Beschluss vom Oberlandesgericht Hamm - 3 Ws 36/20
Tenor
Die Beschwerde wird auf Kosten des Angeklagten (§ 473 Abs. 1 StPO) als unbegründet verworfen.
1
G r ü n d e:
2I.
3Mit Verfügung vom 15. November 2018 hat die Staatsanwaltschaft Bielefeld Anklage gegen den Beschwerdeführer sowie eine Mitangeklagte erhoben und ihm Untreue in 238 Fällen vorgeworfen. Bezüglich der Einzeltaten aus den Jahren 2009 bis 2014 wurde in der Anklageschrift ausdrücklich auf die Anlagen 1 bis 6 Bezug genommen. In diesen Anlagen, die der Anklage beigefügt waren, sind die Einzeltaten – jeweils getrennt nach Kalenderjahren – in 6 Tabellen aufgelistet worden.
4Mit Verfügung vom 29. November 2018 hat der Vorsitzende der 9. großen Strafkammer – Wirtschaftsstrafkammer – des Landgerichts Bielefeld die Anklageschrift den Angeschuldigten jeweils gegen Postzustellungsurkunde sowie ihren Verteidigern – betreffend den Beschwerdeführer an die Rechtsanwälte T und S formlos mit einem Hinweis nach § 145a Abs. 3 StPO – gemäß § 201 StPO mit Gelegenheit zur Stellungnahme binnen 4 Wochen übermittelt.
5Einwendungen sind auch nach Verlängerung der ursprünglichen Stellungnahmefrist nicht erhoben worden.
6Mit Beschluss vom 30. August 2019 hat die 9. große Strafkammer – Wirtschaftsstrafkammer – des Landgerichts Bielefeld u.a. die o.g. Anklage der Staatsanwaltschaft Bielefeld vom 15. November 2018 unverändert zur Hauptverhandlung zugelassen und das Hauptverfahren eröffnet.
7Am 24. September 2019 wurde dem Vorsitzenden durch eine Mitarbeiterin der Geschäftsstelle mitgeteilt, dass mit Übermittlung der Anklage vom 15. November 2018 seinerzeit die Anlagen zur Anklage nicht übersandt worden waren. Mit Verfügung vom 25. September 2019 ordnete der Vorsitzende daher die Übersendung der Anlagen zur Anklage (sowie die Anlagen zur Anklage in einem verbundenen Verfahren) an die Angeklagten an. Gleichzeitig wies er die Angeklagten auf die Möglichkeit hin, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 33a StPO zu beantragen. Den Angeklagten wurde Gelegenheit gegeben, binnen 3 Wochen Einwände gegen die Eröffnung des Hauptverfahrens sowie zu der Verbindung der Verfahren vorzubringen.
8Eine Durchschrift dieser Verfügung wurde auch den Verteidigern übersandt.
9Mit Schriftsatz vom 21. Oktober 2019 beantragte Rechtsanwalt S für den Angeklagten Remmert Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Wegen der Einzelheiten wird auf die Antragsbegründung Bezug genommen.
10Mit Beschluss vom 19. Dezember 2019 hat die Kammer den Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zurückgewiesen. Zur Begründung hat die Kammer zusammengefasst ausgeführt, dass der Antrag unbegründet sei, weil sein Anspruch auf rechtliches Gehör nicht verletzt worden sei. Die versehentlich unterlassene Übersendung der Anlagen habe sich für den Angeklagten nicht ausgewirkt, da seinem Verteidiger mit Verfügung vom 26. Februar 2019 umfassend Akteneinsicht – inkl. der Anlagen zur Anklage – gewährt worden sei. Bis zum Eröffnungsbeschluss habe die Verteidigung daher etwa sechs Monate lang Gelegenheit gehabt, die Anklagevorwürfe inklusive der Anlage mit dem Angeklagten zu erörtern und Stellung zu nehmen.
11Gegen diesen Beschluss wendet sich der Angeklagte mit seiner Beschwerde vom 3. Januar 2020.
12Mit Beschluss vom 8. Januar 2020 hat die Kammer der Beschwerde nicht abgeholfen und die Sache dem Senat zur Entscheidung vorgelegt.
13Die Generalstaatsanwaltschaft beantragt mit Zuschrift vom 23. Januar 2020, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.
14Mit Schriftsatz vom 10. Februar 2020 hat Rechtsanwalt S zur Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft Stellung genommen.
15II.
16Die Beschwerde des Angeklagten ist statthaft. Nach heute überwiegender Auffassung sind Entscheidungen nach § 33 a StPO jedenfalls in den Fällen mit der Beschwerde anfechtbar, in denen die nachträgliche Gewährung des rechtlichen Gehörs – wie vorliegend – abgelehnt wird (vgl. BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), Beschluss vom 25. Januar 2018 – 2 BvR 1362/16 – NJW 2018, 1077, Rdnr. 12; KG Berlin, Beschluss vom 14. Oktober 2015 – 4 Ws 78/15 –, juris Rdnr. 5; BeckOK StPO/Larcher, 35. Ed. 1.10.2019, StPO § 33a Rdnr. 16; OLG Hamm, Beschluss vom 20. November 2008 - 2 Ws 349/08 – BeckRS 2009, 6765; Graalmann-Scheerer in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2016, § 33a, Rdnr. 27).
17Die Beschwerde ist jedoch aus den zutreffenden Gründen der angefochtenen Entscheidung sowie den in der Antragsschrift der Generalstaatsanwaltschaft genannten Gründen, auf die zwecks Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen wird, unbegründet.
18Mit Blick auf die Gegenerklärung der Verteidigung weist der Senat lediglich – teilweise ergänzend – auf Folgendes hin:
19Die Generalstaatsanwaltschaft hat zutreffend darauf hingewiesen, dass es bei einem verteidigten Angeschuldigten in der Regel ausreicht, den Verteidiger anzuhören, um den Anforderungen des § 33 Abs. 3 StPO zu entsprechen (vgl. MüKoStPO/Valerius, 1. Aufl. 2014, StPO § 33, Rdnr. 30; Szesny in: Eser/Rübenstahl/Saliger/Tsambikakis, Wirtschaftsstrafrecht, § 33 StPO, Rdnr. 12; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Auflage, § 33, Rdnr. 12; BGH, Beschluss vom 7. Juli 1976 - 3 StR 122/76 – NJW 1976, 1985). Ist der Beschuldigte verteidigt, ist er gehört, wenn sein Verteidiger gehört ist (vgl. KK-StPO/Maul, 8. Aufl. 2019, StPO § 33 Rdnr. 6 m.w.N.).
20Dies gilt grundsätzlich auch für die Mitteilung der Anklageschrift gemäß § 201 Abs. 1 StPO. Dies ergibt sich u.a. aus § 145a Abs. 1 StPO, wonach der gewählte Verteidiger, dessen Vollmacht sich bei den Akten befindet, sowie der bestellte Verteidiger als ermächtigt gelten, Zustellungen und sonstige Mitteilungen für den Beschuldigten in Empfang zu nehmen (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Auflage, § 201, Rdnr. 2, § 145a, Rdnr. 4; KK-StPO/Schneider, 8. Aufl. 2019, StPO § 201 Rdnr. 3).
21Dass dem Angeklagten sowie seinen Verteidigern zunächst versehentlich die Anlagen zur Anklageschrift nicht übermittelt wurden, mag einen – inzwischen geheilten – Verstoß gegen § 201 Abs. 1 StPO dargestellt haben, jedoch jedenfalls im Ergebnis keinen Verstoß gegen die Pflicht zur Gewährung rechtlichen Gehörs, da das rechtliche Gehör – wie die Generalstaatsanwaltschaft und die Kammer zu Recht ausgeführt haben – auch durch Akteneinsicht gewährt werden kann (vgl. Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Auflage, § 33, Rdnr. 11; BeckOK StPO/Larcher, 35. Ed. 1.10.2019, StPO § 33 Rdnr. 16) und es deswegen an der für die Anhörungsrüge erforderlichen andauernden Beschwer fehlt (vgl. Graalmann-Scheerer in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2016, § 33a, Rdnr. 16 ff.; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Auflage, § 33a, Rdnr. 6 HK-Pollähne, StPO, 6. Auflage, § 33a, Rdnr. 9).
22Hier hatte Rechtsanwalt S rund ein halbes Jahr vor der Eröffnungsentscheidung aufgrund der gewährten umfassenden Akteneinsicht Kenntnis von den Anlagen zur Anklageschrift, ohne dass Einwendungen gegen die Anklageschrift erhoben wurden. Zum Zeitpunkt der Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens war der Beschwerdeführer durch die zunächst versehentlich unterlassene Übersendung der Anlagen zur Anklage daher jedenfalls nicht (mehr) beschwert im o.g. Sinne.
23Soweit der Beschwerdeführer mit seiner Gegenerklärung vom 10. Februar 2020 auf Entscheidungen betreffend Übersetzungen von Anklageschriften bei der deutschen Sprache nicht mächtigen Angeschuldigten verweist, führt dies nicht zu einer abweichenden Beurteilung. Denn abgesehen davon, dass bei der Mitteilung der Anklageschrift entgegen den Ausführungen in der Gegenerklärung nicht Artikel 5 Abs. 3 EMRK, sondern Artikel 6 Abs. 3 EMRK betroffen wäre, soll die Übersetzung der Anklageschrift in diesen Fällen in erster Linie sicherstellen, dass der Angeschuldigte wegen mangelnder Sprachkenntnisse keine Verkürzung seines Anspruchs auf eine sachgerechte Verteidigung erleidet bzw. sein Anspruch auf ein faires Verfahren nicht verletzt wird (vgl. MüKoStPO/Wenske, 1. Aufl. 2016, StPO § 201, Rdnr. 12; Stuckenberg in: Löwe-Rosenberg, StPO, 27. Aufl. 2018, § 201, Rdnr. 16).
24Dass die schriftliche Übersetzung der Anklage dem nicht der deutschen Sprache mächtigen Angeschuldigten in diesen Fällen unmittelbar zur Verfügung gestellt werden muss und dies nicht auch durch Vermittlung über den Verteidiger erfolgen kann, lässt sich weder Artikel 6 Abs. 3 EMRK noch § 187 Abs. 2 GVG entnehmen (vgl. hierzu auch § 187 Abs. 2 Satz 4 und 5). Soweit die Übersetzung von Anklageschriften in diesen Fällen daneben auch der Gewährung des rechtlichen Gehörs dienen mag, gelten die o.g. Ausführungen jedenfalls entsprechend.
Verwandte Urteile
Keine verwandten Inhalte vorhanden.
Referenzen
- StPO § 473 Kosten bei zurückgenommenem oder erfolglosem Rechtsmittel; Kosten der Wiedereinsetzung 1x
- StPO § 201 Übermittlung der Anklageschrift 3x
- StPO § 33 Gewährung rechtlichen Gehörs vor einer Entscheidung 2x
- GVG § 187 1x
- 2 Ws 349/08 1x (nicht zugeordnet)
- 3 StR 122/76 1x (nicht zugeordnet)
- StPO § 33a Wiedereinsetzung in den vorigen Stand bei Nichtgewährung rechtlichen Gehörs 1x
- StPO § 145a Zustellungen an den Verteidiger 1x
- 4 Ws 78/15 1x (nicht zugeordnet)
- 2 BvR 1362/16 1x (nicht zugeordnet)