Beschluss vom Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (10. Senat) - L 10 SF 8/19 EK AS

Tenor

Der Beklagte wird verurteilt, an den Kläger 4.300,00 € nebst Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit dem 22. Mai 2019 zu zahlen.

Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Die Kosten des Verfahrens haben der Beklagte zu 4/5 und der Kläger zu 1/5 zu tragen.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Der Streitwert wird auf 5.000,00 € festgesetzt.

Tatbestand

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Der Kläger begehrt eine Entschädigung für immaterielle Nachteile wegen der unangemessenen Dauer eines vor dem Sozialgericht (SG) Hildesheim unter dem Az.: S 23 AS 1966/09 geführten Klageverfahrens sowie eines vor dem Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen unter dem Az. L 9 AS 29/14 geführten Berufungsverfahrens.

2

Der Kläger und seine drei Söhne erhoben am 26. Oktober 2009 Klage beim SG Hildesheim mit dem Ziel der Bewilligung höherer Leistungen der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach dem SGB II für den Zeitraum vom 1. September 2009 bis zum 28. Februar 2010. Streitig waren insbesondere die Gewährung der tatsächlichen Kosten der Unterkunft, die Anrechnung des Kindergeldes, der Abzug des Warmwasseranteils sowie die Höhe der Regelleistungen. Im Dezember 2009 gingen beim SG die Klageerwiderung des Landkreises Göttingen sowie sieben klägerische Schriftsätze mit weiterem Sachvortrag ein. Bis einschließlich Juni 2010 erfolgte weiterer umfangreicher Sachvortrag der Beteiligten, insbesondere des Klägers. Im Juni 2010 gingen ein umfangreicher Schriftsatz des Landkreises Göttingen sowie die Replik des Klägers ein. Im Juli 2010 übersandte der Landkreis Göttingen dem Gericht seinen ergänzenden Verwaltungsvorgang. Im August 2010 wies das SG die Beteiligten darauf hin, dass es beabsichtige, die Gerichts- und Verwaltungsakten eines anderen beim SG anhängigen Verfahrens des Klägers vorübergehend beizuziehen und bat die Beteiligten um Mitteilung, ob diesbezüglich Bedenken bestünden. Die Antwort des Klägers ging noch im selben Monat bei Gericht ein. Im Oktober 2010 ergänzte der Landkreis Göttingen erneut seinen Verwaltungsvorgang. Im Januar und Februar 2011 erfolgte ergänzender Sachvortrag des Klägers. Im März 2011 übersandte der Landkreis Göttingen wiederum seinen aktualisierten Verwaltungsvorgang. Mit Schriftsatz vom 11. April 2011 machte der Kläger fehlende Rentenversicherungsbeiträge zum weiteren Klagegegenstand und nahm dieses Begehren mit Schriftsatz vom 23. Mai 2011 wieder zurück. Im Juni, Juli und August 2011 übersandte der Landkreis Göttingen jeweils erneut Aktualisierungen seines Verwaltungsvorgangs. Im September 2011 wies das Gericht den Landkreis Göttingen darauf hin, dass dessen Verwaltungsakten immer noch lückenhaft seien und forderte von diesem die fehlenden Aktenbestandteile an. Der Landkreis Göttingen übersandte im selben Monat Ergänzungen seiner Verwaltungsakte. Mit Schriftsatz vom 30. Dezember 2011 erhob der Kläger erstmals Verzögerungsrüge. Im Januar 2012 übersandte der Kläger eine Vollmacht aufgrund der inzwischen eingetretenen Volljährigkeit eines seiner Söhne. Mit Verfügung vom 13. Februar 2012 bat das Gericht den Landkreis Göttingen um Mitteilung, bei welchem Verfahren sich die streitgegenständlichen Verwaltungsakten befänden, woraufhin der Landkreis Göttingen im März 2012 mitteilte, dass sich sämtliche Verwaltungsakten bei dem Verfahren zum Aktenzeichen S 54 AS 1234/10 befänden. Im April und Juli 2012 erfolgte weiterer Sachvortrag des Klägers (Schriftsätze vom 2. April und 9. Juli 2012). Am 5. September 2012 ging beim SG der Schriftsatz des Landkreises Göttingen vom 24. August 2012 ein, in dem der Landkreis den Kläger u.a. um Mitteilung bat, ob der Stromverbrauch für die Heizungspumpe mittels eines gesonderten Zählers erfasst werde. Mit Schriftsatz vom 6. Oktober 2012 erhob der Kläger erneut Verzögerungsrüge und erwiderte mit Schriftsatz vom 15. Oktober 2012 unter Vorlage von Jahresverbrauchsabrechnungen der Stadtwerke für den streitigen Zeitraum auf den Schriftsatz des Landkreises Göttingen vom 24. August 2012. Im April 2013 rügte der Kläger abermals die Dauer des Verfahrens. Mit Schriftsatz vom 25. Juni 2013 erfolgte weiterer Sachvortrag des Klägers. Im August 2013 forderte das SG vom Kläger eine Vollmacht der Kindesmutter an, welche der Kläger noch im selben Monat übersandte. Im September 2013 trug der Kläger weiter ergänzend zur Sache vor. Im Oktober erfolgte die Ladung zur mündlichen Verhandlung für den 28. November 2013. Am 28. November 2013 wurde nach mündlicher Verhandlung das Urteil verkündet mit dem Ergebnis eines teilweisen Obsiegens des Klägers. Das Urteil wurde den Beteiligten im Januar 2014 zugestellt. Im selben Monat legte der Kläger beim LSG Niedersachsen-Bremen Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil des SG Hildesheim ein. Im März 2014 ging beim LSG die kurze Berufungserwiderung des Landkreises Göttingen ein, in welcher dieser zur Begründung lediglich auf seinen erstinstanzlichen Vortrag sowie das angegriffene Urteil verwies. In der Folgezeit bis einschließlich März 2018 rügte der Kläger insgesamt sieben Mal gegenüber dem LSG die Dauer des Verfahrens, nämlich mit Schriftsätzen vom 2. Februar 2015, 3. August 2015, 4. Februar 2016, 5. August 2016, 6. Februar 2017, 7. August 2017 und 8. Februar 2018. Im Übrigen übersandte der Landkreis Göttingen nahezu monatlich Aktualisierungen seiner Verwaltungsakte. Im April 2018 erfolgte eine gerichtliche Hinweisverfügung, auf die der Kläger im selben Monat antwortete und im Übrigen mit Schriftsatz vom 26. April 2018 ergänzend zum Rechtsstreit vortrug. Auch im Mai und Juni 2018 folgte mit den Schriftsätzen vom 7. und 22. Mai sowie 14. Juni 2018 ergänzender umfangreicher Sachvortrag des Klägers. Mit Schriftsatz vom 9. August 2018 erhob der Kläger abermals Verzögerungsrüge. Im September 2018 übersandte der Kläger aufgrund der inzwischen eingetretenen Volljährigkeit eines seiner Söhne eine Vollmacht zum Gericht. Im September 2018 folgte ergänzender Sachvortrag des Klägers sowie eine Anfrage des Gerichts an die Beteiligten, ob sie mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden seien. Nachdem im Oktober 2018 die Einverständniserklärungen der Beteiligten sowie weitere Schriftsätze eingegangen waren, erließ das LSG am 30. Oktober 2018 das Urteil ohne mündliche Verhandlung, in dem es der Berufung des Klägers teilweise stattgab. Das Urteil wurde den Beteiligten im November 2018 zugestellt.

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Der Kläger hat am 11. März 2019 Klage auf Entschädigung wegen unangemessener Dauer des beim SG Hildesheim unter dem Az.: S 23 AS 1966/09 geführten Klage- und beim LSG Niedersachsen-Bremen unter dem Az.: L 9 AS 29/14 geführten Berufungsverfahrens erhoben. Er trägt vor, das Ausgangsverfahren sei ohne ersichtlichen Grund in einem Zeitraum von insgesamt 74 Monaten, konkret in den Monaten September bis Dezember 2010, März, Juni, Juli, September, Oktober und November 2011 sowie Februar, März, Mai, Juni, September, November und Dezember 2012, Januar bis März sowie Mai, Juli und September 2013, Februar sowie April bis Dezember 2014, Januar bis Dezember 2015, Januar bis Dezember 2016, Januar bis Dezember 2017 sowie in den Monaten Januar bis März, Juli und August 2018, nicht gefördert worden, so dass sich nach Abzug der nach der Rechtsprechung des BSG einzuräumenden Vorbereitungs- und Bedenkzeit von 12 Monaten pro Instanz eine überlange Verfahrensdauer von 50 Monaten ergebe, mithin ein Entschädigungsanspruch in Höhe von 5.000,00 €. Das Verfahren sei für ihn von erheblicher Bedeutung gewesen, da nicht nur existenzsichernde Leistungen, sondern insbesondere die Übernahme der tatsächlichen Kosten der Unterkunft im Streit gestanden habe. Aufgrund der unangemessenen Dauer der gerichtlichen Verfahren sei es Ende 2013 zu einem Räumungsurteil gegen ihn gekommen. Nur mit Mühe sei es ihm gelungen, im Januar 2014 für sich und seine Kinder eine neue Wohnung zu finden. Im Übrigen habe durch das lange Liegenlassen der Klageverfahren für ihn die Notwendigkeit bestanden, jeden Bewilligungszeitraum erneut zu beklagen. Auch habe es sich nicht um ein erkennbar aussichtsloses Verfahren gehandelt, wie sich schon aus seinem teilweisen Obsiegen in beiden Instanzen ergebe.

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Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen,

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den Beklagten zu verurteilen, ihm 5.000,00 € zuzüglich Zinsen in Höhe von 5 %-Punkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

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Der Beklagte beantragt nach seinem schriftsätzlichen Vorbringen,

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die Klage abzuweisen.

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Er ist der Auffassung, für das erstinstanzliche Verfahren ließen sich Zeiten fehlender Verfahrensförderung in einem Umfang von 11 Monaten feststellen, nämlich in den Zeiträumen Januar bis März, Juni und Dezember 2012 sowie von Januar bis Mai und im August 2013. Damit sei der regelmäßig einzuräumende Vorbereitungs- und Bedenkzeitraum von 12 Monaten nicht überschritten worden, so dass das erstinstanzliche Verfahren nicht von unangemessener Dauer gewesen sei. Für das zweitinstanzliche Verfahren ließen sich Zeiträume der fehlenden Verfahrensförderung von insgesamt 48 Monaten feststellen, konkret von April 2014 bis März 2018. Abzüglich der für beide Instanzen jeweils zuzugestehenden Vorbereitungs- und Bedenkzeit von 12 Monaten ergebe sich somit ein entschädigungspflichtiger Zeitraum von maximal 35 Monaten. Allerdings habe dem Verfahren aufgrund der Vielzahl von Klage- und Beweisanträgen sowie den immer wieder nachgeschobenen Klagebegehren und –begründungen ein insgesamt deutlich überdurchschnittlich umfangreicher, unübersichtlicher und komplizierter Sachverhalt zugrunde gelegen, der eine längere Vorbereitungs- und Bedenkzeit rechtfertige. Dies gelte auch vor dem Hintergrund, dass es sich hinsichtlich der Ermittlungen der angemessenen Kosten der Unterkunft um schwierige Rechtsfragen gehandelt habe.

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Ferner fehle es an einer erkennbaren besonderen Belastung des Klägers durch die Dauer der streitgegenständlichen Verfahren. Der Kläger habe seit 2005 bis Juni 2013 mehr als 80 erstinstanzliche Klageverfahren angestrengt, wobei die zahlreichen daran anschließenden weiteren Verfahren, wie z.B. Berufungs- und Beschwerdeverfahren noch nicht mitgezählt seien. Zudem bereite der Kläger alle seine Verfahren umfassend auf seiner Internetpräsenz auf und versehe diese mit ergänzenden Kommentaren, Verweisungen etc. Damit stelle erkennbar das Führen, Kommentieren und Darstellen von Rechtsstreitigkeiten einen Schwerpunkt der Beschäftigung des Klägers dar. Diese Tätigkeit als Vielkläger könne aber keine entschädigungspflichtige Belastung begründen.

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Im Übrigen sei ein etwaiger Entschädigungsanspruch jedenfalls gemäß § 33 Abs. 1 Satz 1 SGB II auf den Grundsicherungsträger übergegangen, da der Kläger nach seinem eigenen Vortrag bis zum Jahresbeginn 2019 und damit während der gesamten Dauer des Ausgangsverfahrens im Bezug von Grundsicherungsleistungen nach dem SGB II gestanden habe.

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Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Rechtsstreits durch den Senat ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die beigezogene Gerichtsakte des Ausgangsverfahrens S 23 AS 1966/09 bzw. L 9 AS 29/14 Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der Entscheidung gewesen.

Entscheidungsgründe

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Die Entscheidung ergeht mit Einverständnis der Beteiligten in Anwendung von § 124 Abs. 2 SGG durch den Senat ohne mündliche Verhandlung.

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Die Klage ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang auch begründet. Im Übrigen ist sie unbegründet.

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Der Kläger ist aktivlegitimiert.

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Obwohl er während der gesamten Dauer des Ausgangsverfahrens im laufenden Bezug von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II gestanden hat, steht seiner Aktivlegitimation die Vorschrift des § 33 Abs. 1 SGB II nach der ständigen Rechtsprechung des Senats (vgl. Urteil des Senats vom 10. August 2017, L 10 SF 10/17 EK U veröffentlicht in juris und in info also 2017, 276 ff; Beschluss vom 17. März 2017, L 10 SF 35/16 EK AS veröffentlicht in juris; zustimmend Schweigler in SGb 2017, 314 ff; Beschluss vom 29. April 2016, L 10 SF 22/15 EK AS veröffentlicht in juris m. Anm. von Wersig in info also 2017, 126; zustimmend auch Schmidt in jurisPK SGB XII, Hrsg. Coseriu/Siefert, Stand 1. Februar 2020 Rn. 14 zu § 83 SGB XII ausdrücklich auch in Bezug auf § 11 a Abs. 3 Satz 1 SGB II), die auch nach erneuter Überprüfung aufrecht erhalten wird, nicht entgegen (die Aktivlegitimation im Ergebnis ebenfalls bejahend: Sächsisches LSG, Urteil vom 29. März 2017, L 11 SF 17/16 EK, juris, Rn. 29; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 25. Januar 2018, L 37 SF 69/17 EK AS veröffentlicht in juris; Urteil vom 24. Januar 2019; L 37 SF 102/18 EK AS WA veröffentlicht in juris dort Rn. 36 – auch insoweit nicht beanstandet im Revisionsurteil des BSG vom 27. März 2020, B 10 ÜG 4/19 R veröffentlicht in juris; sowie LSG Saarland, Urteil vom 21. März 2018, L 2 SF 4/17 EK AS, juris, Rn. 21, jeweils mit der Begründung, dass § 198 Abs. 5 Satz 3 GVG den Anspruchsübergang bis zur rechtskräftigen Zuerkennung der Entschädigung wegen überlanger Verfahrensdauer ausschließe - insoweit wäre indessen tiefergehend zu prüfen, wann die Fälligkeit eines Entschädigungsanspruchs anzunehmen ist, vgl. insoweit offen gelassen in der bereits zitierten Senatsentscheidung vom 10. August 2017, L 10 SF 10/17 EK U in juris zu Rn 34 ff).

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Nach § 33 SGB II gehen zwar grundsätzlich Ansprüche, die Leistungsbezieher gegen einen Anderen haben, bis zur Höhe der geleisteten Aufwendungen auf den Leistungsträger über. Dies gilt aber nur, wenn die Leistungen bei rechtzeitiger Erfüllung des Anspruchs nicht erbracht worden wären. Für die Kausalität zwischen nicht rechtzeitiger Erfüllung des Anspruchs und einem etwa geminderten Grundsicherungsanspruch ist daher entscheidend, ob der Anspruch auf Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts auch bei Erfüllung des fraglichen Anspruchs fortbestanden hätte. Dies ist – wie hier - nicht der Fall, wenn das Einkommen in Anwendung der §§ 11 ff. SGB II nicht zur Sicherung des Lebensunterhalts eingesetzt werden musste (vgl. Grote-Seifert in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II § 33 Rn. 52).

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Leistungsbezieher nach dem SGB II sind in Anwendung von § 11 a Abs. 3 Satz 1 SGB II nicht verpflichtet, ihnen zustehende Entschädigungsleistungen aus der Anwendung von § 198 GVG zur Sicherung ihres Lebensunterhalts einzusetzen. Nach § 11 a Abs. 3 Satz 1 SGB II sind Leistungen, die aufgrund öffentlich-rechtlicher Vorschriften zu einem ausdrücklich genannten Zweck erbracht werden, nur soweit als Einkommen zu berücksichtigen, als die Leistungen nach dem SGB II im Einzelfall demselben Zweck dienen (vgl. auch die wörtlich identische Regelung in § 83 Abs. 1 SGB XII). Die hier streitigen Entschädigungsleistungen gemäß § 198 GVG sind im vorgenannten Sinne zweckbestimmt. Sie dienen anderen Zwecken als die zur Bestreitung des Lebensunterhalts des Klägers gewährten Leistungen nach dem SGB II.

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„Ausdrücklich genannt“ ist eine Zweckbestimmung im Sinne von § 11 a Abs. 3 Satz 1 SGB II, wenn sie sich eindeutig aus dem Gesetz herleiten lässt, wobei es auch ausreicht, wenn sich der Zweck aus der Gesetzesbegründung ergibt (vgl. die Rechtsprechung des BSG zur gleichlautenden Vorschrift des § 83 Abs. 1 SGB XII: BSG, Urteil vom 23. März 2010, B 8 SO 17/09 R, juris, Rn. 24, die ausdrücklich Vorbild für die Neuregelung in § 11 a Abs. 3 SGB II sein sollte; vgl. dazu auch Schmidt in jurisPK-SGB XII, Hrsg. Coseriu/Siefert, Stand 1. Februar 2020, Rn. 11 zu § 83). Der Verwendung des Wortes „Zweck“ im Gesetzestext bedarf es hierfür nicht. Der ausdrückliche Zweck kommt auch durch die Worte „zur Sicherung“, „zum Ausgleich“ oder Ähnlichem ausreichend deutlich zum Ausdruck (vgl. Söhngen, in: Schlegel/Voelzke, juris PK-SGB II, 5. Auflage 2020, § 11 a SGB II, Rn. 39; Hengelhaupt, in: Hauck/Noftz, § 11 a SGB II, Rn. 170; Striebinger in Gagel SGB II / SGB III, Rn. 21 zu § 11 a SGB II).

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Vorliegend ergibt sich die ausdrückliche Zweckbestimmung zunächst schon aus der im Gesetzestext des § 198 GVG verwendeten Formulierung der „Wiedergutmachung“ sowie außerdem aus der Gesetzesbegründung, wonach es sich um einen Anspruch „auf Ausgleich für Nachteile infolge rechtswidrigen hoheitlichen Verhaltens“ handelt (BT-Drucks. 17/3802, S. 19). Zwar soll es nach der Gesetzesbegründung zu § 11 a Abs. 3 Satz 1 SGB II an einer ausdrücklichen anderweitigen Zweckbestimmung fehlen, wenn der Leistungsbezieher weder rechtlich noch tatsächlich daran gehindert ist, die Leistung zur Deckung von Bedarfen nach dem SGB II einzusetzen (vgl. BT-Drucks. 17/3404, S. 94). Diese gesetzgeberischen Vorstellungen stehen jedoch im Widerspruch zur ständigen höchstrichterlichen Rechtsprechung zu § 83 Abs. 1 SGB XII, decken sich folglich nicht mit der vom Gesetzgeber beabsichtigten Harmonisierung beider Vorschriften und haben überdies in § 11 a Abs. 3 Satz 1 SGB II keinen hinreichenden normativen Ausdruck gefunden (vgl. Hengelhaupt in: Hauck/Noftz, § 11 a SGB II, Rn. 176). Mithin ist es für eine Zweckbestimmung im Sinne des § 11 a Abs. 3 Satz 1 SGB II nicht erforderlich, dass der Empfänger die andere Leistung nur zu dem in der Vorschrift vorgesehenen Zweck verwenden darf oder dass der Leistende ein Kontrollrecht oder einen Einfluss auf die Verwendung hat (vgl. Söhngen, in: Schlegel/Voelzke, juris PK-SGB II, 5. Auflage 2020, § 11 a SGB II, Rn. 41; Hengelhaupt, in: Hauck/Noftz, § 11 a SGB II, Rn. 176 m.w.N.; Schmidt in Eicher/Luik SGB II, 4. Aufl., § 11 a Rn. 20).

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Zweckbestimmt im Sinne des § 11 a Abs. 3 SGB II sind auch solche Leistungen, die aus einem bestimmten Anlass und in einer bestimmten Erwartung gegeben werden und die der Empfänger zwar im Allgemeinen für den bestimmten Zweck verwenden wird, ohne dass er dazu jedoch angehalten werden könnte (vgl. Söhngen, a.a.O., Rn. 41). Mithin kann der Zweckbestimmung von Entschädigungen nach § 198 GVG im Sinne von § 11 a Abs. 3 SGB II nicht entgegengehalten werden, der Empfänger der Entschädigung sei in deren Verwendung völlig frei (so aber: Sächsisches LSG, Urteil vom 29. März 2017, L 11 SF 17/16 EK, juris, Rn. 28; Söhngen, a.a.O., Rn. 51 - anders noch in der Vorauflage; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 26. November 2019, L 11 AS 1044/18, juris, Rn. 35; offengelassen in: LSG Saarland, Urteil vom 21. März 2018, L 2 SF 4/17 EK AS, juris, Rn. 21 und LSG Berlin-Brandenburg a.a.O.).

22

Nach dem ausdrücklichen Willen des Gesetzgebers soll die Entschädigung die „seelische Unbill“ durch die lange Verfahrensdauer ausgleichen (vgl. BT-Drucks. 17/3802, S. 19; auf diesen Aspekt weist auch Schmidt in jurisPK-SGB XII, Hrsg. Coseriu/Siefert, Stand 1. Februar 2020; Rn. 14 zu § 83 SGB XII hin). Eine derartige Steigerung der Lebensqualität durch im Wege der Entschädigung zukommendes Geld ist nur möglich, wenn dieses für Dinge oder Dienstleistungen verwendet wird, die nicht unmittelbar der Sicherung des Lebensunterhalts dienen. Zwar ist damit kein rechtlicher oder tatsächlicher Zwang verbunden, das Geld für den gesetzlich bestimmten Zweck und nicht zur Sicherung des Lebensunterhalts zu verwenden, dies ist jedoch - wie aufgezeigt - auch nicht erforderlich (vgl. dazu bereits ausführlich Senatsurteil vom 10. August 2017, L 10 SF 10/17 EK U, juris, Rn. 39 ff.).

23

Die vorstehende Auslegung von § 11 a Abs. 3 Satz 1 SGB II ist in Anknüpfung an und in Weiterführung der zitierten Rechtsprechung der Landessozialgerichte Sachsen, Saarland und Berlin-Brandenburg auch unter Berücksichtigung dessen geboten, dass deutsche Gerichte verpflichtet sind, bei der Auslegung von Gesetzen das Völkerrecht zur Kenntnis zu nehmen und zu berücksichtigen.

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§ 198 GVG dient der Umsetzung der menschenrechtlichen und grundgesetzlichen Verpflichtung (vgl. dazu unter anderem etwa den in Sachen des Klägers ergangenen Beschluss des BVerfG vom 27. September 2011, 1 BvR 232/11 = info also 2012, 28 ff m. Anm.) der Bundesrepublik Deutschland (BRD), wie sie mehrfach vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und dem BVerfG aus Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und aus Artikel 19 Abs. 4 GG abgeleitet worden ist. Der EGMR hat die BRD verpflichtet, ein wirksames System des Rechtsschutzes gegen überlange Gerichtsverfahren zu schaffen (vgl. kurz zusammenfassend unter Hinweis auf die Leitentscheidungen des EGMR Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, 6. Auflage, 10. Teil 1 a) = S. 461, die darauf hinweisen, dass die BRD bis 2011 über 100 Mal wegen überlanger Verfahrensdauer vom EGMR verurteilt worden ist).

25

Das BVerfG hat in seiner ständigen Rechtsprechung (vgl. zum Nachstehenden etwa Beschluss vom 14. Oktober 2004, 2 BvR 1481/04 = BVerfGE 111, 307 ff; Urteil vom 4. Mai 2011, 2 BvR 2333/08 u.a. = BVerfGE 128, 326 ff; = BVerfGE 148,296 ff) ausgeführt, die Gerichte der BRD seien verpflichtet, unter bestimmten Voraussetzungen die europäische Menschenrechtskonvention in der Auslegung durch den Gerichtshof bei ihrer Entscheidungsfindung zu berücksichtigen. Die EMRK gilt in der deutschen Rechtsordnung im Range eines Bundesgesetzes und ist bei der Interpretation des nationalen Rechts zu berücksichtigen. Die EMRK und ihre Zusatzprotokolle sind völkerrechtliche Verträge. Der Bundesgesetzgeber hat der EMRK und ihren Zusatzprotokollen jeweils mit förmlichen Gesetz in Anwendung von Art. 59 Abs. 2 Grundgesetz zugestimmt. Damit hat er sie in das deutsche Recht transformiert und einen entsprechenden Rechtsanwendungsbefehl erteilt. Innerhalb der deutschen Rechtsordnung stehen die EMRK und ihre Zusatzprotokolle im Range eines Bundesgesetzes. Diese Rangzuweisung führt dazu, dass deutsche Gerichte die Konvention wie anderes Gesetzesrecht im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung zu beachten und anzuwenden haben. Der Konventionstext und die Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dienen auf der Ebene des Verfassungsrechts als Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes. Das Grundgesetz hat die deutsche öffentliche Gewalt programmatisch auf die internationale Zusammenarbeit (Art. 24 Grundgesetz) und auf die europäische Integration (Art. 23 Grundgesetz) festgelegt. Das Grundgesetz hat den allgemeinen Regeln des Völkerrechts Vorrang vor dem einfachen Gesetzesrecht eingeräumt (Art. 25 Satz 2 Grundgesetz) und das Völkervertragsrecht durch Art. 59 Abs. 2 Grundgesetz in das System der Gewaltenteilung eingeordnet. Mit diesem Normkomplex zielt die deutsche Verfassung, auch ausweislich ihrer Präambel, darauf, die BRD als friedliches und gleichberechtigtes Glied in eine dem Frieden dienende Völkerrechtsordnung der Staatengemeinschaft einzufügen. Das Bundesverfassungsgericht hat in diesem Zusammenhang insbesondere wiederholt darauf hingewiesen, alle Träger hoheitlicher Gewalt seien an die Gewährleistungen der Konvention gebunden. Danach unterlägen auch die deutschen Gerichte einer Pflicht zur Berücksichtigung der Entscheidungen des EGMR (vergleiche Beschluss vom 14. Oktober 2004 a.a.O. Rn. 46). Zwar könnten sich Gerichte nicht unter Berufung auf eine Entscheidung des EGMR von der rechtsstaatlichen Kompetenzordnung und der Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 Grundgesetz) lösen. Zur Bindung an Gesetz und Recht gehört aber auch die Berücksichtigung der Gewährleistungen der EMRK und der Entscheidungen des EGMR im Rahmen methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung (a.a.O. Rn. 47). Dies erfordert zumindest, dass die entsprechenden Texte und Judikate zur Kenntnis genommen werden und in den Willensbildungsprozess des zu einer Entscheidung berufenen Gerichts einfließen. Das nationale Recht ist unabhängig von dem Zeitpunkt seines Inkrafttretens nach Möglichkeit im Einklang mit dem Völkerrecht auszulegen. Da die EMRK – in der Auslegung durch den EGMR – im Range eines förmlichen Bundesgesetzes gilt, ist sie in den Vorrang des Gesetzes einbezogen und muss von der rechtsprechenden Gewalt beachtet werden. Solange im Rahmen geltender methodischer Standards Auslegungs- und Abwägungsspielräume eröffnet sind, trifft deutsche Gerichte die Pflicht, der konventionsgemäßen Auslegung den Vorrang zu geben (a.a.O. Rn. 62; Urteil vom 12. Juni 2018 a.a.O. Rn 133).

26

Würde nun § 11 a Abs. 3 Satz 1 SGB II so ausgelegt, dass das zum Ausgleich immateriellen Schadens erstrittene Geld sogleich von einer anderen staatlichen Stelle wieder zur Minderung der von dort zu beanspruchenden Leistungen genutzt würde, um die die Kläger jahrelang gestritten haben, so wäre die Wirksamkeit dieses aufgrund menschenrechtlicher und grundgesetzlicher Verpflichtung eingerichteten Rechtsbehelfs für die bedürftigen Teile der Bevölkerung gleichsam entleert (zu dieser Gefahr auch schon Schweigler in SGb 2017, 314, 318). Bezieher von Grundsicherungsleistungen würden die ihnen an sich gegebene Rechtsschutzmöglichkeit nach § 198 GVG nicht nutzen, wenn ihnen klar wäre, dass sich etwa erstrittene Leistungen mindernd auf ihnen zustehende Grundsicherungsleistungen auswirken würden (zur durch Art. 13 EMRK geforderten „wirksamen“ Beschwerdemöglichkeit und ihre Verwirklichung durch § 198 GVG vgl. erneut Ossenbühl/Cornils, Staatshaftungsrecht, 6. Auflage, 10. Teil 1 f = S. 465). Auch eine menschenrechts- und völkerrechtsfreundliche (Art. 1 Abs. 2 GG) Auslegung von § 11 a Abs. 3 Satz 1 SGB II gebietet daher die vom Senat schon zuvor aus anderen Gründen gefundene Lösung.

27

Soweit demgegenüber Entschädigungen nach § 198 GVG, soweit sie - wie hier - dem Ausgleich immaterieller Schäden dienen, in entsprechender Anwendung von § 11 a Abs. 2 SGB II als privilegiert angesehen werden (vgl. so nunmehr Söhngen, a.a.O., Rn. 33 und 51), steht dem aus Sicht des Senats entgegen, dass es sich bei § 11 a Abs. 2 SGB II um eine abschließende, nicht analogiefähige Sonderregelung handelt (vgl. BSG, Urteil vom 5. September 2007, B 11 b AS 15/06 R, juris, Rn. 30; ebenso Sächsisches LSG, Urteil vom 29. März 2017, L 11 SF 17/16 EK, juris, Rn. 27; LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 26. November 2019, L 11 AS 1044/18, juris, Rn. 31).

28

Die Vorschrift des § 11 a Abs. 3 SGB II will nach der Rechtsprechung des BSG verhindern, dass eine sich aus einer öffentlich-rechtlichen Norm ergebende Zweckbestimmung einer Leistung durch Berücksichtigung im Rahmen des SGB II verfehlt wird und dass für einen identischen Zweck (Sicherung des Lebensunterhalts) Doppelleistungen erbracht werden (vgl. BSG, Urteil vom 17. Oktober 2013, B 14 AS 58/12 R, juris, Rn. 28 m.w.N.). Der mit § 198 GVG verfolgte Zweck der Wiedergutmachung staatlich erlittenen Unrechts (in Form der Verletzung des menschen- und grundrechtlich geschützten Rechts auf angemessene Verfahrensdauer) ginge bei einem Anspruchsübergang für Leistungsempfänger nach dem SGB II und SGB XII ins Leere. Da Wiedergutmachung nach § 198 Abs. 4 GVG auch auf andere Weise geleistet werden kann, würde der Anspruchsübergang zudem dazu führen, dass bei geringen Grundrechtsverstößen eine Wiedergutmachung, z.B. durch Feststellung der Überlänge, zugunsten von Leistungsempfängern möglich wäre, bei gravierenden Grundrechtsverletzungen mit der Folge eines Entschädigungsanspruchs in Geld die Wiedergutmachung durch die Überleitung auf den SGB II- bzw. SGB XII-Träger aber faktisch entfiele.

29

Der Kläger hat mit Schriftsatz vom 8. April 2013 im erstinstanzlichen Verfahren sowie mit Schriftsätzen vom 3. August 2015, 4. Februar 2016, 5. August 2016, 6. Februar 2017, 7. August 2017, 8. Februar 2018 und 9. August 2018 in Berufungsverfahren wirksam Verzögerungsrügen im Sinne des § 198 Abs. 3 Satz 1 GVG erhoben. Zu diesen Zeitpunkten bestand jeweils die begründete Besorgnis, dass das Verfahren nicht in angemessener Zeit abgeschlossen werden würde, weil bereits längere Phasen der Nichtförderung des Verfahrens durch das Gericht eingetreten waren (vgl. dazu weiter unten; zu den Anforderungen an eine wirksame Verzögerungsrüge: Ott, in: Steinbeiß-Winkelmann/Ott, Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren, 2013, § 198 GVG, Rn. 188 ff.).

30

Dem Kläger steht wegen der unangemessenen Dauer des beim SG Hildesheim unter dem Az.: S 23 AS 1966/09 geführten Klageverfahrens sowie des beim LSG Niedersachsen-Bremen unter dem Az.: L 9 AS 29/14 geführten Berufungsverfahrens eine Entschädigung gemäß § 198 GVG in Höhe von 4.300,00 € zu. Das Verfahren war von unangemessener Dauer im Sinne des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG. Insgesamt liegt eine entschädigungspflichtige Überlänge von 43 Monaten vor.

31

Die Angemessenheitsprüfung erfolgt in drei Schritten (vgl. BSG, Urteil vom 3. September 2014, B 10 ÜG 12/13 R, veröffentlich in juris, Rn. 29 ff.):

32

- Ausgangspunkt und erster Schritt der Angemessenheitsprüfung bildet die Feststellung der in § 198 Abs. 6 Nr. 1 GVG definierten Gesamtdauer des Gerichtsverfahrens von der Einleitung des Verfahrens in erster Instanz bis zur Zustellung der endgültigen rechtskräftigen Entscheidung (vgl. BSG, Urteil vom 12. Februar 2015, B 10 ÜG 7/14 R, veröffentlicht in juris, Rn. 26).

33

- In einem zweiten Schritt ist - monatsgenau - der Ablauf des Verfahrens an den von § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG genannten Kriterien zu messen. Dabei ist zu beachten, dass die Verfahrensführung des Ausgangsgerichts vom Entschädigungsgericht nicht auf ihre Richtigkeit, sondern nur auf ihre Vertretbarkeit zu überprüfen ist (BGH, Urteil vom 12. Februar 2015, III ZR 141/14, veröffentlicht in juris, Rn. 26; Urteil vom 13. März 2014, III ZR 91/13, veröffentlicht in juris, Rn. 34; ähnlich BSG Urteil vom 3. September 2014, B 10 ÜG 2/13 R, veröffentlicht in juris, Rn. 43).

34

- Auf dieser Grundlage ergibt erst die wertende Gesamtbetrachtung und Abwägung aller Einzelfallumstände in einem dritten Schritt, ob die Verfahrensdauer die äußerste Grenze des Angemessenen deutlich überschritten und deshalb das Recht auf Rechtschutz in angemessener Zeit verletzt hat. Dabei billigt das BSG den Ausgangsgerichten eine Vorbereitungs- und Bedenkzeit von bis zu 12 Monaten je Instanz zu, die für sich genommen noch nicht zu einer unangemessenen Verfahrensdauer führt, so dass insoweit „inaktive Zeiten“ unschädlich sind (dazu näher: BSG, Urteil vom 3. September 2014, B 10 ÜG 2/13 R, veröffentlicht in juris, Rn. 43 ff.).

35

Bei Zugrundelegung der vorstehenden Grundsätze weist das Verfahren eine unangemessene Verfahrensdauer von 43 Monaten auf.

36

Die Gesamtverfahrensdauer des Gerichtsverfahrens erstreckte sich von der Klageerhebung im Oktober 2009 bis zur Zustellung des zweitinstanzlichen Urteils im November 2018. Da nach der Rechtsprechung des BSG eingereichte Schriftsätze, die einen gewissen Umfang haben und sich inhaltlich mit Fragen des Verfahrens befassen, generell eine Überlegungs- und Bearbeitungszeit von einem Monat bei Gericht bewirken (vgl. BSG, Urteil vom 3. Dezember 2014, B 10 ÜG 12/13 R, juris, Rn. 57), sind aufgrund der in den Vormonaten eingereichten Schriftsätze der Beteiligten die Monate Juli 2010, März 2011, Mai 2012, August 2012, November 2012, Juli 2013 und Juli 2018 nicht als Zeiten fehlender Verfahrensförderung durch das Gericht zu werten. Für das erstinstanzliche Verfahren lassen sich damit Zeiträume fehlender Verfahrensförderung in den Monaten September bis Dezember 2010, März sowie Juni bis August 2011, Oktober bis Dezember 2011, Juni 2012 sowie von Dezember 2012 bis Mai 2013 feststellen, mithin in einem Gesamtzeitraum von 18 Monaten. Das zweitinstanzliche Verfahren wurde in der Zeit von April 2014 bis einschließlich März 2018 sowie erneut im August 2018, also insgesamt in einem Zeitraum von 49 Monaten, nicht erkennbar gefördert. Abzüglich der üblicherweise nach der Rechtsprechung des BSG jeder Instanz einzuräumenden Vorbereitungs- und Bedenkzeit von 12 Monaten ergibt sich somit eine unangemessene Dauer des Ausgangsverfahrens von 43 Monaten. Anhaltspunkte für eine Verlängerung der Vorbereitungs- und Bedenkzeit sieht der Senat vor dem Hintergrund der Gesamtverfahrensdauer, die sich über neun Jahre erstreckte, nicht. Zwar handelte es sich um einen komplexen Sachverhalt mit zahlreichen strittigen Fragen sowie hinsichtlich der Kosten der Unterkunft zudem um eine schwierige Rechtsfrage. Mit zunehmender Dauer des Verfahrens verdichtet sich jedoch die aus dem Justizgewährleistungsanspruch resultierende Pflicht des Gerichts, sich nachhaltig um eine Beschleunigung des Verfahrens und dessen Beendigung zu bemühen (vgl. BSG, Urteil vom 3. September 2014, B 10 ÜG 12/13 R, juris, Rn. 44 unter Bezugnahme auf BVerfG Beschlüsse vom 1. Dezember 2012 – 1 BvR 404/10 Rn. 11 unter Hinweis auf frühere Entscheidungen und vom 1. Oktober 2012 – 1 BvR 170/06 – Vz 1/12 dort Rn. 23), da die Rechtsschutzgarantie des Artikel 19 Abs. 4 Grundgesetz auch die Effektivität des Rechtsschutzes gewährleistet – wirksam ist danach nur zeitgerechter Rechtsschutz (vgl. BVerfG a.a.O. sowie in ständiger Rechtsprechung).

37

Dem Kläger ist gemäß § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG für jeden Monat der unangemessenen Verfahrensdauer für die von ihm erlittenen immateriellen Nachteile eine Entschädigung in Geld in Höhe von 100,00 € zuzusprechen, da weder eine Abweichung von dieser gesetzlichen Pauschale geboten ist (§ 198 Abs. 2 Satz 4 GVG) noch die Nachteile auf andere Weise wiedergutgemacht werden können (§ 198 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 4 GVG).

38

Eine Wiedergutmachung auf andere Weise gemäß § 198 Abs. 4 GVG, insbesondere durch die Feststellung des Entschädigungsgerichts, dass die Verfahrensdauer unangemessen war, ist zur Überzeugung des Senats vorliegend nicht ausreichend (§ 198 Abs. 2 Satz 2 i.V.m. Abs. 4 GVG).

39

Nach der Rechtsprechung des BSG kommt eine Wiedergutmachung auf andere Weise bei festgestellter Überlänge eines Gerichtsverfahrens – mit Blick auf die Rechtsprechung des EGMR zu Artikel 6 und Artikel 41 EMRK – allenfalls ausnahmsweise in Betracht, wenn das Verfahren beispielsweise für den Entschädigungskläger aus der Sicht eines verständigen Dritten in der Lage des Klägers keine besondere Bedeutung hatte oder dieser durch sein Verhalten erheblich zur Verlängerung des Verfahrens beigetragen hat (vgl. BSG, Urteil vom 12. Februar 2015, B 10 ÜG 7/14 R, juris, Rn. 43).

40

Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nicht vor. Zwar hat der Kläger durch seinen wiederholten umfangreichen Vortrag nicht unerheblich zur Gesamtdauer des Verfahrens, nicht jedoch zu dessen Verzögerung beigetragen. Die Bedeutung des Verfahrens war für den Kläger erkennbar groß. Zum einen standen existenzsichernde Leistungen im Streit, im Übrigen war die Frage der Kosten der Unterkunft für den Kläger und seine Söhne vor dem Hintergrund der im Jahre 2013 erfolgten und erfolgreichen Räumungsklage erkennbar von erheblicher Bedeutung. Der Hinweis des Beklagten, es handele sich um einen „Vielkläger“, vermag vorliegend nicht die erkennbar große Bedeutung des Verfahrens für den Kläger und die durch dessen Dauer erlittene „seelische Unbill“ zu schmälern, welche letztlich auch in den zahlreichen erst- und zweitinstanzlichen Verzögerungsrügen des Klägers zum Ausdruck gekommen ist. Zudem war das Verfahren keineswegs aussichtslos, wie sich an dem teilweisen Obsiegen des Klägers sowohl in erster als auch in zweiter Instanz zeigt. Vor diesem Hintergrund wirkt die Argumentation des beklagten Landes, der Kläger betreibe die Verfahren vor niedersächsischen Sozialgerichten gleichsam als Hobby und erleide schon deswegen keinen immateriellen Nachteil im Sinne von § 198 GVG, zynisch und unangemessen.

41

Ebenso wenig liegt ein Ausnahmefall vor, für den § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG die Möglichkeit eröffnet, von der Pauschale des § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG nach oben oder unten abzuweichen. Dabei kann es stets nur um atypische Einzelfälle gehen (vgl. BSG, Urteil vom 3. September 2014, B 10 ÜG 9/13 R, juris, Rn. 51). Derartige besondere Umstände sind weder vorgetragen noch ersichtlich.

42

Der zuerkannte Entschädigungsbetrag ist ab Eintritt der Rechtshängigkeit (Zustellung der Klage, § 94 Satz 2 SGG) – hier am 22. Mai 2019 – in entsprechender Anwendung der §§ 288, Abs. 1, 291 Satz 1 BGB mit 5 Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz zu verzinsen (vgl. BSG, Urteil vom 3. September 2014, B 10 ÜG 2/13 R, juris, Rn. 54).

43

Die Kostenentscheidung folgt aus § 197a SGG i.V.m. § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO und entspricht dem Verhältnis des Obsiegens und Unterliegens der Beteiligten.

44

Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.

45

Die Festsetzung des Streitwertes ergibt sich aus § 197a Abs. 1 Satz 1 SGG i.V.m. § 52 Abse. 1 und 3 GKG und entspricht der von dem Kläger begehrten pauschalierten Entschädigung gemäß § 198 Abs. 2 Satz 3 GVG.

 


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