Urteil vom Landgericht Dessau-Roßlau (1. Zivilkammer) - 1 S 116/12
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Amtsgerichts Bitterfeld-Wolfen vom 21.06.2012 – 7 C 440/12 – aufgehoben und die Sache unter Aufhebung des zugrundeliegenden Verfahrens an das zuständige Amtsgericht Bitterfeld-Wolfen – Familiengericht – zur Verhandlung und Entscheidung verwiesen.
Die Gerichtskosten des Berufungsverfahrens werden niedergeschlagen. Im Übrigen ist eine Kostenentscheidung nicht veranlasst.
Die Revision wird nicht zugelassen.
Tatbestand
I.
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Von der Darstellung des Tatbestandes wird abgesehen (§§ 540 Abs. 2, 313a Abs. 1 S. 1 ZPO, § 26 Nr. 8 S. 1 EGZPO).
Entscheidungsgründe
II.
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Die zulässige Berufung führt zur Aufhebung des von der funktionell unzuständigen allgemeinen Zivilabteilung des Amtsgerichts Bitterfeld-Wolfen gefällten Urteils einschließlich des zugrundeliegenden Verfahrens und zur Verweisung des Rechtsstreits an die zuständige Familienabteilung des Ausgangsgerichts.
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Zwar hat die Kammer nach §§ 513 Abs. 2 ZPO, 17a Abs. 5, 6 GVG grundsätzlich die (auch funktionelle) Zuständigkeit des Gerichts erster Instanz und die Zulässigkeit des beschrittenen Rechtsweges nicht zu prüfen, was nach § 17a Abs. 6 GVG auch im hier maßgeblichen Verhältnis der allgemeinen Zivilabteilung des Amtsgerichts zum Familiengericht gilt. Allerdings gehen §§ 513 Abs. 2 ZPO, 17a Abs. 5, 6 GVG davon aus, dass die Frage der (auch funktionellen) Zuständigkeit durch das Gericht erster Instanz auf Rüge hin oder von Amts wegen einer Prüfung und Entscheidung zugeführt worden ist. Vorliegend haben weder die Parteien eine Rüge nach § 17a Abs. 3 S. 2 GVG ausgesprochen, noch hat sich die Richterin der allgemeinen Zivilabteilung mit der sich angesichts der Eindeutigkeit der Antragsformulierung (im Fettdruck „Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 1 GewSchG“) aufdrängenden Frage der funktionellen Zuständigkeit befasst. Die Prüfung der Frage der funktionellen Zuständigkeit war daher durch die Berufungskammer nachzuholen. Die Kammer sieht sich dabei im Einklang mit der Auffassung in Rechtsprechung (OLG Rostock, NJW 2006, 2563 f.; OLG Oldenburg, NJW-RR 1999, 865 f.) und der Literatur (Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, 70. Aufl., § 17a GVG, Rn. 20; MüKo/Rimmelspacher, 3. Aufl., § 513 ZPO, Rn. 19; Stein/Jonas/Grunsky, 21. Aufl., § 512a ZPO a. F., Rn. 1), wonach die der Zuständigkeitsprüfung durch das Rechtsmittelgericht grundsätzlich entgegenstehenden Normen zur Wahrung des Anspruchs auf den gesetzlichen Richter verfassungskonform dahingehend auszulegen sind, dass die Unüberprüfbarkeit Grenzen hat. Beruht die fehlerhafte Annahme der Zuständigkeit des erstinstanzlichen Gerichts auf einer Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsnormen, die sich so weit von dem diesen Normen beherrschenden Grundsatz des gesetzlichen Richters entfernt, dass sie nicht mehr zu rechtfertigen ist, so kann - ja muss - das Rechtsmittelgericht die Zuständigkeitsfrage prüfen (MüKo/Rimmelspacher, a.a.O.). So liegt es hier. Eine Prüfung der funktionellen Zuständigkeit durch die Richterin der allgemeinen Zivilabteilung hat ersichtlich überhaupt nicht stattgefunden, was den vorliegenden Sachverhalt von demjenigen unterscheidet, über den der BGH in seinem Beschluss vom 18.09.2008 - V ZB 40/08 - zu befinden hatte (so - die Entscheidung des BGH richtig bewertend - : Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, a.a.O.). Nach dem dortigen Sachverhalt war von einer Prüfung und Bejahung der Rechtswegzulässigkeit durch das erstinstanzliche Gericht auszugehen (BGH, a.a.O., juris-Rn. 19). Hier dokumentiert sich der Prüfungsausfall in der völligen Nichtbeachtung der die Notwendigkeit einer Prüfung der Zuständigkeit des Familiengerichts aufdrängenden fettgedruckten Überschrift der Antragsschrift vom 15.05.2012, wonach ein „Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 1 GewSchG“ gestellt werde. Nicht erst seit kurzem, sondern seit der Einführung des FamFG zum 01.09.2009 gehören zum sachlichen Aufgabenkreis des sog. Großen Familiengerichts u. a. auch diejenigen Verfahren nach den §§ 1 und 2 GewSchG, für die zuvor die allgemeinen Zivilgerichte zuständig waren (Zöller/Lorenz, 29. Aufl., § 210 FamFG, Rn. 1). Auf das frühere Abgrenzungskriterium – Führung eines auf Dauer angelegten gemeinsamen Haushaltes der Beteiligten oder Führung eines solchen innerhalb von 6 Monaten vor der Antragstellung – kommt es nicht mehr an. Die alleinige Zuständigkeit des Familiengerichts für Gewaltschutzsachen (soll heißen: die alleinige diesbezügliche Zuständigkeit der Amtsgerichte mit gerichtsinterner Zuständigkeit der Familienabteilungen) führt zum einen dazu, dass das Familiengericht nunmehr auch mit solchen Angelegenheiten befasst ist, bei denen keine besondere Nähebeziehung zwischen den Hauptbeteiligten besteht (wie hier). Zum anderen ist mit der Zusammenlegung der Zuständigkeit eine Vereinheitlichung des Verfahrens einhergegangen: Für alle Gewaltschutzsachen (§ 111 Nr. 6 FamFG) gelten die allgemeinen Regelungen des FamFG in Familiensachen, ergänzt um die Vorschriften der §§ 210 - 216a FamFG.
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In der Folge dessen war das nicht vom gesetzlichen Richter in der gesetzlich vorgesehenen Verfahrensart ergangene Urteil vom 21.06.2012 einschließlich des zugrundeliegenden Verfahrens auf den Antrag der Klägerin (dem sich der Beklagte angeschlossen hat) aufzuheben und der Rechtsstreit nach § 17a Abs. 2 GVG an das zuständige Familiengericht zu verweisen.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 21 Abs. 1 S. 1 GKG, soweit es die Gerichtskosten dieses Rechtsmittelverfahrens betrifft, die Folge der unrichtigen Sachbehandlung durch das Ausgangsgericht sind. Im Übrigen ist eine Kostenentscheidung im Hinblick auf § 17b Abs. 2 S. 1, Abs. 3 GVG, 81 FamFG nicht veranlasst.
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Referenzen
- § 26 Nr. 8 S. 1 EGZPO 1x (nicht zugeordnet)
- GVG § 17b 1x
- GVG § 17a 6x
- § 512a ZPO 1x (nicht zugeordnet)
- FamFG § 111 Familiensachen 1x
- ZPO § 540 Inhalt des Berufungsurteils 1x
- § 21 Abs. 1 S. 1 GKG 1x (nicht zugeordnet)
- §§ 513 Abs. 2 ZPO, 17a Abs. 5, 6 GVG 4x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 313a Weglassen von Tatbestand und Entscheidungsgründen 1x
- 7 C 440/12 1x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 513 Berufungsgründe 1x
- V ZB 40/08 1x (nicht zugeordnet)
- FamFG § 210 Gewaltschutzsachen 1x
- §§ 1 und 2 GewSchG 2x (nicht zugeordnet)