Urteil vom Landgericht Essen - 2 O 323/12
Tenor
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Rechtsstreits.
Das Urteil ist gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages vorläufig vollstreckbar.
1
Tatbestand
2Die Klägerin begehrt den Ersatz materiellen und immateriellen Schadens aus einem Verkehrsunfall, der sich am … gegen 07.15 Uhr auf der I-Straße in … F ereignete. Beteiligt waren die Klägerin als Fußgängerin und die Beklagte zu 1) als Halterin und Fahrerin des bei der Beklagten zu 2) haftpflichtversicherten Motorrads Marke Z mit dem amtlichen Kennzeichen … .
3Die Klägerin ging zur Unfallzeit von ihrem Wohnort aus in Richtung C-Weg mit ihrem Hund spazieren und musste auf ihrem Weg u.a. die I-Straße überqueren. Die Beklagte zu 1) kam mit ihrem Motorrad auf der I-Straße aus der Gehrichtung der Klägerin gesehen von rechts. Beim Überqueren der Straße wurde die Klägerin von dem Motorrad erfasst und nicht unerheblich verletzt. Der Hund der Klägerin wurde bei dem Unfall nach ihrer Behauptung getötet.
4Nachdem die Beklagte zu 2) im Rahmen der vorgerichtlichen Korrespondenz eine Haftung bereits dem Grunde nach abgelehnt hat, verlangt die Klägerin mit ihrer Klage von den Beklagten den Ersatz der Kosten für die Anschaffung eines Nachfolgehundes in Höhe von 1.000,00 €, den Ersatz von Heilbehandlungskosten in Höhe von 70,00 €, den Ausgleich eines Haushaltsführungsschadens in Höhe von 1.000,00 €, die Zahlung eines Schmerzensgeldes von nicht unter 3.500,00 € und im Wege der Feststellungklage den Ersatz des unfallbedingt entstehenden materiellen und immateriellen Zukunftsschadens. Neben der Zahlung von Verzugszinsen auf die geltend gemachten Zahlbeträge begehrt die Klägerin außerdem die Freistellung von vorgerichtlichen Anwaltskosten in Höhe von 627,13 € nebst Zinsen. Wegen der Begründung der einzelnen Schadenspositionen, insbesondere auch zu den geltend gemachten Verletzungen, wird auf die Darstellung in der Klageschrift und die weiteren schriftsätzlichen Ausführungen der Klägerin Bezug genommen.
5Zum Unfallhergang behauptet die Klägerin, sie habe zunächst etwa ein bis zwei Minuten am - aus der Sicht der Beklagten zu 1) gesehen - linken Fahrbahnrand gestanden, um von dort aus den Verkehr auf der I-Straße vor dem Überqueren hinreichend zu beobachten. Als die Klägerin sich sicher gewesen sei, die Fahrbahn gefahrlos überqueren zu können, sei sie mit ihrem - ständig angeleinten - Hund losgegangen. Zu diesem Zeitpunkt sei das Motorrad der Beklagten zu 1) noch nicht sichtbar gewesen. Obwohl sie sodann die Fahrbahn zügig im rechten Winkel auf dem kürzesten Weg ohne Anhalten überquert habe, sei sie dann mit ihrem Hund erfasst worden, bevor sie die gegenüberliegende Straßenseite erreicht habe. Die Beklagte zu 1), die wegen einer Kuppe zwischen Baumwipfeln zunächst nicht sichtbar gewesen sei, habe von der auf der Kuppe gelegenen Lichtzeichenanlage der I-Straße aus ihr Motorrad über die zulässige Höchstgeschwindigkeit von 50 km/h hinaus auf mindestens 80 km/h beschleunigt und ein Bremsmanöver, bei dem fehlerhaft das Hinterrad des Motorrades zum Blockieren gebracht worden sei, erst wenige Meter vor dem Erreichen der Klägerin eingeleitet. Als die Klägerin von dem Motorrad erfasst worden sei, sei sie nur noch ca. einen Meter von dem gegenüberliegenden Bürgersteig entfernt gewesen. Für die Beklagte zu 1) sei der Unfall durch die Einhaltung einer angemessenen Geschwindigkeit und ein richtiges Brems- und gfls. Ausweichverhalten vermeidbar gewesen.
6Die Klägerin beantragt,
71.
8die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin 2.070,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 15.08.2012 zu zahlen;
92.
10die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin ein angemessenes Schmerzensgeld dessen Höhe in das Ermessen des Gerichts gestellt wird, 3.500,00 € aber nicht unterschreiten sollte, nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit dem 15.08.2012 zu zahlen;
113.
12festzustellen, dass die Beklagten verpflichtet sind, der Klägerin allen materiellen und immateriellen Schaden zu ersetzen, der der Klägerin aus dem Unfallereignis vom … gegen 07:15 Uhr auf der I-Straße in Höhe der Hausnummer …, … F, entstehen wird, soweit der Anspruch nicht auf einen Sozialversicherungsträger oder andere Dritte übergegangen ist;
134.
14die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, die Klägerin von einer Vergütungsforderung der Rechtsanwälte M in Höhe von 627,13 € nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit freizustellen.
15Die Beklagten beantragen,
16die Klage abzuweisen.
17Die Beklagten bestreiten die Unfallschilderung der Klägerin in den wesentlichen Punkten und behaupten, die Beklagte zu 1) habe sich ordnungsgemäß verhalten. Die Klägerin habe die Fahrbahn plötzlich und ohne jegliche Beachtung des fließenden Verkehrs überquert, so dass die Beklagte zu 1), die allenfalls ein paar km/h schneller als 50 km/h gewesen sei, den Unfall nicht mehr habe vermeiden können. Die Vollbremsung sei die einzige Möglichkeit gewesen um zu versuchen, den Unfall zu vermeiden. Ein Ausweichvorgang sei nicht möglich gewesen, weil die Beklagte zu 1) nicht habe einschätzen können, ob und wohin sich die Klägerin gfls. bewegen würde und wohin die Beklagte zu 1) habe ausweichen sollen.
18Vorsorglich wenden sich die Beklagte in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht auch gegen die einzelnen Forderungen. Sie bestreiten, dass der Hund der Klägerin getötet worden sei, stellen den geltend gemachten Heilbehandlungskosten ersparte Aufwendungen gegenüber und halten das Vorbringen der Klägerin zum Haushaltsführungsschaden für nicht ausreichend. Teilweise bestritten werden auch die behaupteten Verletzungen und Folgen. Wegen der Einzelheiten wird auf das schriftsätzliche Vorbringen der Beklagten verwiesen.
19Es ist Beweis erhoben worden durch uneidliche Vernehmung der Zeugen E, H und M1, durch Einholung eines verkehrsanalytischen Sachverständigengutachtens sowie zu den von der Klägerin erlittenen Unfallfolgen. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf die Sitzungsniederschrift vom 02.07.2013, das Gutachten des Sachverständigen T vom 19.02.2014, das schriftliche Gutachten des Sachverständigen A vom 27.10.2014, dessen ergänzende schriftliche Ausführungen vom 21.01.2015 nebst mündlicher Erläuterung des Gutachtens zu Protokoll vom 22.10.2015 und die Vernehmung der sachverständigen Zeugin V wie zu Protokoll vom 22.10.2015 Bezug genommen.
20Die Akten … der Staatsanwaltschaft F1 lagen vor und waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
21Entscheidungsgründe
22Die Klage ist unbegründet.
23Der Klägerin stehen gegen die Beklagten anlässlich des Unfallereignisses vom … keine Schadensersatz- und Schmerzensgeldansprüche gemäß §§ 7, 17, 18 StVG, 823, 421 BGB, 115 VVG zu.
24Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme kann nicht festgestellt werden, dass die Beklagte zu 1) den Unfall nebst Folgen schuldhaft, zumindest fahrlässig im Sinne des § 276 BGB, herbeigeführt hat.
25Die Behauptung der Klägerin, die Beklagte zu 1) habe sich der Unfallstelle in erheblicher Weise mit überhöhter Geschwindigkeit genähert (mindestens 80 km/h), hat sich nicht bestätigt. In den Aussagen der Zeugen lassen sich ausreichende Anhaltspunkte für eine überhöhte Geschwindigkeit des Motorrads nicht finden. Der hinter dem Motorrad der Beklagten zu 1) befindliche Zeuge E hat in seiner gerichtlichen Vernehmung vom 02.07.2013 angegeben, er könne die Geschwindigkeit des Motorrads nur schlecht einschätzen und aus seiner Sicht sei es nicht so gewesen, dass das Motorrad mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren sei; soweit er im Rahmen des Ermittlungsverfahrens angegeben haben solle, die Beklagte zu 1) sei mit etwa 80 km/h gefahren, habe er heute eine solche Erinnerung nicht mehr. Der der Beklagten zu 1) entgegen kommende Zeuge H hat zu der Geschwindigkeit des Motorrads überhaupt nichts sagen können, ebenso wenig die Zeugin M1, die das Motorrad vor dem Aufprall überhaupt nicht wahrgenommen haben will.
26Nach den Ausführungen des Sachverständigen T kann eine über der von der Beklagten zu 1) eingeräumten Ausgangsgeschwindigkeit liegende Geschwindigkeit ebenfalls nicht festgestellt werden. Der Sachverständige hat in seinen überzeugenden Ausführungen dargelegt, dass das Krad die Klägerin - gebremst - mit etwa knapp 45 km/h erfasst und davor mindest 55, maximal 60 km/h schnell gewesen sei. Da zu Lasten der Beklagten nur nachgewiesene Umstände berücksichtigt werden können, muss deshalb rechtlich zugunsten der Beklagten zu 1) von einer Ausgangsgeschwindigkeit von maximal 55 km/h ausgegangen werden. Dieses bedeutet, dass allenfalls eine geringfügige Geschwindigkeitsüberschreitung vor, die sich in Bezug auf die Unfallfolgen kausal nicht auswirkt; jedenfalls lässt sich dieses nicht feststellen.
27Soweit der Sachverständige T nur die bloße Möglichkeit aufgezeigt hat, dass die Ausgangsgeschwindigkeit über 80 km/h gelegen haben könne, wenn die Beklagte zu 1) auf die Klägerin reagiert habe, als diese links den Fahrbahnbereich betreten habe, lassen sich aus dieser bloßen Möglichkeit keine für die Beklagten nachteiligen Folgen herleiten.
28Die Annahme eines Veschuldens der Beklagten zu 1) kann auch nicht darauf gestützt werden, die Beklagte zu 1) habe den Unfall durch ein fehlerhaftes Brems- und / oder Ausweichverhalten verschuldet. Bei der Beurteilung dieses Ansatzes ist auf die damalige Unfallsituation und die Sicht der Beklagten zu 1) abzustellen. Mit Recht verweisen die Beklagten in diesem Zusammenhang darauf, dass das bloße Betreten der Fahrbahn durch die Klägerin die Beklagte zu 1) nicht notwendigerweise zu der Annahme veranlassen musste, die Klägerin werde - zumindest möglicherweise - unter Missachtung des Vorrechts der Beklagten zu 1) ein einem Zug die gesamte Fahrbahn überqueren. Bei der Klägerin handelte es sich um eine zur Unfallzeit 47 Jahre alte Person ohne nachweisbare erkennbare Defizite in Bezug auf das Verhalten im Straßenverkehr. Die Beklagte zu 1) hat deshalb erst durch das zügige Überqueren der Fahrbahn ab Erreichen des Bereichs der Fahrbahnmitte ein Warnsignal erhalten und dann entsprechend mit der Vollbremsung reagiert. Nach Auffassung des erkennenden Gerichts würden durch die Forderung, bereits bei dem bloßen Betreten der Fahrbahn durch einen Fußgänger die Geschwindigkeit herabzusetzen, die Anforderungen an einen Fahrzeugführer im fließenden Verkehr überspannt. Mit Recht verweisen die Beklagten zu dieser Frage darauf, dass es durchaus nicht unüblich ist, dass Fussgänger beim Überqueren von Fahrbahnen mehrstufig vorgehen, d. h. zunächst die Fahrbahn betreten, um sodann den bevorrechtigten Fahrzeugverkehr durchzulassen. Dass diese Konstellation im Falle einer erkennbaren Desorientierung des Fußgängers, eines höheren Alters, bei Kindern oder sonstigen Besonderheiten anders beurteilt werden kann und muss, steht außer Frage. Solch ein Fall liegt aber hier nicht vor, d. h. die Beklagte zu 1) durfte auch die Einhaltung des § 25 StVO durch die Klägerin vertrauen.
29Schließlich kann der Beklagten zu 1) auch nicht vorgeworfen werden, nicht nach links ausgewichen zu sein, sondern die Vollbremsung gewählt und durchgeführt zu haben. Aus damaliger Sicht war nach dem von der Beklagten zu 1) erhaltenen maßgebenden Warnsignal, ab dem Erreichen der Fahrbahnmitte durch die Klägerin, nicht sicher zu beurteilen, wie sich die Klägerin weiter verhalten würde. Dass der weitere Verlauf aus heutiger Sicht anders beurteilt werden könnte, kann im Rahmen der Prüfung eines Schuldvorwurfs zu Lasten der Beklagten keine Berücksichtigung finden.
30Gegenüber dem nicht nachweisbaren Verschulden der Beklagten zu 1) steht fest, dass die Klägerin ihrerseits den Unfall durch einen zumindest fahrlässigen Verstoß gegen die Vorschrift des § 25 StVO schuldhaft herbeigeführt hat. Sie hätte in jeder Lage des Geschehens das Vorrecht des Fahrzeugs beachten müssen.
31Ansprüche der Klägerin ergeben sich auch nicht unter dem Gesichtspunkt der Berücksichtigung der Betriebsgefahr des Motorrads im Rahmen der Abwägung nach §§ 7, 18 i.V.m. 9 StVG, 254 BGB. Der Annahme eines nach den obigen Ausführungen schuldlosen Fahrverhaltens steht auf Seiten der Klägerin ein grober Verstoß gegen § 25 StVO gegenüber. Auch im Falle des Nichtgelingens des Unabwendbarkeitsbeweises durch die Beklagten wird daher jedenfalls die vom Beklagtenfahrzeug ausgehende Betriebsgefahr völlig verdrängt.
32Die prozessualen Nebenentscheidungen beruhen auf §§ 91, 709 ZPO.
33Streitwert: insgesamt 6.570,00 € (darin 1.000,00 € für den Feststellungsantrag).
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Referenzen
- BGB § 7 Wohnsitz; Begründung und Aufhebung 1x
- §§ 7, 17, 18 StVG, 823, 421 BGB, 115 VVG 3x (nicht zugeordnet)
- BGB § 276 Verantwortlichkeit des Schuldners 1x
- ZPO § 91 Grundsatz und Umfang der Kostenpflicht 1x
- ZPO § 709 Vorläufige Vollstreckbarkeit gegen Sicherheitsleistung 1x
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- BGB § 421 Gesamtschuldner 1x