Beschluss vom Landgericht Neubrandenburg (64. Strafkammer) - 64 Ks 3/17

Tenor

1. Das Verfahren wird gemäß § 206a StPO eingestellt.

2. Die Kosten des Verfahrens und die notwendigen Auslagen des Angeklagten trägt die Staatskasse.

Gründe

I.

1

Mit Anklageschrift vom 23.2.2015 legte die Staatsanwaltschaft Schwerin dem Angeklagten Beihilfe zum Mord in mindestens 3681 tateinheitlich zusammentreffenden Fällen zur Last. Sie warf ihm vor, durch seine Tätigkeiten als Sanitäter und Angehöriger der SS-Sanitätsstaffel im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau in der Zeit vom 15.8. bis zum 14.9.1944 das arbeitsteilige Lagergeschehen und insbesondere den ihm bekannten „industriellen“ Ablauf der dort vorgenommenen Massentötungen unterstützt und gefördert zu haben. Nachdem die Staatsanwaltschaft trotz des hochbetagten Alters des Angeklagten davon abgesehen hatte, bereits im Ermittlungsverfahren dessen Verhandlungsfähigkeit sachverständig begutachten zu lassen und die Schwurgerichtskammer des Landgerichts Neubrandenburg gestützt auf ein amtsärztliches Gutachten, welches sich auch auf Ausführungen in durch die Verteidigung vorgebrachten Gutachten bezog, die Eröffnung des Hauptverfahrens wegen Verhandlungsunfähigkeit mit Beschluss vom 17.6.2015 abgelehnt hatte, ließ das OLG Rostock nach Einholung eines gerontopsychiatrischen Gutachtens mit Beschluss vom 27.11.2015 die Anklage zur Hauptverhandlung zu und eröffnete das Hauptverfahren vor der Schwurgerichtskammer des Landgerichts. In dem auf den 22.10.2015 datierenden Gutachten hatte der Sachverständige Prof. Dr. ... festgestellt, dass die Verhandlungsfähigkeit des aus psychiatrischer Sicht nur eingeschränkt verhandlungsfähigen Angeklagten - spätestens - nach 12 Monaten erneut zu überprüfen sei.

2

Eine Hauptverhandlung fand danach nur an wenigen Tagen statt. Sie hatte, soweit aus den Protokollen ersichtlich, neben der Befassung mit zahlreichen Befangenheitsanträgen gegen einzelne oder alle Mitglieder der Kammer nahezu ausschließlich die Frage der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten zum Gegenstand. Offenbar ging die Kammer in der damaligen Besetzung zunächst davon aus, dass die aktuelle psychische und physische Konstitution des Angeklagten sich in der Hauptverhandlung - es fanden Termine am 29.2. und 14.3.2016 und nach Aussetzung am 12.9. (erst an diesem Tag wurde die Anklage verlesen) und 19.9.2016 statt - durch Befragung des anwesenden gerontopsychiatrischen Gutachters und des weiteren psychiatrischen Gutachters Dr. ... ohne neue ausführliche Exploration und ausführliche Begutachtung und durch zwischenzeitlich eingeholte internistische Befunde hinreichend feststellen lasse. Nachdem über mehrere Befangenheitsanträge - nicht nur die originären berufsrichterlichen Kammermitglieder, sondern auch zur Entscheidung berufene vertretende Richter betreffend - nicht innerhalb der gesetzlichen Unterbrechungsfrist gemäß § 229 Abs. 1 StPO entschieden werden konnte, wurde die Hauptverhandlung erneut ausgesetzt. Danach wurde kein weiterer Hauptverhandlungstermin anberaumt, vielmehr der bisherige klinisch erfahrene gerontopsychiatrische Gutachter Prof. Dr. ... mit einer weiteren Gutachtenerstellung beauftragt und zusätzlich auch der forensisch erfahrene psychiatrische Gutachter Dr. ... mit der Begutachtung betraut. Das schriftliche Gutachten vom 31.3.2017 liegt der Kammer seit dem 12. Mai 2017 vor und geht von dauerhafter Verhandlungsunfähigkeit aus. Sowohl die Staatsanwaltschaft als auch der Vertreter des Nebenklägers ..., Rechtsanwalt ..., hatten zunächst Einwände gegen das neue Gutachten vorgebracht, zu denen die Gutachter von der Kammer schriftlich befragt wurden. Nachdem beide Sachverständige sich am 27.7.2017 bzw. am 31.7.2017 ergänzend geäußert haben, beantragen nunmehr auch die Staatsanwaltschaft mit am 31.8.2017 eingegangenen Schreiben und der Nebenklägervertreter Rechtsanwalt ... mit Schreiben vom 25.8.2017 die Verfahrenseinstellung, nachdem die Verteidigung dies bereits zuvor beantragt hatte.

II.

3

Die Einstellung des Verfahrens gemäß § 206 a Abs. 1 StPO ist veranlasst, weil ein Verfahrenshindernis in Form der dauernden Verhandlungsunfähigkeit des Angeklagten eingetreten ist.

4

Aufgrund des Sachverständigengutachtens vom 31.3.2017 in Verbindung mit den weiteren ergänzenden Ausführungen der Gutachter Prof. Dr. ... vom 27.7.2017 und Dr. ... vom 31.7.2017 steht fest, dass die bereits bei der Erstbegutachtung festgestellte senile Demenzerkrankung des Angeklagten so weit fortgeschritten ist, dass dieser dauerhaft nicht mehr in der Lage ist, einer Hauptverhandlung zu folgen, die Bedeutung des Verfahrens und einzelner Verfahrensakte zu erkennen und sich sachgerecht zu verteidigen.

5

Die Gutachter führen im Gutachten vom 31.3.2017 dazu aus, im Vergleich zur Vorbegutachtung vom September 2015 zeige sich im psychopathologischen Verlauf eine deutliche Verschlechterung des formalen Denkens mit einer ausgeprägten Minderung der Fähigkeit, Themenwechseln zu folgen und zudem eine Abnahme der Fähigkeit, erworbene Informationen länger als wenige Minuten zu behalten. Die Kammer hat keine Veranlassung, die gutachterlichen Feststellungen in Zweifel zu ziehen, da sie mit dem dargestellten Verlauf des Explorationsgespräches ohne weiteres in Einklang stehen, auch damit, dass die neuropsychologische Zusatzbegutachtung durch die Neuropsychologin ... ergeben hat, dass die durchgeführten Testverfahren eine mittelschwere Demenz ausweisen und insbesondere ausgeprägte Defizite in der Neugedächtnisbildung und der Informationsverarbeitungsgeschwindigkeit bestehen. Soweit die Gutachter ausführen, therapeutisch sei allenfalls eine Verlangsamung des geistigen Abbaus, aber keine Umkehrung und Verbesserung des Zustandes zu erwarten, ist dem nichts entgegen zu halten.

III.

6

Die Kostenentscheidung folgt aus § 467 Abs. 1 StPO.

7

Entgegen der Auffassung der Staatsanwaltschaft und der Nebenklage besteht keine Veranlassung, gemäß § 467 Abs. 3 Satz 2 StPO davon abzusehen, der Staatskasse die notwendigen Auslagen des Angeklagten ganz oder zum Teil aufzuerlegen.

8

Gemäß § 467 Abs. 1 StPO fallen bei einer Verfahrenseinstellung sowohl die Verfahrenskosten als auch die notwendigen Auslagen grundsätzlich der Staatskasse zur Last. Als Ausnahme von diesem Grundsatz eröffnet § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO die Möglichkeit, von der Erstattung der notwendigen Auslagen abzusehen, wenn der Angeschuldigte wegen einer Straftat nur deshalb nicht verurteilt wird, weil ein Verfahrenshindernis besteht. Das Ermessen ("kann davon absehen") ist also erst dann eröffnet, wenn das Gericht überzeugt ist, dass der Angeschuldigte ohne das Verfahrenshindernis verurteilt werden würde (vgl. BVerfG 2 BvR 388/13). Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass eine Auslagenversagung dann zwingend entfällt, wenn eine Verurteilung bei Fehlen des Verfahrenshindernisses zweifelhaft gewesen wäre.

9

Daraus zieht ein Teil der obergerichtlichen Rechtsprechung den Schluss, die Überzeugungsbildung des Gerichts setze eine Hauptverhandlung voraus, die bis zur Schuldspruchreife durchgeführt ist (so BGH 2 StR 331/94; KG Berlin, 4 Ws 157/93; OLG Düsseldorf NStZ-RR 1997;). Ein Teil der Literatur folgt dem (SK-StPO Degener, § 467 Rdr. 27; LR/Hilger § 467 Rdr. 53; AK/Meier § 467 Rdr. 13).

10

Demgegenüber lässt der überwiegende Teil der Rechtsprechung (vgl. OLG Frankfurt NStZ-RR 2015, 294-295 mwN; OLG Jena NStZ-RR 2007, 254 mwN) einen Tatverdacht ausreichen.

11

Dabei wird teilweise ein bis zum Eintritt des Verfahrenshindernisses fortbestehender hinreichender Tatverdacht für ausreichend gehalten (vgl. OLG Hamm, 5 Ws 216/00; OLG Karlsruhe, 3 Ws 248/02); teilweise wird als Voraussetzung für die Anwendbarkeit der Vorschrift verlangt, dass ein erheblicher Tatverdacht besteht und keine Umstände erkennbar sind, die bei einer (gedachten) Fortführung der Hauptverhandlung die Verdichtung dieses Verdachts zur prozessordnungsgemäßen Feststellung der Tatschuld infrage stellen würden (vgl. BGH, 3. Strafsenat, NStZ 2000, 330, 331; OLG Frankfurt, 2 Ws 16/02; OLG Jena aaO).

12

Die Kammer folgt der letztgenannten Auffassung.

13

Die Unschuldsvermutung gebietet es nicht, die Schuldspruchreife zum Maßstab der Auslagenentscheidung zu machen (vgl. BVerfG NJW 1992, 1612), jedenfalls soweit die Grenze zur Schuldzuweisung nicht überschritten wird.

14

Der fortbestehende hinreichende Tatverdacht reicht hingegen nicht aus, wie sich - die Kammer folgt insoweit dem OLG Jena (aaO) - aus der Gesetzgebungsgeschichte ergibt. Dem Gesetzgeber standen bei Einführung der Vorschrift „insbesondere“ solche Fälle vor Augen, in denen bei der Verfolgung von nationalsozialistischen Gewaltverbrechen nach vollständig durchgeführter Hauptverhandlung der Mordvorwurf nicht zu beweisen und der - erwiesene - Totschlag bereits verjährt war. „Vor allem in derartigen Fällen“ sollte eine Versagung der Auslagenerstattung möglich sein, weil „die Öffentlichkeit kein Verständnis dafür hat, wenn der Staat einem Verbrecher, der nur aus rein formellen Gründen nicht verurteilt werden kann, auch noch die Anwälte bezahlt“ (OLG Jena aaO mwN). Daraus folgt indes nicht, dass nach dem Willen des Gesetzgebers andere Verfahrenskonstellationen als die der Einstellung wegen eines Verfahrenshindernisses nach abgeschlossener Beweisaufnahme, mithin auch die der Einstellung vor Abschluss der Beweisaufnahme oder außerhalb der Hauptverhandlung, aus dem Anwendungsbereich der Vorschrift generell ausgeschlossen sein sollten. Allerdings ergibt sich aus der Begründung des Gesetzgebers, dass § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO als eng begrenzte Ausnahmevorschrift konzipiert ist (vgl. OLG Frankfurt 2 Ws 46/15, OLG Jena aaO; ). Dies setzt eine Verurteilungsprognose voraus, der ein höherer Grad an Wahrscheinlichkeit zukommt als dem hinreichenden Tatverdacht i.S.d. § 203 StPO, der schon dann vorliegt, wenn die Beweisfähigkeit des Tatvorwurfs den Grad einfacher Wahrscheinlichkeit erreicht, also eine Verurteilung nach Durchführung der Hauptverhandlung wahrscheinlicher ist als ein Freispruch (vgl. KK-Schmid, a.a.O, § 170 Rn. 3). Dem Ausnahmecharakter des § 467 Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 StPO, der durch das gesetzgeberische Ziel geprägt ist, dem allgemeinen Billigkeitsempfinden offenkundig widersprechende Auslagenerstattungen zu verhindern, wird nur dann Rechnung getragen, wenn bereits an die Schwere und Offenkundigkeit des Tatverdachts als Tatbestandsvoraussetzung für die Anwendbarkeit der Norm auf Verfahrenseinstellungen vor Abschluss der Beweisaufnahme oder außerhalb der Hauptverhandlung besondere Anforderungen gestellt werden (vgl. OLG Jena aaO). Erst wenn der gegen den Angeschuldigten bestehende Verdacht bewertet worden ist und sich die offenbare Unbilligkeit einer Auslagenerstattung ergibt, ist im Rahmen des auf der Rechtsfolgenseite der Vorschrift auszuübenden gerichtlichen Ermessens zu entscheiden, ob dem Angeschuldigten die Auslagenerstattung wegen dieser Unbilligkeit versagt wird oder nicht, wobei weitere, das Unbilligkeitsurteil abschwächende oder verstärkende Umstände wie etwa der Eintritt des Verfahrenshindernisses vor oder nach Erhebung der Anklage oder eine Flucht des Angeschuldigten zu berücksichtigen sind (vgl. BVerfG 2 BvR 1226/03).

15

Danach kann ohne die Durchführung einer zumindest zu erheblichen Teilen durchgeführten Beweisaufnahme allenfalls in einfach gelagerten Fällen bei eindeutiger Ermittlungslage - etwa bei vorliegendem Geständnis in Fällen der „Alltags“kriminalität eine Auslagenversagung in Betracht gezogen werden.

16

Dass im vorliegenden Fall davon nicht ausgegangen werden kann ist offensichtlich. Zu Recht weist der Nebenklägervertreter Rechtsanwalt ... darauf hin, dass vergleichbare Verfahren in der jüngeren Vergangenheit zwar in überschaubarem Zeitraum durchgeführt wurden, aber jedenfalls mehrtägige Beweisaufnahmen notwendig waren, um zu einer Schuldfeststellung zu gelangen. Dies ist auch naheliegend, denn auch in Verfahren, die Tötungsdelikte in Zusammenhang mit der Shoa betreffen, ist wie sonst auch die Individualschuld des jeweiligen Angeklagten Im Rahmen des von der Strafprozessordnung vorgegebenen Strengbeweises festzustellen, mag dies auch für Teile der Öffentlichkeit und - menschlich gut nachvollziehbar - für die Angehörigen der Opfer nur schwer akzeptabel sein.

17

In der Hauptverhandlung wurde lediglich die Anklage verlesen, eine Beweisaufnahme fand nicht statt.

18

Die Versagung der Erstattung der notwendigen Auslagen gemäß § 467 Abs. 3 Satz 2 Ziff. 2 StPO kommt daher nicht in Betracht.

19

Da die Kammer keine Ermessensentscheidung im Rahmen des § 467 Abs. 3 Satz 2 Ziff. 2 StPO zu treffen hat, wären Ausführungen zum Zeitpunkt des Eintrittes der Verhandlungsunfähigkeit an sich entbehrlich. Da aber aus den bei den Akten befindlichen Schriftsätzen ersichtlich wird, dass um diese Frage - wohl im Hinblick auf die mediale Außendarstellung der Prozessbeteiligten - heftig gerungen wird, sind kurze Ausführungen zur Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten im Prozessverlauf durchaus veranlasst, wobei diese durch die nunmehr zur Entscheidung berufenen Kammermitglieder allerdings nur aus Kenntnis der Aktenlage und nicht aufgrund persönlichen Eindrucks vom Angeklagten erfolgen können.

20

Demnach ist festzustellen, dass jedenfalls in Bezug auf das Fortschreiten der Demenzerkrankung am 13.3.2016 noch nicht davon auszugehen war, dass die eingeschränkte Verhandlungsfähigkeit zur Verhandlungsunfähigkeit fortgeschritten war. Dies ergibt sich aus den schriftlichen Ausführungen des Prof. Dr. ... am 27.7.2017. Wann nach dem 13.3.2016, aber vor dem 31.3.2017 Verhandlungsunfähigkeit aufgrund der Demenzerkrankung eingetreten ist, lässt sich für die Kammer nicht hinreichend sicher nachvollziehen. Von dieser Thematik zu trennen ist die Frage, ob zu bestimmten Zeiten aufgrund weiterer Erkrankungen zu bestimmten Zeitpunkten vorübergehende Verhandlungsunfähigkeit bestanden hat. Dass dieser Frage im Verfahrenslauf jedenfalls nachzugehen war, ergibt sich aus der Akte.

Verwandte Urteile

Keine verwandten Inhalte vorhanden.

Referenzen