Urteil vom Landessozialgericht Sachsen-Anhalt (6. Senat) - L 6 U 99/12

Tenor

Das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 13. September 2012 wird aufgehoben und die Klage abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens für beide Rechtszüge.

Die Revision wird zugelassen.

Der Gegenstandswert wird auch für das Berufungsverfahren auf 2.425,63 EUR festgesetzt.

Tatbestand

1

Streitig ist eine Beitragshaftung des Klägers als Bevollmächtigter.

2

Mit Schreiben vom .. 2008 meldete der 1947 geborene Kläger die Zweigniederlassung D. in M. der – nach britischem Recht in England gegründeten – U.G. B. (nachfolgend: U.G. Ltd.) bei der Beklagten an. Zur Betriebsbeschreibung gab er an, das Unternehmen führe seit dem 11. August 2008 mit ca. 25 Arbeitnehmern Maurer- und Betonarbeiten aus. Er sei als Bevollmächtigter bestellt. Aus einer vom Kläger beigefügten Liste gingen 18 beschäftigte Arbeitnehmer hervor. In der ebenfalls beigefügten Gewerbeanmeldung vom 2008 waren als Tätigkeiten der Gesellschaft die Vorbereitung und Durchführung komplexer schlüsselfertiger Hochbauleistungen sowie Sanierungs- und sonstige Bauvorhaben aufgeführt. Hauptniederlassung und Sitz der U.G. Ltd. sei die in B. Anschrift der Zweigniederlassung sei die P. in M. In der Anmeldung der Zweigniederlassung zum Handelsregister beim Amtsgericht Stendal vom 27. August 2008 gab der Kläger ebenfalls an, Sitz der Ltd. sei B. (Großbritannien); ihr Nominalkapital betrage 200 britische Pfund. Er halte 20 und seine Ehefrau 180 (der 200) Geschäftsanteile. Der Kläger sei Geschäftsführer (director) und ständiger Vertreter der Zweigniederlassung.

3

Nach der Gründungsurkunde der U.G. Ltd. (Certificate of incorporation) ist diese seit dem 2008 mit Hauptsitz in B. (registered office) im Handelsregister für England und W. (Companies House Cardiff) eingetragen. Geschäftsgegenstand der Gesellschaft ist laut ihrer Satzung (Memorandum and articles of association) die Abwicklung von Geschäften als allgemeines kommerzielles Unternehmen und die Abwicklung anderer Geschäftstätigkeiten oder Handlungen, die von den Geschäftsführern und/oder der Gesellschafterversammlung als für die Gesellschaft vorteilhaft erachtet werden, und jede andere Maßnahme, die direkt oder indirekt der Realisierung der Ziele und dem Vorteil der Gesellschaft dient. Das genehmigte Kapital der Gesellschaft beträgt £200, unterteilt in 200 Anteile zu je £1,00. Gesellschafter sind mit 20 Anteilen der Kläger und 180 Anteilen seine Frau. Die Gesellschaft ist berechtigt, Zweigniederlassungen außerhalb des Vereinigten Königreichs zu gründen. Zum alleinvertretungsberechtigten Geschäftsführer (director) der Gesellschaft ist der Kläger bestellt.

4

Mit Beschluss vom 3. September 2008 eröffnete das Amtsgericht Magdeburg über das Vermögen der vom Kläger als Geschäftsführer vertretenen U.G. B. GmbH (ebenfalls mit Sitz in der P. in M.) das Insolvenzverfahren.

5

Mit Schreiben vom 15. September 2008 bezifferte der Kläger die Lohnsummen der Zweig-niederlassung der U.G. Ltd. für das Geschäftsjahr mit schätzungsweise zusammen 280.000,00 EUR.

6

Mit Bescheid vom 18. September 2008 nahm die Beklagte die U.G. Ltd. unter der Adresse ihrer Zweigniederlassung in M. bei sich als Mitglied auf und veranlagte sie mit weiterem Bescheid vom selben Tag zu ihrem Gefahrtarif. Ebenfalls mit Bescheid vom 18. September 2008 setzte die Beklagte ihr gegenüber den Beitragsvorschuss für das Geschäftsjahr 2008 sowie ersten und zweiten Vorschussteilbetrag für das Geschäftsjahr 2009 mit insgesamt 14.793,80 EUR fest. Alle diese Bescheide wurden bestandskräftig.

7

Laut Handelsregisterauszug des Amtsgerichts Stendal vom 16. Dezember 2008 wurden M. als Sitz der Zweigniederlassung der U.G. Ltd. mit Sitz in B. und als einzelvertretungsberechtigter Director und ständiger Vertreter der Kläger eingetragen.

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Unter dem 15. Januar 2009 gab der Kläger als Bruttolohnsumme des Geschäftsjahres 2008 insgesamt einen Betrag in Höhe von 279.588 EUR an. Die anteilige Geschäftsführerlohnsumme betrage 41.303 EUR.

9

Mit Bescheid vom 24. April 2009 setzte die Beklagte gegenüber der Zweigniederlassung der U.G. Ltd. für das Geschäftsjahr 2008 insgesamt eine Beitragshöhe von 17.032,95 EUR fest. Mit weiterem Bescheid vom 24. April 2009 erhob sie für die Geschäftsjahre 2009 und 2010 Beitragsvorschüsse in Höhe von zusammen 43.492,47 EUR. Auch diese Bescheide wurden bestandskräftig.

10

Mit Beschluss des Amtsgerichts Magdeburg vom 6. November 2009 wurde über das Vermögen der Zweigniederlassung der U.G. Ltd. in M. das Insolvenzverfahren eröffnet.

11

Unter dem 12. November 2009 unterrichtete die Beklagte den Kläger von ihrer Absicht, ihn für ihre Forderungen als Bevollmächtigten in Anspruch zu nehmen. Nach der Gründungstheorie, welche auch nach der ständigen Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) vorrangig auf Kapitalgesellschaften anzuwenden sei, habe diese in dem Land ihren Sitz, in welchem sie gegründet worden sei. Demzufolge habe die U.G. Ltd. keinen Sitz im Inland, was zur (gesamtschuldnerischen) Beitragshaftung des Klägers als Bevollmächtigter führe.

12

Mit Löschungsbescheid vom 30. April 2010 beendete die Beklagte gegenüber der Zweigniederlassung der U.G. Ltd. in M. zum 6. November 2009 ihre Zuständigkeit.

13

Mit am 10. August 2010 zugestellten Bescheiden vom 4. August 2010 nahm die Beklagte den Kläger in seiner Eigenschaft als Bevollmächtigter der U.G. Ltd. für im Zeitraum vom 1. Januar bis zum 6. November 2009 noch ausstehende Beitragsansprüche und Säumniszuschläge in Höhe von zusammen 2.425,63 EUR in Anspruch, die sie in den Bescheiden näher spezifizierte.

14

Hiergegen erhob der Kläger am 10. September 2010 Widerspruch und führte zur Begründung aus, die U.G. Ltd. habe zur Abwicklung der Geschäftstätigkeit eine selbständige Zweigniederlassung in Deutschland gegründet und insoweit auch eine Betriebsstätte in M. angemeldet, die ordnungsgemäß ins Handelsregister eingetragen worden sei. Hier seien auch Arbeitskräfte eingestellt und entlassen worden, habe die Lohnabrechnung stattgefunden und seien die Verpflichtungen gegenüber dem Finanzamt und den Sozialversicherungsträgern erfüllt worden. Eine Haftung als Bevollmächtigter scheide damit aus.

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Mit am 1. Juli 2011 zugestelltem Widerspruchsbescheid vom 29. Juni 2011 wies die Beklagte den Widerspruch als unbegründet zurück. Nach Art. 48 des Vertrages zur Gründung der Europäischen Gemeinschaften (EGV; nunmehr Art. 54 Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union – AEUV) werde der Sitz durch die Satzung bestimmt. Lediglich die Zweigniederlassung sei entsprechend § 13e Handelsgesetzbuch (HGB) in das Handelsregister eingetragen worden, womit jedoch kein Sitz im Inland begründet worden sei. Demnach hafte der Kläger für die geltend gemachten Forderungen nach den §§ 150 Abs. 2 Satz 2, 130 Abs. 2 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Unfallversicherung (SGB VII).

16

Am 1. August 2011 hat der Kläger vor dem Sozialgericht (SG) Magdeburg Klage erhoben und an seiner Ansicht festgehalten.

17

Mit Urteil vom 13. September 2012 hat das SG die Bescheide der Beklagten vom 4. August 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juni 2011 antragsgemäß aufgehoben und der Beklagten die Verfahrenskosten auferlegt. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die Beklagte habe gegen den Kläger keinen Anspruch auf die Zahlung rückständiger Beiträge aus § 150 Abs. 2 Satz 2 SGB VII, wonach neben dem Unternehmer der Bevollmächtigte haftet, soweit ein Fall des § 130 Abs. 2 Satz 1 SGB VII vorliege, also das Unternehmen in Deutschland keinen Sitz habe. Wo sich der Unternehmenssitz befinde, richte sich nicht nach rechtlichen Regelungen (z.B. Unternehmenssatzung oder handelsgerichtliche Eintragung), sondern den tatsächlichen Verhältnissen in Gestalt des organisatorischen Mittelpunktes, insbesondere der kaufmännischen und technischen Leitung. Bei rein büromäßiger Leitung mit andernorts liegendem betriebstechnischem Schwerpunkt (Arbeitsstätten, Betriebsanlagen, Personal) sei letzterer maßgeblich. Ausgehend hiervon habe sich der Sitz der U.G. Ltd. in M. befunden. Hier habe sich die alleinige Betriebsstätte, der Sitz der Gesellschafter, der Geschäftsführer, die Buchhaltung sowie die Verwaltung befunden. Demgegenüber habe in B. lediglich das registered office gelegen. Dieses stelle nicht den eigentlichen Geschäftssitz der Gesellschaft dar. Es sei vorliegend lediglich der nach britischem Recht zwingend notwendige offizielle Aufbewahrungs- und Zustellungsort der Gesellschaft gewesen. Es diene der Zustellung amtlicher Mitteilungen, von Klagen und ähnlichen Unterlagen. Daneben seien dort die obligatorischen Gesellschafter-, Direktoren- und sonstigen Register aufzubewahren.

18

Gegen das ihr am 17. Oktober 2012 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 5. November 2012 beim Landessozialgericht Sachsen-Anhalt Berufung eingelegt. Zur Begründung trägt sie unter Hinweis auf von ihr vorgelegte Entscheidungen des SG Lüneburg vom 18. Dezember 2013 (S 3 U 1/10) und des SG Berlin vom 28. März 2014 (S 25 U 18/11) im Wesentlichen vor: Nach § 130 Abs. 2 Satz 1 SGB VII habe das Unternehmen ohne Sitz im Inland einen Bevollmächtigen mit Sitz im Inland zu bestellen. Als Sitz des ausländischen Unternehmens gelte nach Satz 3 der Vorschrift der Ort der inländischen Betriebsstätte. Dies bedeute, dass eine inländische Betriebsstätte eines ausländischen Unternehmens noch keinen tatsächlichen Unternehmenssitz im Sinne des § 130 Abs. 1 SGB VII begründe. Werde dagegen der Ansicht des SG gefolgt, wonach das Vorhandensein einer inländischen Betriebsstätte bereits nach § 130 Abs. 1 SGB VII einen inländischen Sitz des ausländischen Unternehmens begründe, sei die Regelung des § 130 Abs. 2 Satz 3 SGB VII überflüssig. Soweit das SG allgemein die Kriterien zur Sitzbestimmung heranziehe, betreffe dies die Bestimmung in § 130 Abs. 1 SGB VII, nicht jedoch die besondere Regelung in Absatz 2 der Vorschrift. Zudem sei eine Eintragung im Register entgegen der vom SG zitierten Literatur gerade nicht irrelevant (Schmitt, SGG, 4. Aufl. 2009, § 130 Rn. 5). Nach Art. 54 AEUV werde der Sitz einer juristischen Person durch deren Satzung bestimmt. Der vom EuGH vertretenen Gründungstheorie habe sich zwischenzeitlich auch der Bundesgerichtshof (BGH) angeschlossen (Urteil vom 12. Juli 2011 – II ZR 28/10 – BGHZ 190, 242 m.w.N.). Die §§ 13d bis 13g HGB enthielten besondere Regelungen zur Eintragung von Niederlassungen ausländischer Unternehmen. Durch die Eintragung der Niederlassung im Handelsregister ändere sich jedoch nichts am Unternehmenssitz im Ausland. Insbesondere werde hierdurch kein solcher im Inland begründet. Vorliegend sei im Handelsregister des Amtsgerichts Stendal nur die Zweigniederlassung mit einer Betriebsstätte im Sinne von § 130 Abs. 2 Satz 3 SGB VII eingetragen gewesen. Von der Möglichkeit, ihren Sitz nach Deutschland zu verlegen, habe die U.G. Ltd. keinen Gebrauch gemacht.

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Die Beklagte beantragt,

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das Urteil des Sozialgerichts Magdeburg vom 13. September 2012 aufzuheben und die Klage abzuweisen.

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Der Kläger beantragt,

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die Berufung zurückzuweisen.

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Er verteidigt die Entscheidung des SG.

24

Die Beteiligten haben einer Entscheidung des Rechtsstreits durch den Senat ohne mündliche Verhandlung zugestimmt.

25

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf den Inhalt der Gerichtsakten sowie der beigezogenen Verwaltungsakten der Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der Beratung und Entscheidungsfindung des Senats.

Entscheidungsgründe

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Der Senat konnte gemäß § 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) ohne mündliche Verhandlung durch Urteil entscheiden, weil die Beteiligten sich mit dieser Verfahrensweise einverstanden erklärt haben.

27

Die nach den §§ 143, 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SGG statthafte, form- und fristgerecht erhobene (§ 151 Abs. 1 SGG) und auch ansonsten zulässige Berufung hat Erfolg. Die Bescheide der Beklagten vom 4. August 2010 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. Juni 2011 sind rechtmäßig und beschweren den Kläger damit nicht im Sinne der §§ 157, 54 Abs. 2 Satz 1 SGG.

28

Der Kläger haftet neben der U.G. Ltd. für die aus den bestandskräftig festgestellten Beitragsforderungen noch verbliebenen Verbindlichkeiten gegenüber der Beklagten auf Grundlage von § 150 Abs. 2 Satz 2 SGB VII. Nach dieser Vorschrift haften für die Beitragsansprüche der Träger der gesetzlichen Unfallversicherung neben dem Unternehmer u.a. die in § 130 Abs. 2 Satz 1 SGB VII bezeichneten Bevollmächtigten. Der Kläger war Bevollmächtigter im Sinne dieser Norm.

29

Nach § 130 Abs. 2 Satz 1 SGB VII hat der Unternehmer eines Unternehmens, das keinen Sitz im Inland hat, einen Bevollmächtigten mit Sitz im Inland zu bestellen. Für eine derartige Bestellung ist kein besonderer förmlicher Akt erforderlich. Selbst wenn die Bestellung des Klägers als Geschäftsführer bzw. director der U.G. Ltd. nicht ohnehin eine entsprechende Bevollmächtigtenstellung beinhaltet, ist der Kläger jedenfalls durch seine Anmeldung vom 3. September 2008 sowie die Betriebsbeschreibung desselben Datums, in der er sich selbst als Bevollmächtigten benannt hat, zu einem solchen geworden.

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Auch ansonsten liegen die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 130 Abs. 2 Satz 1 SGB VII vor. Denn das Unternehmen der U.G. Ltd. hatte keinen Sitz im Inland.

31

Unternehmer im Sinne der §§ 150 Abs. 2 Satz 2, 130 Abs. 2 Satz 1 SGB VII ist vorliegend die U.G. Ltd. als eine nach britischem Recht gegründete Kapitalgesellschaft mit beschränkter Haftung. Denn nach der Legaldefinition des § 136 Abs. 3 Nr. 1 SGB VII ist Unternehmer derjenige, dem das Ergebnis des Unternehmens unmittelbar zum Vor- oder Nachteil gereicht, der also das Unternehmerrisiko trägt. Das ist in der Regel der Inhaber oder Rechtsträger des Unternehmens, mithin eine oder mehrere natürliche Personen bzw. eine juristische Person.

32

Der Begriff des Unternehmens wird in § 121 Abs. 1 SGB VII als Betriebe, Verwaltungen, Einrichtungen oder Tätigkeiten definiert und bezeichnet damit allgemein eine organisatorische, rechtliche, wirtschaftliche, finanzielle oder soziale Einheit, mit der unabhängig von der Rechtsform für eine gewisse Dauer in gewisser Regelmäßi8gkeit bestimmte Ziele verfolgt werden (so schon Bundessozialgericht (BSG), Urteil vom 9. August 1973 – 2 RU 5/72 – BSGE 36, 111; Urteil vom 25. Februar 1976 – 8 RU 86,75 – BSGE 41, 214). Unternehmen der U.G. Ltd. ist daher laut ihrer Satzung die Abwicklung von Geschäften als allgemeines kommerzielles Unternehmen, die Abwicklung anderer vorteilhafter Geschäftstätigkeiten oder Handlungen sowie jede andere Maßnahme, die direkt oder indirekt seiner Ziele dient und ihm zum Vorteil gereicht.

33

Der Sitz dieses am 7. August 2008 gegründeten und von der U.G. Ltd. getragenen Unter-nehmens ist nach der Gründungsurkunde, der Satzung sowie der Eintragung im Handelsregister C. die Stadt B. Dass diese Umstände maßgeblich sind, ergibt sich aus der Rechtsprechung des EuGH, wonach für eine in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union nach dessen Vorschriften wirksam gegründete Gesellschaft auf die von ihr nach den Vorschriften des jeweiligen nationalen Rechts getroffenen Regelungen abzustellen ist (vgl. Urteil vom 5. November 2002 – C-208/00, Überseering – Slg. 2002, I-09919; Urteil vom 30. September 2003 – C-167/01, Inspire Art – Slg. 2003, I-10155). Dieser sogenannten Gründungstheorie hat sich auch der BGH angeschlossen (siehe etwa Urteil vom 14. März 2005 – II ZR 5/03 – NJW 2005, 1648; Urteil vom 12. Juli 2011 – II ZR 28/10 – a.a.O.), worauf die Beklagte zutreffend hingewiesen hat.

34

Zwar kommt es für den Unternehmenssitz nicht allein auf die Satzung sowie Eintragung im einschlägigen Register an (siehe aber § 29 HGB, § 4a GmbHG, § 5 Aktiengesetz, § 6 Genossenschaftsgesetz, § 57 Abs. 1 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB), Art. 54 AEUV), sondern ist auch der tatsächliche organisatorische Mittelpunkt von Bedeutung (Bereiter-Hahn/Mehrtens, SGB VII, Stand Juni 2013, § 130 Rn. 3). Allerdings gilt hierbei von vornherein kein absoluter Maßstab; neben rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkten sind auch die jeweiligen Besonderheiten des Einzelfalls zu beachten. Auf den organisatorischen Mittelpunkt ist vor allem dann abzustellen, wenn keine rechtlichen Anknüpfungspunkte wie etwa eine Eintragung im jeweiligen Register bzw. Bestimmung im Gesellschaftsvertrag vorhanden sind (ähnlich Schmitt, SGB VII, 4. Aufl. 2009, § 130 Rn. 5; Bigge in: Eichenhofer/Wenner, SGB VII, 2010, § 130 Rn. 3; Krasney in: Becker/Burchardt/Krasney/Kruschinsky, SGB VII, Stand September 2014, § 130 Rn. 8; a.A. wohl Leube in: Kater/Laube, SGB VII, § 130 Rn. 3; Ricke in: KassKomm, Stand Juni 2014, § 130 SGB VII, Rn. 3).

35

Dies gilt auch angesichts § 130 Abs. 2 Satz 3 SGB VII. Zwecks Anknüpfung der (regionalen) berufsgenossenschaftlichen Zuständigkeit wird durch diese Vorschrift für Unternehmen im Sinne von § 130 Abs. 2 Satz 1 SGB VII der Ort ihrer Betriebsstätte als Sitz im Inland fingiert. Das Gesetz geht also gerade davon aus, dass eine inländische Betriebsstätte eines ausländischen Unternehmens noch keinen Unternehmenssitz im Inland begründet (das übersieht Ricke in: KassKomm, Stand Juni 2014, § 130 SGB VII, Rn. 4). Genau dies wäre aber die Konsequenz, wenn entgegen der im Gesellschaftsvertrag des ausländischen Unternehmens getroffenen Regelung und der dortigen Registereintragung allein auf das Vorhandensein einer Betriebsstätte bzw. Zweigniederlassung abgestellt würde. Weil Unternehmen mit Sitz im Inland keinen Bevollmächtigten bestellen müssen, § 130 Abs. 2 Satz 3 SGB VII das Gegenteil aber auch beim Vorhandensein einer inländischen Betriebsstätte eines Unternehmens ohne Sitz im Inland verlangt, kann bei klarem Gesetzeswortlaut und fehlenden anderslautenden gesetzgeberischen Hinweisen (siehe BT-Drucks. 13/2204, S. 107) allein die Existenz einer Zweigniederlassung nicht ohne Weiteres zu einem Sitz des Unternehmens im Inland führen.

36

Daran änderte sich auch durch die Gewerbeanmeldung oder Eintragung der Zweigniederlassung im Handelsregister nichts. Denn sowohl aus der Gewerbeanmeldung vom 2008 als auch dem Handelsregistereintrag des Amtsgerichts Stendal vom 27. August 2008 geht als Unternehmenssitz jeweils ausdrücklich B. hervor. Angemeldet bzw. eingetragen wurde jeweils nur eine Zweigniederlassung und als deren Tätigkeit die Vorbereitung und Durchführung komplexer schlüsselfertiger Hochbauleistungen sowie Sanierungs- und sonstige Bauvorhaben. Gerade die darin liegende Beschränkung auf einen Teil des Unternehmensgegenstandes der U.G. Ltd. macht deutlich, dass für diese auch kein inhaltlicher Grund für eine Sitzverlegung bestand, zumal sie auch sonst außerhalb des Vereinigten Königreichs Zweigniederlassungen gründen darf. Im Übrigen enthalten die §§ 13d ff. HGB besondere Regelungen über die Eintragung inländischer Zweigniederlassungen von Unternehmen mit Hauptniederlassung oder Sitz im Ausland. Ebenso wie § 130 Abs. 2 SGB VII gehen mithin auch diese Vorschriften davon aus, dass ein Unternehmen sowohl eine Hauptniederlassung im Ausland als auch eine Zweigniederlassung im Inland unterhalten kann. Auch hierdurch wird widerlegt, dass allein durch die Einrichtung einer Zweigniederlassung ein Sitz des ausländischen Unternehmens im Inland im Sinne von § 130 Abs. 1 SGB VII begründet wird. Dies gilt umso mehr, da auch mehrere inländische Zweigniederlassungen ohne erkennbaren organisatorischen Mitteilpunkt existieren können.

37

Damit blieb die U.G. Ltd. vorliegend auch nach Begründung der Zweigniederlassung in M. weiterhin ein Unternehmen ohne Sitz im Inland. Dem lässt sich auch nicht die inländische Rechtsfähigkeit der Zweigniederlassung eines nach dem nationalen Recht eines Mitgliedsstaats der Europäischen Union gegründeten Unternehmens entgegen halten. Denn auch hierdurch ändert sich nichts am Bestehen der U.G. Ltd. mit ihrem Sitz in Birmingham (vgl. hierzu näher BGH, Urteil vom 13. März 2003 – VII ZR 370/98 – BGHZ 154, 185; EuGH, Urteil vom 5. November 2002 – C-208/00, Überseering – a.a.O.; Urteil vom 30. September 2003 – C-167/01, Inspire Art – a.a.O.).

38

Die Vorschrift des § 150 Abs. 2 Satz 2 SGB VII lässt sich auch nicht dahin verstehen, dass die Bevollmächtigtenhaftung nur diejenigen Fälle erfasst, in denen ein Unternehmen ohne Sitz im Inland dort auch über keine Betriebsstätte bzw. Zweigniederlassung verfügt, so dass es quasi nicht "greifbar" ist. Für eine derartige einschränkende Auslegung fehlt bei (auch) insoweit unergiebigen Gesetzesmaterialien (siehe BT-Drucks. 13/2204, S. 110) jeder Anhalt. Die Norm verweist insgesamt auf die in § 130 Abs. 2 Satz 1 SGB VII genannten Bevollmächtigten und nicht lediglich auf die ausdrücklich von § 130 Abs. 2 Satz 3 Halbsatz 2 SGB VII erfasste Situation, dass ein Unternehmen mit Sitz im Ausland keine inländische Betriebsstätte hat. Hätte der Gesetzgeber mit § 150 Abs. 2 Satz 2 SGB VII eine derartige Absicht verfolgen wollen, wäre dies aber zu erwarten gewesen.

39

Die Haftung des Klägers beinhaltet auch keine gemeinschaftsrechtswidrige Diskriminierung im Sinne eines Eingriffs in die durch Art. 49 AEUV (zuvor Art. 43 EGV) garantierte Niederlassungsfreiheit. Der Senat hat sich deshalb auch nicht nach Art. 267 Unterabs. 2 AEUV im Wege eines Vorabentscheidungsverfahrens zu einer Vorlage an den EuGH veranlasst gesehen.

40

Weder durch § 150 Abs. 2 Satz 2 SGB VII noch durch Regelungen des Gemeinschaftsrechts ist die U.G. Ltd. vorliegend daran gehindert gewesen, ihren (Haupt-)Sitz ins Inland zu verlegen (vgl. hierzu nochmals BGH, Urteil vom 14. März 2005 – II ZR 5/03 – a.a.O.). Eine Bevollmächtigtenhaftung scheidet für einen solchen Fall aus. Ansonsten haften auch die Unternehmer nach inländischem Recht gegründeter Gesellschaften nach § 150 Abs. 2 Satz 2 SGB VII als Gesamtschuldner. Ihre Haftung kann bei Verlust der Unternehmereigenschaft bestehen bleiben (so ausdrücklich Bereiter-Hahn/Mehrtens, SGB VII, Stand Juni 2013, § 150 Rn. 9); bei missbräuchlicher Ausnutzung einer Rechtsform kommt ein Gesellschafterdurch-griff in Betracht (hierzu näher Hauck/Höller, SGB VII, Stand April 2014, K § 150 Rn. 13 m.w.N.). Vor diesem Hintergrund liegt schon keine Diskriminierung von Gesellschaften vor, die nach den Vorschriften eines anderen Mitgliedsstaates der Europäischen Union wirksam gegründet worden sind. Jedenfalls ist eine etwaige durch § 150 Abs. 2 Satz 2 SGB VII bewirkte (mittelbare) Beschränkung der Niederlassungsfreiheit entsprechend der Rechtsprechung des EuGH durch zwingende Gründe des Allgemeinwohls im Sinne von Art. 52 AEUV (zuvor Art. 46 EGV) gerechtfertigt. Aufgabe der gesetzliche Unfallversicherung ist es, Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten zu verhüten sowie nach Eintritt dieser Versicherungsfälle die Gesundheit und Leistungsfähigkeit des Versicherten mit allen geeigneten Mitteln wiederherzustellen bzw. diesen und ggf. seine Hinterbliebenen erforderlichenfalls mit Rentenleistungen zu entschädigen (§ 1 SGB VII). Haftungsansprüche aus Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten werden von ihr durch ein öffentlich-rechtliches Leistungssystem ersetzt (§§ 104 ff. SGB VII). Die gesetzliche Unfallversicherung verfolgt damit als ein durch die Unternehmerbeiträge solidarisch finanziertes System eine öffentliche Aufgabe des Gesundheitsschutzes von überragendem Gemeinwohlinteresse (vgl. hierzu auch BSG, Urteil vom 11. November 2003 – B 2 U 16/03 R – SozR 4-2700 § 150 Nr. 1; EuGH, Urteil vom 5. März 2009 – C-350/07, Kattner Stahlbau – Slg. 2009, I-01513).

41

Eine rechnerische Unrichtigkeit der verbliebenen Forderung der Beklagten ist schließlich weder ersichtlich noch vom Kläger behauptet. Dass ihr diese im Sinne von § 130 SGB VII als örtlich zuständigen Träger zugewiesen ist, ergibt sich aus § 4 ihrer Satzung (abrufbar unter: http://www.bgbau.de/die-bg-bau/satzung/downloads/Fusionssatzung 2005.pdf), wonach sich die Zuständigkeit der Beklagten auf das Gebiet der Bundesrepublik Deutschland erstreckt.

42

Im Ergebnis besteht damit eine gesamtschuldnerische – nicht nur nach der U.G. Ltd. subsidiäre – Haftung des Klägers für die Forderung der Beklagten. Nach dem Normzweck des § 150 SGB VII erscheint es auch nicht ermessensfehlerhaft, wenn die Beklagte ihre Forderung nach eingetretener Insolvenz der Zweigniederlassung und vor dem Hintergrund einer auch angesichts des niedrigen Nominalkapitals der U.G. Ltd. wenig Erfolg versprechenden bzw. schwierigen und/oder kostenintensiven Realisierung in Großbritannien gegenüber dem Kläger geltend macht. Denn alleiniger Zweck der gesamtschuldnerischen Haftung ist es, den Unfallversicherungsträger vor Beitragsausfällen zu sichern, damit er im solidarischen Sicherungssystem der gesetzlichen Unfallversicherung seine Aufgaben erfüllen kann. Demgegenüber ist der Ausgleich der Gesamtschuldner im Innenverhältnis (siehe hierzu § 426 BGB) keine Frage der gesetzlichen Unfallversicherung.

43

Nach alledem war der Berufung stattzugeben.

44

Die Kostenentscheidung beruht auf § 197a Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 3 SGG in Verbindung mit einer entsprechenden Anwendung von § 154 Abs. 1 Verwaltungsgerichtsordnung.

45

Die Revision wird gemäß § 160 Abs. 2 Nr. 1 SGG zugelassen, weil die Frage einer Haftung nach § 150 Abs. 2 Satz 2 in Verbindung mit § 130 Abs. 2 Satz 1 SGB VII – nicht nur in der vorliegenden Konstellation – grundsätzlich klärungsbedürftig erscheint.

46

Die Entscheidung zum Gegenstandswert ergibt sich aus § 197a Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 SGG in Verbindung mit den §§ 1 Abs. 2 Nr. 3, 40 und 52 Abs. 3 Satz 1 Gerichtskostengesetz und entspricht der Höhe der streitigen Forderung der Beklagten.


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