Beschluss vom Landgericht Itzehoe (1. Zivilkammer) - 1 AR 1/19
Tenor
Örtlich zuständig für eine richterliche Entscheidung nach §§ 204, 181 Abs. 4 LVwG SH im Zusammenhang mit dem Klimacamp des Bündnisses "A" vom 19.09. - 25.09.2019 in St. Margarethen ist dasjenige Amtsgericht, in dessen Bezirk die Freiheitsentziehung zu dem Zeitpunkt vollzogen wird, zu dem die Polizei eine richterliche Entscheidung herbeiführt.
Gründe
I.
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Für die Zeit vom 19.-25.09.2019 plant das Bündnis „A“ in 25572 St. Margarethen ein Klimacamp. St. Margarethen liegt im Kreis Steinburg in Schleswig-Holstein im Bezirk des Amtsgerichts Itzehoe.
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Das Bündnis „A“ hat im Vorfeld öffentlich angekündigt, während des Klimacamps im Rahmen einer Massenaktion den Betrieb E, Brunsbüttel GmbH (im Folgenden: Firma E) blockieren und stilllegen zu wollen. Etwa ein Drittel des Betriebsgeländes der Firma E liegt im Bezirk des Amtsgerichts Meldorf, ca. zwei Drittel des Betriebsgeländes liegen im Bezirk des Amtsgerichts Itzehoe. Aufgrund der bei vergleichbaren Aktionen gemachten Erfahrungen geht die Polizei davon aus, dass eine größere Zahl von Protestierenden in Gewahrsam genommen werden muss und baut im örtlichen Zuständigkeitsbereich des Amtsgerichts Itzehoe eine Gefangenensammelstelle für 50 – 80 Personen auf.
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Der Kammer ist von Amts wegen bekannt geworden, dass zwischen der Richterschaft des Amtsgerichts Itzehoe und der Richterschaft des Amtsgerichts Meldorf Uneinigkeit darüber besteht, wer für richterliche Entscheidungen über die Fortdauer einer Freiheitsentziehung zuständig ist, wenn die Person auf dem Teil des Betriebsgeländes der Firma E, der im Bezirk des Amtsgerichts Meldorf liegt, aufgegriffen und dann von der Polizei zum Vollzug der Ingewahrsamnahme in die Gefangenensammelstelle in den Bezirk des Amtsgerichts Itzehoe verbracht wird.
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Die Direktorin des Amtsgerichts Itzehoe hat mitgeteilt, dass von Seiten des Amtsgerichts Itzehoe § 181 Abs. 4 Satz 3 LVwG SH dahingehend ausgelegt werde, dass dasjenige Amtsgericht für die richterliche Entscheidung über die Fortdauer des Gewahrsams zuständig sei, in dessen Bezirk die Ingewahrsamnahme beginne und nicht das Gericht, in dessen Bezirk die Gefangenensammelstelle liege. Wegen der Einzelheiten wird auf die Stellungnahme der Direktorin des Amtsgerichts Itzehoe vom 16.09.2019, Bl. 2-3 d.A., Bezug genommen.
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Hingegen hat der Direktor des Amtsgerichts Meldorf mitgeteilt, dass von Seiten des Amtsgerichts Meldorf § 181 Abs. 4 Satz 3 LVwG SH dahingehend ausgelegt werde, dass dasjenige Gericht für die Entscheidung über die Fortdauer des Gewahrsams zuständig sei, in dessen Bezirk die Person zum Zeitpunkt der Befassung des Gerichts mit dem konkreten Fall festgehalten werde, nicht hingegen das Gericht, in dessen Bezirk die Person erstmals aufgegriffen worden sei. Wegen der Einzelheiten wird auf die Stellungnahme des Direktors des Amtsgerichts Meldorf vom 16.09.2019, Bl. 4-5 d.A., Bezug genommen.
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Die Kammer hat aufgrund des Zuständigkeitsstreits der beiden Amtsgerichte und des bevorstehenden Klimacamps von Amts wegen ein Bestimmungsverfahren nach § 5 FamFG eingeleitet.
II.
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Aus Gründen der Gewährleistung der Rechtsschutz- und Verfahrensgarantien aus Art. 19 Abs. 4 sowie Art. 104 Abs. 1, 2 GG war die Bestimmung des für eine richterliche Entscheidung nach §§ 204, 181 Abs. 4 LVwG SH im Zusammenhang mit dem Klimacamp des Bündnisses "A" vom 19.09. - 25.09.2019 in St. Margarethen örtlich zuständigen Amtsgerichts durch die Kammer mit dem aus dem Tenor ersichtlichen Ergebnis geboten.
1.
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Die Kammer ist nach § 5 Abs. 1 FamFG als gemeinsames nächsthöheres Gericht der beteiligten Amtsgerichte für die Bestimmung des örtlich zuständigen Gerichts zuständig.
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Zwischen den beteiligten Amtsgerichten besteht Streit über die örtliche Zuständigkeit für die Entscheidung über die Fortdauer des Gewahrsams in denjenigen Fällen, in denen die festgehaltene Person erstmals auf dem Teil des Betriebsgeländes der Firma E aufgegriffen und festgehalten wird, der im Bezirk des Amtsgerichts Meldorf liegt, und dann vor richterlicher Entscheidung in die Gefangenensammelstelle im Bezirk des Amtsgerichts Itzehoe verbracht wird. Beide Amtsgerichte lehnen für diesen Fall ihre Zuständigkeit ab.
- 10
Unschädlich ist, dass keines der beteiligten Gerichte bislang mit einer konkreten Angelegenheit diesbezüglich befasst ist. Zwar setzt eine Zuständigkeitsbestimmung nach § 5 Abs. 1 FamFG durch das gemeinsame nächsthöhere Gericht grundsätzlich voraus, dass die Gerichte, deren örtliche Zuständigkeit zweifelhaft ist, mit einer konkreten Angelegenheit bereits befasst sind (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 04.02.2009, Az. 11 AR 1/09, OLG Hamm, Beschluss vom 09.05.2006, Az. 15 Sbd 5/06, OLG Köln, Beschluss vom 08.05.2009, Az. 16 AR 3/09, OLG Frankfurt, Beschluss vom 02.06.2006, Az. 20 W 224/06, jeweils juris). Von diesem Grundsatz ist jedoch eine Ausnahme nicht nur möglich, sondern sogar zwingend geboten, wenn ansonsten die Gewährung effektiven Rechtsschutzes für die möglicherweise betroffenen Personen nicht gewährleistet wäre (OLG Köln a.a.O., ebenso: OLG Hamm a.a.O., OLG Karlsruhe a.a.O., OLG Frankfurt a.a.O.). In einem solchen Fall kann ein Verfahren nach § 5 Abs. 1 FamFG von Amts wegen eingeleitet werden, wenn das nächsthöhere gemeinsame Gericht von einem Zuständigkeitsstreit zwischen zwei Gerichten bezüglich einer notwendigen Amtshandlung in Kenntnis gesetzt wird (OLG Frankfurt, Beschluss vom 02.06.2006, Az. 20 W 224/06, ebenso: OLG Hamm, Beschluss vom 09.05.2006, Az. 15 Sbd 5/06, OLG Köln, Beschluss vom 08.05.2009, Az. 16 AR 3/09, OLG Karlsruhe, Beschluss vom 04.02.2009, Az. 11 AR 1/09, jeweils juris). Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
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Die Kammer hat durch die Mitteilungen der Direktorin des Amtsgerichts Itzehoe und des Direktors des Amtsgerichts Meldorf von dem Zuständigkeitsstreit der beiden beteiligten Amtsgerichte erfahren.
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Ohne eine Entscheidung der Kammer nach § 5 Abs. 1 FamFG droht während des Klimacamps des Bündnisses „A“ vom 19.-25.09.2019 gegenüber festgehaltenen Personen eine Verletzung der Rechtsschutzgarantie aus Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG sowie der Rechtsgarantien bei Freiheitsentziehung aus Art. 104 Abs. 1, Abs. 2 GG. Denn es bestünde die Gefahr, dass sich Richter*innen an den Amtsgerichten Meldorf und Itzehoe für die Entscheidung über die Fortdauer von Freiheitsentziehungen, die einen Eingriff in das Grundrecht der Freiheit der Person aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG darstellen, für örtlich unzuständig erklären und das Verfahren nach § 3 FamFG an das andere in Betracht kommende Amtsgericht verweisen, so dass dadurch die nach §§ 204 Abs. 6, 181 Abs. 4 LVwG SH notwendige richterliche Entscheidung verzögert und zugleich die Freiheitsentziehung für die betroffene Person vermeidbar verlängert wird. Sollte das andere Amtsgericht die Verweisung zudem nicht als bindend, da seiner Ansicht nach willkürlich ansehen, würde dies zu einem längeren Zuständigkeitsstreit der Amtsgerichte mit der Notwendigkeit einer Zuständigkeitsbestimmung durch die Kammer führen. Während dieser Zeit bliebe die betroffene Person, sofern sie nicht nach § 204 Abs. 5 LVwG SH wegen Wegfalls des Grundes der Freiheitsentziehung, Zweckerreichung oder Zeitablauf vorzeitig zu entlassen ist, im polizeilichen Gewahrsam, ohne dass dieser inhaltlich richterlich überprüft worden wäre. Diese Gefahr ist vor dem Hintergrund des Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG, nach dem bei jeder nicht auf richterlicher Anordnung beruhenden Freiheitsentziehung unverzüglich eine richterliche Entscheidung in der Sache herbeizuführen ist, nicht hinnehmbar.
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Da es sich bei polizeilichen Ingewahrsamnahmen um kurzfristige Freiheitsentziehungsmaßnahmen handelt, ist zudem offensichtlich, dass in solchen Situationen eine Zuständigkeitsbestimmung der Kammer in Bezug auf das konkrete Verfahren und nachfolgende richterliche Entscheidung des dann bestimmten örtlich zuständigen Amtsgerichts über die Fortdauer des Gewahrsams nicht vor Beendigung des Ingewahrsams selbst ergehen könnte. Denn nach § 204 Abs. 5 Satz 2 LVwG SH ist der Gewahrsam unmittelbar bei Wegfall des Anordnungsgrundes, bei Zweckerreichung und spätestens am Ende des Tages nach der Übernahme in den Gewahrsam aufzuheben, sofern nicht vorher die Fortdauer der Freiheitsentziehung gerichtlich angeordnet ist. Die Ablehnung einer richterlichen Sachentscheidung allein aus Gründen fehlender örtlicher Zuständigkeit durch die beteiligten Amtsgerichte würde mithin im Ergebnis dazu führen, dass der Rechtsschutz der festgehaltenen Person, dem die Notwendigkeit der Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung nach §§ 204 Abs. 6, 181 Abs. 4 LVwG SH auf der Grundlage des Art. 104 Abs. 2 Satz 2 GG auch bei einer kurzfristigen Freiheitsentziehungsmaßnahme gerade dient, vereitelt würde. Diese Gefahr kann nur durch eine Vorab-Entscheidung der Kammer nach § 5 Abs. 1 FamFG beseitigt werden.
2.
- 14
In der Sache ist dasjenige Amtsgericht für die richterliche Entscheidung nach §§ 204 Abs. 6, 181 Abs. 4 LVwG SH örtlich zuständig, in dessen Bezirk die betroffene Person zu dem Zeitpunkt festgehalten wird, zu dem die Polizei die erforderliche richterliche Entscheidung herbeiführt.
- 15
Dies ergibt sich zunächst aus dem Wortlaut von § 181 Abs. 4 Satz 3 LVwG SH. Danach ist für die Entscheidung das Amtsgericht zuständig, in dessen Bezirk die Person „festgehalten wird“. Die Verwendung der Zeitform des Präsens, die für eine Handlung in der Gegenwart steht, deutet auf eine Zuständigkeit desjenigen Amtsgerichts hin, in dessen Bezirk die Person zum Zeitpunkt der Befassung des Gerichts mit der Angelegenheit aktuell festgehalten wird. Hätte der Gesetzgeber gewollt, die Zuständigkeit des Amtsgerichts am Ergreifungsort zu begründen, wäre naheliegend gewesen, § 181 Abs. 4 Satz 3 LVwG SH dahingehend zu formulieren, dass das Gericht zuständig ist, in dessen Bezirk die Person ergriffen worden ist, erstmals festgehalten worden ist oder in dessen Bezirk die Freiheitsentziehung herbeigeführt wurde. Denn der Gesetzgeber hätte dann auf einen früheren Zustand abstellen wollen, der sprachlich üblicherweise in einer Zeitform des Perfekts oder Präteritums formuliert wird. Derartige Formulierungen finden sich beispielsweise in § 36 Abs. 2 Satz 1 PolG NW („herbeigeführt wurde“) sowie § 18 Abs. 3 Satz 2 BayPAG a.F. („in Gewahrsam genommen wurde“). Eine derartige Formulierung hat der schleswig-holsteinische Gesetzgeber jedoch selbst dann nicht gewählt, nachdem die Entscheidungen des Oberlandesgerichts Hamm vom 09.05.2006, Az. 15 Sbd 5/06, sowie des Oberlandesgerichts Köln vom 08.05.2009, Az. 16 AR 3/09, zum damals mit § 181 Abs. 4 Satz 3 LVwG SH übereinstimmenden Wortlaut von § 36 Abs. 2 Satz 1 PolG NW a.F. (gültig vom 25.07.2003-23.02.2010) ergangen sind. Während das Land Nordrhein-Westfalen sich daraufhin veranlasst sah, die Regelung in § 36 Abs. 2 Satz 1 PolG NW von „festgehalten wird“ dahin zu ändern, dass nunmehr das Amtsgericht zuständig ist, in dessen Bezirk die Freiheitsentziehung „herbeigeführt wurde“, hat sich das Land Schleswig-Holstein zu keiner Änderung des LVwG SH veranlasst gesehen.
- 16
Für eine Auslegung des Gesetzes dahingehend, dass die Zuständigkeit des Amtsgerichts an dem Ort begründet ist, an welchem die betroffene Person zum Zeitpunkt der Herbeiführung der richterlichen Entscheidung festgehalten wird, spricht auch der Zweck der gesetzlichen Regelung. Die Regelung soll den Richtervorbehalt bei Freiheitsentziehungen nach Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG zur Geltung bringen und dem Recht des Betroffenen auf effektiven Rechtsschutz dienen. Die notwendige richterliche Entscheidung würde jedoch unnötig lange herausgezögert, wenn der Betroffene, der möglicherweise schon vor Befassung des Gerichts mit der Angelegenheit - sei es zu Recht oder zu Unrecht - durch die Polizei vom Ergreifungsort in eine Gefangenensammelsstelle in einem anderen Gerichtsbezirk gebracht worden ist, zum Zwecke der Anhörung durch den Richter erst wieder an das für den Ergreifungsort zuständige Gericht zurücktransportiert werden müsste oder der dortige Richter zu der entfernten Gefangenensammelstelle anreisen müsste, damit über die Fortdauer der Freiheitsentziehung entschieden wird. Die notwendige Zeit des Rücktransportes oder der Anreise des Richters von dem anderen Gericht würde eine unnötige Verlängerung der Freiheitsentziehung ohne richterliche Entscheidung nach sich ziehen, die nicht zu rechtfertigen wäre. Hingegen dürfte die Vorführung bzw. Anhörung der festgehaltenen Person durch den Richter des Gerichts, in dessen Bezirk die Person zum Zeitpunkt der Hinzuziehung des Gerichts festgehalten wird, regelmäßig am schnellsten und unkompliziertesten zu bewerkstelligen sein.
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Dies hat auch der Bundesgesetzgeber beispielsweise in § 416 Satz 2 FamFG so gesehen, indem er geregelt hat, dass in Freiheitsentziehungssachen immer dann, wenn sich die Person bereits in Verwahrung einer abgeschlossenen Einrichtung befindet, vorrangig das Gericht zuständig ist, in dessen Bezirk die Einrichtung liegt. Zwar ist § 416 FamFG trotz der Verweisung auf Buch 7 des FamFG in § 181 Abs. 4 Satz 4 LVwG SH vor dem Hintergrund der Spezialvorschrift des § 181 Abs. 4 Satz 3 LVwG SH auf die Ingewahrsamnahme nach § 204 LVwG SH nicht anwendbar (so Foerster/Freidersen/Rohde-Martens, LVwG SH, § 181 Ziff. 3.5, Stand: 9.2016). Die vorgenannte bundesgesetzliche Regelung, die in ihrem wesentlichen Inhalt mit der Vorgängerregelung in § 4 Abs. 1 Satz 2 FEVG übereinstimmt, stützt jedoch die Auslegung, dass dem Zweck des zügigen, effektiven Rechtsschutzes im Rahmen von Freiheitsentziehungen gesetzgeberisch dadurch Rechnung getragen wird, dass dasjenige Gericht, in dessen Zuständigkeitsbezirk sich die von der Freiheitsentziehung betroffene Person zum Zeitpunkt der Befassung des Gerichts aufhält, zuständig sein soll. Dafür, dass der Landesgesetzgeber dies anders gesehen hätte, bestehen keine Anhaltspunkte.
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Zudem könnte es in Fällen wie dem vorliegenden, bei welchem sich das Gelände, auf welchem der Massenprotest stattfinden soll, zu etwa einem Drittel im Bezirk des einen Amtsgerichts und zu etwa zwei Dritteln im Bezirk eines anderen Amtsgerichts befindet, schon aus tatsächlichen Gründen Schwierigkeiten bereiten, den Ergreifungsort einem der in Betracht kommenden Gerichte sicher zuzuordnen. Denn die auf einem Privatgelände oder in der Natur liegende Grenze zweier Gerichtsbezirke wird nicht durch eine sichtbare Grenzmarkierung gekennzeichnet, durch die jedermann deutlich würde, ob es sich um einen Bereich des einen oder des anderen Amtsgerichts handelt. Während der Ergreifungsort ggf. aus tatsächlichen Gründen schwer zugeordnet werden kann, wird hingegen der Ort, an dem die Person bei Hinzuziehung des Gerichts festgehalten wird, in der Regel eindeutig zugeordnet werden können.
- 19
Auch derartige tatsächliche Unsicherheiten über den Ergreifungsort würden die notwendige Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung unnötig verzögern, ggf. sogar erst eine Zuständigkeitsbestimmung nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 FamFG notwendig machen und damit dem verfassungsrechtlich gebotenen Zweck des Gesetzes widersprechen. Eine Gesetzesauslegung hat indes stets verfassungsrechtskonform zu erfolgen und darf nicht zu einer Beeinträchtigung oder Gefährdung der Verfassungsrechte des Bürgers führen.
- 20
Der von der Kammer präferierten Auslegung von § 181 Abs. 4 Satz 3 LVwG SH steht auch nicht entgegen, dass die richterliche Entscheidung nach Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG sowie § 181 Abs. 4 Satz 1 LVwG SH unverzüglich herbeizuführen ist. Denn aus der gebotenen Unverzüglichkeit der Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung folgt keine Bestimmung des zuständigen Gerichts. Der Gesetzgeber hat die Regelung zur Unverzüglichkeit und zur Zuständigkeit explizit in verschiedenen Sätzen des Gesetzes geregelt, wodurch deutlich zum Ausdruck gebracht wird, dass es sich um zwei gesondert zu betrachtende Regelungen handelt. Eine Verletzung des Unverzüglichkeitsgebotes führt ggf. zu einem rechtswidrigen Handeln der Polizei im Rahmen der Freiheitsentziehung mit den daraus resultierenden Folgen, verhält sich jedoch in Bezug auf die Zuständigkeit des Gerichts neutral, die nicht auf der Rechtmäßigkeit polizeilichen Handelns fußt, sondern auf den tatsächlichen Verhältnissen.
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Entgegen der Ansicht des Oberlandesgerichts Köln vom 08.05.2009, 16 AR 3/09, juris, bedeutet das Erfordernis der unverzüglichen Herbeiführung einer richterlichen Entscheidung zudem nicht zwingend und stets eine Hinzuziehung des Richters noch am Ergreifungsort nach Herauslösen der Person aus dem Umfeld. Zwar hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 15.05.2002, Az. 2 BvR 2292/00, juris, ausgeführt, dass eine Freiheitsentziehung nach Art. 104 Abs. 2 Satz 1 GG grundsätzlich eine vorherige richterliche Anordnung voraussetze und eine nachträgliche richterliche Entscheidung nur genüge, wenn der mit der Freiheitsentziehung verfolgte verfassungsrechtlich zulässige Zweck nicht erreichbar wäre, sofern der Festnahme die richterliche Entscheidung vorausgehen müsste. „Unverzüglich” sei daher dahin auszulegen, dass die richterliche Entscheidung ohne jede Verzögerung, die sich nicht aus sachlichen Gründen rechtfertigen lässt, nachgeholt werden müsse (BVerfG a.a.O.). Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch sowohl in der zuvor genannten Entscheidung als auch in seinem Beschluss vom 18.04.2016, Az. 2 BvR 1833/12, 2 BvR 1945/12, juris, anerkannt, dass es durchaus Verzögerungen bei der Herbeiführung der richterlichen Entscheidung geben kann, die nicht vermeidbar sind und daher nicht gegen das Unverzüglichkeitsgebot verstoßen, so z.B. Verzögerungen, die durch die Länge des Weges, Schwierigkeiten beim Transport, die notwendige Registrierung und Protokollierung, ein renitentes Verhalten des Festgenommenen oder vergleichbare Umstände bedingt sind.
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Die Kammer verkennt nicht, dass es durch die von ihr vorgenommene Auslegung der Regelung des § 181 Abs. 4 Satz 3 LVwG SH gewissermaßen in der Hand der Polizei liegt, welches Amtsgericht für die richterliche Entscheidung über die Freiheitsentziehung zuständig ist und damit zumindest theoretisch die Gefahr einer Manipulation besteht. Denn die Zuständigkeit des Gerichts hängt nach der von der Kammer vorgenommenen Auslegung davon ab, wann die Polizei die richterliche Entscheidung herbeiführt und wo sie die betroffene Person zu diesem Zeitpunkt festhält. Dies verstößt indes nicht gegen das Gebot des gesetzlichen Richters aus Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG. Das Verbot, dass niemand „seinem“ gesetzlichen Richter entzogen werden darf, bedeutet, dass von vornherein auf Grund allgemeiner, für jedermann geltender Normen für jede einzelne Rechtsangelegenheit so eindeutig wie möglich feststehen muss, welcher Richter sie zu entscheiden hat; diese Regelung darf nicht willkürlich geändert werden (Kissel/Mayer/Mayer, 9. Aufl. 2018, GVG § 21a Rn. 1). Dem widerspricht die vorstehende Auslegung der Regelung in § 181 Abs. 4 Satz 3 LVwG SH jedoch nicht. Denn zu dem Zeitpunkt, zu dem ein Gericht mit der Ingewahrsamnahme im konkreten Fall befasst wird, ist durch allgemeine, für jedermann geltende Normen geregelt, dass das Gericht am Ort des aktuellen Vollzugs des Gewahrsams zuständig ist. Zudem schließt auch Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG nicht aus, dass für eine Angelegenheit vor Befassung eines Gerichts theoretisch mehrere Gerichte zuständig sein können und die Zuständigkeit des gesetzlichen Richters erst durch Einreichung des Antrags oder der Klage konkretisiert wird. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn ein Kläger im Zivilprozessrecht nach § 35 ZPO die Wahl zwischen mehreren allgemeinen und/oder besonderen Gerichtsständen hat.
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Vorliegend hat die Polizei indes keine echte Wahl in diesem Sinne. Vielmehr ist sie zu rechtmäßigem Handeln gesetzlich verpflichtet und kann daher von Gesetzes wegen eine Person nur dann unter vorläufiger Freiheitsentziehung ohne richterliche Entscheidung vom Ergreifungsort an einen anderen Ort verbringen, wenn die Voraussetzungen von § 204 LVwG SH erfüllt sind und dies den Grundsätzen aus Art. 104 Abs. 1, Abs. 2 GG entspricht. Dass über die Fortdauer des Gewahrsams das für den Gewahrsamsort zuständige Gericht zu entscheiden hat, dient wie bereits dargelegt zudem ausdrücklich dem Verfassungsgebot, die richterliche Entscheidung über die Freiheitsentziehung so schnell wie möglich herbeizuführen. Die bloße Möglichkeit, dass die Polizei den Vollzugsort zum Zwecke der Manipulation der gerichtlichen Zuständigkeit willkürlich auswählen könnte, führt nicht dazu, die Zuständigkeitsregelung als verfassungswidrig anzusehen (OLG Karlsruhe, Beschluss vom 04.02.2009, Az. 11 AR 1/09, juris zu § 28 Abs. 4 Satz 1 PolG BW a.F. („in dessen Bezirk eine Person in Gewahrsam genommen ist“) unter Bezugnahme auf BayVerfGH, NVwZ 1991, 664 zu einer ähnlichen Regelung im bayerischen Recht sowie BVerfGE 83, 24 = NJW 1991, 1283, m.w. Nachw. auch zu gegenteiligen Auffassungen).
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Wie bereits das Oberlandesgericht Karlsruhe in dem zuvor erwähnten Beschluss vom 04.02.2009, Az. 11 AR 1/09, ausgeführt hat, ließe sich zudem die Möglichkeit einer willkürlich durch das Handeln der Polizei herbeigeführten örtlichen Zuständigkeit auch nicht dadurch ausschließen, wenn auf das Gericht des Ergreifungsortes abgestellt würde. Denn dann hätte die Polizei es etwa durch vorherige Verfolgung der in Gewahhrsam zu nehmenden Person in der Hand, den Ergreifungsort beliebig zu wählen.
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Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass sich die Polizeibehörde bei ihrer Entscheidung über die Verbringung des Festgenommenen von dem Wunsch leiten lassen wird, die örtliche Zuständigkeit eines bestimmten Gerichts zu begründen. Welche Auffassung die einzelnen Gerichte über die materiell-rechtlichen Voraussetzungen des § 204 LVwG SH bei Festnahmen im Zusammenhang mit dem Klimacamp des Bündnisses „A“ vertreten werden, wird sich erst dann zeigen, wenn die ersten richterlichen Entscheidungen zu treffen sind. Zudem bedarf die Einrichtung von Gefangenensammelstellen bei derartigen Großveranstaltungen, wie sie vorliegend geplant sind, organisatorischer Vorbereitungen. Dass die Entscheidung der Polizeibehörde, die Gefangenensammelstelle im Bezirk des Amtsgerichts Itzehoe einzurichten, willkürlich getroffen worden wäre, ist nicht ersichtlich. Zum einen liegen zwei Drittel des Betriebsgeländes ohnehin im Bezirk des Amtsgerichts Itzehoe. Zum anderen befindet sich die vom Betriebsgelände der Firma E nächstgelegene Polizeidirektion in Itzehoe. Dies sind sachliche Gründe, die die Einrichtung der Gefangenensammelstelle im Bezirk des Amtsgerichts Itzehoe als nachvollziehbar erscheinen lassen und der Annahme einer manipulativen Verschiebung entgegenstehen.
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Die Entscheidung darüber, welches Amtsgericht die richterliche Entscheidung nach §§ 204, 181 Abs. 4 LVwG SH zu treffen hat, besagt auch nicht, dass damit der Polizei generell eine Verbringung der festgehaltenen Person an den Ort der Gefangenensammelstelle gestattet wäre. Die Rechtmäßigkeit vorherigen polizeilichen Handelns hat mit der örtlichen Zuständigkeit des Gerichts nichts zu tun. Es liegt daher weiterhin an der Polizei, unverzüglich die richterliche Entscheidung herbeizuführen. Ob dies erst nach Verbringung der festgehaltenen Person in eine Gewahrsamszelle, die Gefangenensammelstelle oder bereits nach Ergreifen der Person möglich ist, hängt nach den oben dargestellten, vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Grundsätzen von den Umständen des Einzelfalls ab.
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Sollte die Polizei die richterliche Entscheidung nicht unverzüglich herbeiführen, stehen der festgehaltenen Person zudem die Rechtsschutzmöglichkeiten aus §§ 204 Abs. 6, 181 Abs. 4 LVwG SH i.V.m. § 428 Abs. 2 FamFG offen.
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