Beschluss vom Landessozialgericht Baden-Württemberg - L 7 R 756/19

Tenor

Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Reutlingen vom 28. Januar 2019 gilt als zurückgenommen.

Gründe

 
I.
Der Kläger 1970 geboren und lebt zur Zeit in V.. Er hat nach dem Abschluss einer kaufmännischen Lehre eine berufsbegleitende Ausbildung im Rettungsdienst absolviert und war später als Rettungssanitäter tätig. Am 19. September 2016 beantragte der Kläger bei der Beklagten, bei der er rentenversichert ist, die Gewährung einer stationären Leistung zur medizinischen Rehabilitation. Dies lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 30. September 2016 und Widerspruchsbescheid vom 15. Mai 2017 ab.
Hiergegen hat der Kläger am 22. Mai 2017 Klage beim Sozialgericht Reutlingen (SG) erhoben. Im Termin zur Erörterung des Sachverhaltes vor dem SG am 28. Mai 2018 hat der Kläger mitgeteilt, dass er seit dem 1. März 2018 als Betriebsleiter und Leiter des Rettungsdienstes leitender Angestellter bei einem privaten Krankentransportunternehmen sei. Ihm hätte vor einem halben Jahr noch eine Reha-Maßnahme bewilligt werden müssen, nun werde er eine solche aufgrund seiner aktuellen beruflichen Situation nicht antreten. Es gehe ihn darum, dass klargestellt werde, dass die Beklagte einen Fehler gemacht habe.
Das SG hat die Klage mit Gerichtsbescheid vom 28. Januar 2019 abgewiesen. Gegen den ihm am 31. Januar 2019 zugestellten Gerichtsbescheid hat der Kläger am 25. Februar 2019 beim SG „Widerspruch“ erhoben. Er sei durch den Richter benachteiligt worden. Ferner bestehe eine Benachteiligung badischer Bürger durch Gerichtsstand auf württembergischem Boden bei fehlender Verhältnismäßigkeit. Es ergehe der Antrag auf Verlegung des nächstinstanzlichen Gerichtsstandes in badischer Region unter nicht württembergischem Vorsitz, da wiederum eine Benachteiligung zu erwarten sei. Inhaltlich erfolge die Begründung zu einem späteren Zeitpunkt.
Auf die Berufungseingangsmitteilung des Senats und die Aufforderung, die Berufung binnen vier Wochen zu begründen, hat der Kläger mit Schreiben vom 31. März 2019 reagiert. Es sei Badener und erwarte, dass vor einem badischen Gerichtsstand unter Vorsitz nicht württembergischer Beteiligter verhandelt werde. Allein die Demütigung des in Württemberg sitzenden Gerichtsstandes sei nicht hinnehmbar, beleidigend und „badisch menschlich unwürdig“. Wenn der „Adressat“ vorliege, werde die Berufung begründet.
Der Berichterstatter hat den Kläger mit Schreiben vom 2. April 2019 darauf hingewiesen, dass aufgrund seines Wohnsitzes das Sozialgericht Reutlingen, bei dem er ja auch die Klage erhoben habe, erstinstanzlich zuständig gewesen sei, und dass für Berufungen gegen Entscheidungen der Sozialgerichte in Baden-Württemberg ausschließlich das Landessozialgericht Baden-Württemberg mit Sitz in Stuttgart zuständig sei. Der Kläger solle mitteilen, ob er die Berufung fortführen möchte, und für diesen Fall die Berufung bis zum 18. April 2019 begründen.
Nachdem der Kläger hierauf nicht reagiert hat, hat der Berichterstatter ihn mit Schreiben vom 25. April 2019 darauf hingewiesen, dass dies und die bislang unterbliebene Berufungsbegründung Zweifel am Fortbestand seines Rechtsschutzinteresses begründeten, zumal er bereits vor dem SG zum Ausdruck gebracht habe, dass er eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme gar nicht mehr antreten möchte. Er werde daher um Mitteilung gebeten, ob er das Berufungsverfahren fortführen möchte, welches Ziel er damit verfolge und wie er seine Berufung begründe. Sollte er diese Anfrage nicht binnen drei Monaten nach Zugang dieses Schreibens substantiiert beantworten, müsste das Gericht davon ausgehen, dass er an der Fortführung des Rechtsstreites kein Interesse habe. In diesem Fall gelte die Berufung als zurückgenommen. Das Schreiben wurde vom Berichterstatter mit seinem Nachnamen unterschrieben und mit seiner Amtsbezeichnung versehen und wurde dem Kläger am 30. April 2019 mit Postzustellungsurkunde zugestellt.
Der Kläger hat mit Schreiben vom 12. Juni 2019 reagiert. Der erste Teil der Begründung liege dem Gericht vor. Bisher sei kein badischer Gerichtsort mitgeteilt worden. Der Standort des Landessozialgerichts Baden-Württemberg werde als befangen erklärt. Dies resultiere aus der Erfahrung mit der ersten Instanz in Reutlingen. Es könne keine freie, neutrale Verhandlung auf württembergischen Grund erwartet werden. Wenn der badische Gerichtsstand mitgeteilt werde, werde die detaillierte Begründung in der Sache erfolgen.
Zu den weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten beider Rechtszüge Bezug genommen.
II.
Die Berufung des Klägers gilt als zurückgenommen.
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1. Gemäß § 156 Abs. 2 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) gilt die Berufung als zurückgenommen, wenn der Berufungskläger das Verfahren trotz Aufforderung des Gerichts länger als drei Monate nicht betreibt. Der Berufungskläger ist in der Aufforderung auf die Rechtsfolgen hinzuweisen, die sich aus Satz 1 ergeben (§ 156 Abs. 2 Satz 2 SGG). Das Gericht stellt durch Beschluss fest, dass die Berufung als zurückgenommen gilt (§ 156 Abs. 2 Satz 3 SGG); zuständig ist der Berichterstatter allein (§ 155 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, Abs. 4 SGG; Urteil des Senats vom 19. April 2018 – L 7 AY 4220/17 – juris Rdnr. 19; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 156 Rdnr. 4a; Sommer in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 156 Rdnr. 17). Der Beschluss ist deklaratorischer Natur (Urteil des Senats vom 19. April 2018 – L 7 AY 4220/17 – juris Rdnr. 19; Binder in Lüdtke/Berchtold, SGG, 5. Aufl. 2017, § 156 Rdnr. 163; Sommer in Roos/Wahrendorf, SGG, 2014, § 156 Rdnr. 17; zu § 92 Abs. 2 Satz 4 Verwaltungsgerichtsordnung [VwGO] Bundesverwaltungsgericht [BVerwG], Beschluss vom 1. Oktober 1990 – 4 NB 17/90 – juris Rdnr. 5 f.), da die Rücknahmefiktion bei Vorliegen der Voraussetzungen ipso iure eintritt (Urteil des Senats vom 19. April 2018 – L 7 AY 4220/17 – juris Rdnr. 19; zur Klagerücknahmefiktion Clausing in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 92 Rdnr. 65 [Oktober 2014]).
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Die Rücknahmefiktion beruht auf der Annahme, dass der Berufungskläger bei Nichtbetreiben des Verfahrens kein (subjektives) Rechtsschutzinteresse (mehr) hat (zur Klagerücknahmefiktion Bundesverfassungsgericht [BVerfG], Beschluss vom 27. Oktober 1998 – 2 BvR 2662/95 – juris Rdnr. 18; BVerwG, Urteil vom 23. April 1985 – 9 C 48/84 – juris Rdnr. 22 m.w.N.; BVerwG, Urteil vom 15. Januar 1991 – 9 C 96/89 – juris Rdnr. 10; Oberverwaltungsgericht [OVG] Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 30. September 2004 – 4 K 20/03 – juris Rdnr. 9). Es geht dabei also nicht (allein) um die Frage, ob (noch) ein objektives Rechtsschutzbedürfnis vorliegt (vgl. BSG, Beschluss vom 19. Oktober 2016 – B 14 AS 105/16 B – juris Rdnr. 9 f.). Die Berufungsrücknahmefiktion kann auch dann greifen, wenn zweifelsohne eine Belastung des Berufungsklägers vorliegt, sich aus seinem Verhalten jedoch schließen lässt, dass er kein Interesse (mehr) an der gerichtlichen Durchsetzung ihrer Beseitigung hat (Urteil des Senats vom 19. April 2018 – L 7 AY 4220/17 – juris Rdnr. 20). Auf die Gründe dieses fehlenden Interesses kommt es dabei nicht an; es kann beispielsweise auf den als gering erkannten Erfolgsaussichten beruhen (vgl. BSG, Beschluss vom 19. Oktober 2016 – B 14 AS 105/16 B – juris Rdnr. 10) oder auf einer Aufwand-Nutzen-Abwägung (Urteil des Senats vom 19. April 2018 – L 7 AY 4220/17 – juris Rdnr. 20). Die Rücknahmefiktion ist aber kein Hilfsmittel zur bequemen Erledigung lästiger Verfahren oder zur vorsorglichen Sanktionierung prozessleitender Verfügungen (zur Klagerücknahmefiktion BVerwG, Beschluss vom 5. Juli 2000 – 8 B 119/00 – juris Rdnr. 3 m.w.N.; BVerwG, Beschluss vom 12. April 2001 – 8 B 2/01 – juris Rdnr. 5).
12 
Der Gesetzgeber hat mit der ausdrücklichen Verankerung der Berufungsrücknahmefiktion in § 156 Abs. 2 SGG auf ein Urteil des BSG reagiert, wonach die Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 SGG nicht im Berufungsverfahren im Sinne einer Berufungsrücknahmefiktion angewendet werden darf (BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 – B 13 R 58/09 R – juris Rdnr. 16 ff.). Die Regelung soll der Verfahrensbeschleunigung dienen und damit zur Entlastung der Landessozialgerichte beitragen (Begründung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung, Bundestags-Drucksache 17/6764, S. 27).
13 
Die Berufungsrücknahmefiktion des § 156 Abs. 2 SGG hat ihr Vorbild damit in der Klagerücknahmefiktion des § 102 Abs. 2 SGG, die wiederum an die seit 1997 geltenden Regelungen des § 92 Abs. 2 VwGO und § 126 Abs. 2 VwGO anknüpft, die ihrerseits ihren Vorläufer in § 81 Asylverfahrensgesetz (AsylVfG) (jetzt Asylgesetz [AsylG]) haben. Daran und an der dazu ergangenen verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung hat sich der Gesetzgeber bei der Einführung der Klagerücknahmefiktion in das sozialgerichtliche Verfahren orientiert (Begründung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung, Bundestags-Drucksache 16/7716, S. 27), so dass hieran für die Auslegung auch der Berufungsrücknahmefiktion angeknüpft werden kann (Urteil des Senats vom 19. April 2018 – L 7 AY 4220/17 – juris Rdnr. 22).
14 
2. Die Voraussetzungen der Berufungsrücknahmefiktion lagen hier vor.
15 
a) Die Berufungsrücknahmefiktion setzt zunächst voraus, dass die Dreimonatsfrist durch eine gerichtliche Betreibensaufforderung in Gang gesetzt worden ist.
16 
aa) Zum Zeitpunkt der Betreibensaufforderung müssen bestimmte, sachlich begründete Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses des Berufungsklägers bestehen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. Mai 1993 – 2 BvR 1972/92 – juris Rdnr. 14; BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 – B 13 R 58/09 R – juris Rdnr. 46; BVerwG, Beschluss vom 5. Juli 2000 – 8 B 119/00 – juris Rdnr. 3; BVerwG, Beschluss vom 12. April 2001 – 8 B 2/01 – juris Rdnr. 5; BVerwG, Beschluss vom 7. Juli 2005 – 10 BN 1/05 – juris Rdnr. 4; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 30. September 2004 – 4 K 20/03 – juris Rdnr. 10). Anhaltspunkte für einen Wegfall des Rechtsschutzinteresses können sich etwa aus dem fallbezogenen Verhalten des Berufungsklägers oder der Verletzung prozessualer Mitwirkungspflichten ergeben (zur Klagerücknahmefiktion BVerwG Beschluss vom 5. Juli 2000 – 8 B 119/00 – juris Rdnr. 3; BVerwG, Beschluss vom 12. April 2001 – 8 B 2/01 –juris Rdnr. 5; BVerwG, Beschluss vom 7. Juli 2005 – 10 BN 1/05 – juris Rdnr. 4). Nicht geboten ist ein sicherer, über begründete Zweifel am Fortbestand des Rechtsschutzinteresses hinausgehender Schluss (zur Klagerücknahmefiktion BVerwG, Beschluss vom 7. Juli 2005 – 10 BN 1/05 – juris Rdnr. 4). Soweit das BVerfG einen solch sicheren Schluss verlangt hat, um daraus prozessuale Konsequenzen zu ziehen (BVerfG, Beschluss vom 27. Oktober 1998 – 2 BvR 2662/95 – juris Rdnr. 19), betraf dies nur den Fall, dass der Betroffene nicht auf die Zweifel am Fortbestand seines Rechtsschutzbedürfnisses hingewiesen und ihm keine Gelegenheit gegeben worden war, sie auszuräumen (darauf weist auch BVerwG, Beschluss vom 7. Juli 2005 – 10 BN 1/05 – juris Rdnr. 4 hin); dies betraf zudem eine Konstellation, in der die Klage als unzulässig abgewiesen, also gar nicht im Anwendungsbereich der Klage- oder Berufungsrücknahmefiktion agiert wurde.
17 
Unter anderem kann die Nichtvorlage einer Berufungsbegründung zum Anlass und die Aufforderung zur Vorlage einer solchen zum Gegenstand einer Betreibensaufforderung gemacht werden (Urteil des Senats vom 19. April 2018 – L 7 AY 4220/17 – juris Rdnr. 26; Landessozialgericht [LSG] Baden-Württemberg, Beschluss vom 20. Juli 2015 – L 4 R 4499/14 – n.v.); dies steht nicht im Widerspruch dazu, dass eine Berufungsbegründung nicht Zulässigkeitsvoraussetzung einer Berufung ist (vgl. zur Klagerücknahmefiktion BVerwG, Beschluss vom 5. Juli 2000 – 8 B 119/00 – juris Rdnr. 4; BVerwG, Beschluss vom 12. April 2001 – 8 B 2/01 – juris Rdnr. 6; BVerwG, Urteil vom 15. Januar 1991 – 9 C 96/89 – juris Rdnr. 11; OVG Thüringen, Beschluss vom 14. November 1995 – 3 ZO 429/95 – juris Rdnr. 11; Verwaltungsgerichtshof [VGH] Baden-Württemberg, Beschluss vom 25. Oktober 1999 – 6 S 1870/99 – juris Rdnr. 4; OVG Sachsen-Anhalt, Urteil vom 13. Oktober 2005 – 1 L 40/05 – juris Rdnr. 25). Von § 151 Abs. 3 SGG, der bestimmt, dass die Berufungsschrift das angefochtene Urteil bezeichnen, einen bestimmten Antrag enthalten und die zur Begründung dienenden Tatsachen und Beweismittel angeben soll, wird die Frage, ob eine fehlende Berufungsbegründung Anlass für eine Betreibensaufforderung sein kann, nicht beantwortet. § 151 Abs. 3 SGG verhält sich nur zur Zulässigkeit der Berufungseinlegung, macht also die Vorlage einer Berufungsbegründung (während der Berufungsfrist) – anders als § 124a Abs. 3 VwGO – nicht zur Voraussetzung einer zulässigen Berufungserhebung, schließt aber den späteren Wegfall des Rechtsschutzinteresses, auf dem das Instrument der Berufungsrücknahmefiktion beruht (Urteil des Senats vom 19. April 2018 – L 7 AY 4220/17 – juris Rdnr. 26; zur Klagerücknahmefiktion BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 – B 13 R 58/09 R – juris Rdnr. 15; BVerwG, Urteil vom 23. April 1985 – 9 C 48/84 – juris Rdnr. 22; BVerwG, Urteil vom 15. Januar 1991 – 9 C 96/89 – juris Rdnr. 11), als einer Sachurteilsvoraussetzung nicht aus (BVerwG, Urteil vom 15. Januar 1991 – 9 C 96/89 – juris Rdnr. 11; vgl. auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 25. Oktober 1999 – 6 S 1870/99 – juris Rdnr. 4).
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Daher kann sich die Auffassung, dass eine fehlende Berufungsbegründung als solche die Anwendung des § 156 Abs. 2 SGG generell nicht ermögliche, nicht auf § 151 Abs. 3 SGG stützen (Urteil des Senats vom 19. April 2018 – L 7 AY 4220/17 – juris Rdnr. 27; a.A. im Rahmen der Klagerücknahmefiktion mit Hinweis auf § 92 SGG etwa LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25. Mai 2016 – L 27 R 240/16 – juris Rdnr. 15; wie hier hingegen zur Klagerücknahmefiktion Clausing in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 92 Rdnr. 46 [Oktober 2014]; Hintz in BeckOK, § 102 Rdnr. 3a [53. Edition Juni 2019]; Herold-Tews/Merkel, Der Sozialgerichtsprozess, 7. Aufl. 2017, Rdnr. 322a). Entscheidend ist vielmehr der Einzelfall.
19 
In diesem Sinne hat das BSG inzwischen entschieden, dass es Anlass für eine Betreibensaufforderung sein kann, wenn mangels Klage- bzw. Berufungsbegründung nicht ersichtlich ist, warum der Kläger eine gerichtliche Überprüfung eines Bescheides begehrt (BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 – B 13 R 58/09 R – juris Rdnr. 47). Dies entspricht auch der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte zu § 92 Abs. 2 VwGO, nach der unter Umständen die Nichtvorlage einer Klagebegründung Anlass für eine Betreibensaufforderung sein kann (BVerwG, Urteil vom 15. Januar 1991 – 9 C 96/89 – juris Rdnr. 11; BVerwG, Beschluss vom 5. Juli 2000 – 8 B 119/00 – juris Rdnr. 4; BVerwG, Beschluss vom 12. April 2001 – 8 B 2/01 – juris Rdnr. 6; BVerwG, Beschluss vom 18. September 2002 – 1 B 103/02 – juris Rdnr. 7; OVG Thüringen, Beschluss vom 14. November 1995 – 3 ZO 429/95 – juris Rdnr. 11; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 25. Oktober 1999 – 6 S 1870/99 – juris Rdnr. 4). Auch das BVerfG hat die Aufforderung der Verwaltungsgerichte, eine Klage bzw. eine Berufung zu begründen, als einen zulässigen Inhalt einer Betreibensaufforderung erachtet (BVerfG, Beschluss vom 15. August 1984 – 2 BvR 357/84 – BayVBl. 1984, 658 [659]; BVerfG, Beschluss vom 7. August 1984 – 2 BvR 187/84 – NVwZ 1985, 33 [34]). Die fehlende Vorlage einer Berufungsbegründung kann insbesondere dann Anlass für eine Betreibensaufforderung sein, wenn die Berufungsbegründung trotz Ankündigung (zur Klagerücknahmefiktion BVerwG, Urteil vom 15. Januar 1991 – 9 C 96/89 – juris Rdnr. 11; OVG Thüringen, Beschluss vom 14. November 1995 – 3 ZO 429/95 – juris Rdnr. 11; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 25. Oktober 1999 – 6 S 1870/99 – juris Rdnr. 4) oder trotz Fristsetzung nicht vorgelegt wird (zur Klagerücknahmefiktion BVerwG, Beschluss vom 18. September 2002 – 1 B 103/02 – juris Rdnr. 7; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 25. Oktober 1999 – 6 S 1870/99 – juris Rdnr. 4).
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bb) Diese Voraussetzungen für eine Betreibensaufforderung lagen vor.
21 
Der Kläger hat am 25. Februar 2019 beim SG sinngemäß Berufung eingelegt, die „Verlegung“ der Sache an ein Gericht in Baden beantragt und eine inhaltliche Begründung für einen späteren Zeitpunkt angekündigt. Mit der Berufungseingangsbestätigung vom 7. März 2019 ist der Kläger gebeten worden, die Berufung binnen vier Wochen zu begründen. Er hat darauf mit Schreiben vom 31. März 2019 reagiert und seine Erwartung zum Ausdruck gebracht, dass vor einem badischen Gerichtsstand unter Vorsitz nicht württembergischer Beteiligter verhandelt werde. Die Berufung werde begründet, wenn der „Adressat“ – gemeint: ein badisches Gericht – vorliege. Der Berichterstatter hat den Kläger sodann mit Schreiben vom 2. April 2019 darüber informiert, dass für Berufungen gegen Entscheidungen der Sozialgerichte in Baden-Württemberg ausschließlich das Landessozialgericht Baden-Württemberg mit Sitz in Stuttgart zuständig sei und um Mitteilung gebeten, ob er vor diesem Hintergrund das Berufungsverfahren fortführen möchte; sollte dies der Fall sein, solle er seine Begründung bis zum 18. April 2019 vorlegen. Hierauf hat der Kläger nicht reagiert.
22 
Die fehlende Reaktion des Klägers auf das Schreiben des Berichterstatters vom 2. April 2019 hat, nicht zuletzt auch in Zusammenschau mit den vorangegangenen Äußerungen, erheblichen Anlass zu Zweifeln daran gegeben, ob der Kläger für die Berufung ein Rechtsschutzinteresse hat. Er hat seine Berufung trotz Ankündigung, Aufforderung und Fristsetzung nicht begründet. Dass er die Vorlage einer Berufungsbegründung davon abhängig gemacht hat, dass die Sache an einem badischen Gericht verhandelt werde, deutete spätestens nach dem Hinweis des Berichterstatters auf die alleinige Zuständigkeit des Landessozialgerichts Baden-Württemberg mit Sitz in Stuttgart für Berufungen gegen Urteile baden-württembergischer Sozialgerichte, aufgrund dessen sich der Kläger nicht mehr auf Unwissenheit berufen konnte, auf mangelnde Ernstlichkeit der Rechtsverfolgung hin. Dem entsprach seine fehlende Reaktion auf das Schreiben des Berichterstatters vom 2. April 2019.
23 
cc) Die Betreibensaufforderung vom 25. April 2019 genügte auch den an sie zu stellenden inhaltlichen Anforderungen.
24 
(1) Die Betreibensaufforderung muss den Anlass hierfür benennen und deutlich machen, welche Schritte erforderlich sind, um die Zweifel am Fortbestand des Rechtsschutzinteresses zu beseitigen. Der Berufungskläger ist in der Betreibensaufforderung zudem auf die Rechtsfolge der fingierten Berufungsrücknahme im Falle des Nichtbetreibens und in gerichtskostenpflichtigen Verfahren auch auf die sich aus § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 155 Abs. 2 VwGO ergebende Folge, dass er die Kosten des Verfahrens zu tragen hat, hinzuweisen. Die Betreibensaufforderung muss konkret und klar sein (BSG, Urteil vom 4. April 2017 – B 4 AS 2/16 R – juris Rdnr. 24; Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 102 Rdnr. 8c).
25 
Ob eine Betreibensaufforderung erfolgt, steht im Ermessen des Gerichts (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 25. Oktober 1999 – 6 S 1870/99 – juris Rdnr. 5). Die Ermessenserwägungen müssen jedoch – anders als bei Ausübung materiellen Ermessens in Verwaltungsakten – ebenso wie behördliches Verfahrensermessen (vgl. LSG Baden-Württemberg, Beschluss vom 23. Juni 2015 – L 4 R 3235/14 – juris Rdnr. 26) nicht in der Betreibensaufforderung dokumentiert sein (Urteil des Senats vom 19. April 2018 – L 7 AY 4220/17 – juris Rdnr. 32).
26 
(2) Diesen Anforderungen genügte die Betreibensaufforderung vom 25. April 2019. Sie benannte den Anlass (die fehlende Berufungsbegründung und die Äußerung vor dem SG, eine medizinische Rehabilitationsmaßnahme gar nicht mehr antreten zu wollen), forderte zur Benennung des Ziel des Berufung und zur Vorlage einer substantiierten Berufungsbegründung auf und wies auf die Rechtsfolgen (nämlich die Berufungsrücknahmefiktion) im Fall der nicht substantiierten Beantwortung der Anfrage innerhalb der Frist von drei Monaten nach Zugang des Schreibens hin. Eines Hinweises auf eine Kostenfolge bedurfte es nicht, da es sich nicht um ein nach § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG kostenpflichtiges Verfahren handelt (vgl. Schmidt in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 102 Rdnr. 8c).
27 
dd) Die Betreibensaufforderung genügte auch den Formerfordernissen.
28 
Die Betreibensaufforderung kann mit formlosem Schreiben erfolgen, muss also nicht als Beschluss ergehen (BVerwG, Urteil vom 23. April 1985 – 9 C 48/84 – juris Rdnr. 18; BVerwG, Urteil vom 15. Januar 1991 – 9 C 96/89 – juris Rdnr. 14). Sie kann auch durch den Vorsitzenden allein oder den Berichterstatter erfolgen (Urteil des Senats vom 19. April 2018 – L 7 AY 4220/17 – juris Rdnr. 35; Binder in Lüdtke/Berchtold, SGG, 5. Aufl. 2017, § 156 Rdnr. 13; zu § 33 Abs. 1 AsylG BVerwG, Urteil vom 23. April 1985 – 9 C 48/84 – juris Rdnr. 18). Ob sie mit vollem Nachnamen unterzeichnet werden muss (so BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 – B 13 R 58/09 R – juris Rdnr. 49; BSG, Beschluss vom 19. Oktober 2016 – B 14 AS 105/16 B – juris Rdnr. 6; LSG Bayern, Urteil vom 13. Juli 2016 – L 6 R 149/16 – juris Rdnr. 13) oder ob eine Paraphe genügt, kann dahinstehen, da im vorliegenden Fall der Berichterstatter die Betreibensaufforderung mit vollem Nachnamen unterzeichnet hat.
29 
ee) Die Betreibensaufforderung setzt eine gesetzliche Frist in Gang und ist daher gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 SGG zuzustellen (BSG, Urteil vom 1. Juli 2010 – B 13 R 58/09 R – juris Rdnr. 49; zu § 33 Abs. 1 AsylVfG BVerwG, Urteil vom 23. April 1985 – 9 C 48/84 – juris Rdnr. 19).
30 
Dies ist hier geschehen. Die Betreibensaufforderung ist dem Kläger mit Postzustellungsurkunde am 30. April 2019 zugestellt worden. Die Dreimonatsfrist endete mithin gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 SGG mit Ablauf des 30. Juli 2019 (vgl. BSG, Urteil vom 27. Mai 2008 – B 2 U 5/07 R – juris Rdnr. 12; Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer/Schmidt, SGG, 12. Aufl. 2017, § 64 Rdnr. 5; Senger in jurisPK-SGG, 2017, § 64 Rdnr. 32). Hierbei handelte es sich um einen Mittwoch, der kein gesetzlicher Feiertag war.
31 
b) Der Kläger hat das Verfahren binnen der durch die Betreibensaufforderung in Gang gesetzten Frist nicht betrieben.
32 
aa) Ob das weitere Verhalten des Berufungsklägers nach der Betreibensaufforderung als Betreiben zu qualifizieren ist, ist anhand der Umstände des Einzelfalles zu beurteilen (BVerwG, Beschluss vom 7. Juli 2005 – 10 BN 1/05 – juris Rdnr. 7; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 30. September 2004 – 4 K 20/03 – juris Rdnr. 12). Den Maßstab bildet insofern insbesondere die Betreibensaufforderung selbst (BVerwG, Beschluss vom 7. Juli 2005 – 10 BN 1/05 – juris Rdnr. 7; OVG Mecklenburg-Vorpommern, Beschluss vom 30. September 2004 – 4 K 20/03 – juris Rdnr. 12). Je konkreter die Betreibensaufforderung war, desto konkreter muss der Berufungskläger vortragen (Urteil des Senats vom 19. April 2018 – L 7 AY 4220/17 – juris Rdnr. 39). Schweigen stellt nie Betreiben dar (VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 25. Oktober 1999 – 6 S 1870/99 – juris Rdnr. 5).
33 
bb) Nach diesen Maßstäben hat der Kläger das Verfahren nicht betrieben. Der Kläger hat lediglich mit Schreiben vom 12. Juni 2019 mitgeteilt, dass die detaillierte Begründung in der Sache erfolgen werde, wenn ein badischer Gerichtsstand mitgeteilt werde. Bislang sei kein badischer Gerichtsort mitgeteilt worden. Aufgrund der Erfahrungen vor dem SG könne keine freie, neutrale Verhandlung auf württembergischen Grund erwartet werden.
34 
Damit ist er der Aufforderung in der Betreibensaufforderung, eine Berufungsbegründung vorzulegen, nicht nachgekommen. Er hat entgegen der Aufforderung nicht einmal das – jedenfalls seit der Äußerung vor dem SG, keine Rehabilitationsmaßnahme mehr antreten zu wollen – unklare Ziel seiner Berufung benannt, sondern lediglich nur seine rational nicht nachvollziehbare Forderung nach einem badischen Gerichtsstand mitgeteilt. Sein gesamtes Verhalten seit Berufungseinlegung erschöpft sich offenbar in dem Wunsch, mit dem Gericht einen „Jux“ zu treiben. Ein – auch vor dem Hintergrund des Art. 19 Abs. 4 GG – schützenswertes Rechtsschutzinteresse ist damit nicht erkennbar.
35 
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 177 SGG).

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