrungswerte (OLG Hamm, a.a.O.). Die Geschwindigkeitsgrenze, bis zu der eine falsche Einschätzung noch vorwerfbar ist, (vgl. etwa OLG Frankfurt a.M., VersR 1975, 68; KG, DAR 1992, 433; OLG Hamm, NJWE-VHR 1996, 212; NZV 2001, 171), ist hier überschritten. Es ist sicher, dass der Versicherungsnehmer die zulässige Geschwindigkeit von 50 km/h um mehr als 140 % überschritten hat (121 km/h), nicht auszuschließen ist, dass er sie sogar um mehr als 170 % überschritten hat (136 km/h).
22Wenn unter diesen Umständen überhaupt von einem Verschulden des Beklagten zu 1. gesprochen werden kann, dann tritt es jedenfalls bei der nach § 17 Abs. 2, 1 StVG vorzunehmenden Abwägung der beiderseitigen Unfallbeiträge gegenüber der grob fahrlässigen Geschwindigkeitsüberschreitung des Versicherungsnehmers und dem Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot vollständig zurück. Dabei verkennt das Gericht nicht, dass der BGH in seinem von der Klägerin angeführten Urteil vom 14.02.1984 - VI ZR 229/82 eine vollständige Haftung des bevorrechtigten Verkehrsteilnehmers trotz dessen Überschreitung der zulässigen Höchstgeschwindigkeit verneint hat (vgl. NJW 1984, 1962). Die Entscheidung des BGH ist auf den vorliegenden Sachverhalt aber nicht ohne weiteres übertragbar. Der Übertragbarkeit steht insbesondere entgegen, dass in der zitierten Entscheidung eine andere Verkehrssituation, nämlich eine Kollision zwischen einem wartepflichtigen Linksabbieger und einem geradeaus entgegenkommenden Fahrzeuges vorlag. In einer solchen Situation befindet sich der Unfallgegner –anders als in dem hier zu entscheidenden Fall– durchgängig im Sichtfeld des Wartepflichtigen und ist daher für ihn stets wahrnehmbar. Zudem war die Geschwindigkeit des Krads des Versicherungsnehmers vorliegend noch erheblich weiter übersetzt als die Geschwindigkeit des bevorrechtigten Fahrzeuges in dem vom BGH zu entscheidenden Fall. Schließlich war bei Einleitung des Abbiegevorgangs des Beklagten zu 1. das Krad noch erheblich weiter von dem Beklagtenfahrzeug entfernt als die Unfallfahrzeuge in dem vom BGH zu entscheidenden Fall.
23Aus denselben Gründen kann auch dahinstehen, ob die Anfahrtsbeschleunigung des Beklagten zu 1. unüblich niedrig war. Zumal der Beklagte zu 1. bei der von ihm gewählten Anfahrtsbeschleunigung ausweislich der Feststellungen des Sachverständigen T den Einbiegevorgang problemlos hätte durchführen können, wenn der Versicherungsnehmer die zulässige Höchstgeschwindigkeit beachtet hätte (Bl. 7 d. SVGA).
24Aus denselben Erwägungen scheidet nach § 254 Abs. 1 BGB auch eine Haftung des Beklagten zu 1. nach § 823 Abs. 1, 2 BGB, § 8 StVO aus.
25II.
26Eine Haftung der Beklagten zu 2. aus § 115 Abs. 1 VVG besteht mangels Anspruch gegen den Beklagten zu 1. nicht.
27III.
28Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91 Abs. 1, 709 ZPO.
29Der Streitwert wird auf 50.000,00 EUR festgesetzt.
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Referenzen
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- ZPO § 709 Vorläufige Vollstreckbarkeit gegen Sicherheitsleistung 1x
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- ZPO § 91 Grundsatz und Umfang der Kostenpflicht 1x
- § 39 Abs. 2 S. 1 StVO 1x (nicht zugeordnet)
- § 8 StVO 2x (nicht zugeordnet)
- § 8 Abs. 2 StVO 1x (nicht zugeordnet)
- 312 Js 340/11 1x (nicht zugeordnet)
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- VI ZR 229/82 1x (nicht zugeordnet)
- BGB § 2 Eintritt der Volljährigkeit 1x
- § 40 Abs. 6, 7 StVO 1x (nicht zugeordnet)
- BGB § 254 Mitverschulden 1x
- § 115 Abs. 1 VVG 1x (nicht zugeordnet)
- § 2 Abs. 2 StVO 1x (nicht zugeordnet)
- StVG § 18 Ersatzpflicht des Fahrzeugführers 1x