Beschluss vom Oberlandesgericht Hamm - 4 RVs 118/20
Tenor
Das angefochtene Urteil wird mit den zu Grunde liegenden Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten des Rechtsmittels - an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Münster zurückverwiesen.
1
Gründe
2I.
3Das Amtsgericht Ibbenbüren hat auf Antrag der Staatsanwaltschaft Münster mit Strafbefehl vom 08.11.2018 gegen den Angeklagten wegen versuchter Erpressung eine Geldstrafe von 100 Tagessätzen zu je 10 Euro festgesetzt. Den gegen den Strafbefehl fristgerecht eingelegten Einspruch des Angeklagten hat das Amtsgericht mit Urteil vom 08.11.2019 nach § 412 StPO verworfen. Die hiergegen eingelegte Berufung des Angeklagten hat das Landgericht Münster mit dem angefochtenen Urteil verworfen. Zur Begründung führt es aus, dass die Voraussetzungen für eine Einspruchsverwerfung durch das Amtsgericht tatsächlich vorgelegen hätten.
4Gegen dieses Urteil wendet sich der Angeklagte mit der Revision, mit der er die Verletzung formellen Rechts rügt und die Aufhebung des angefochtenen Urteils beantragt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat beantragt, das Rechtsmittel als offensichtlich unbegründet zu verwerfen.
5II.
6Die zulässige Revision des Angeklagten hat - jedenfalls vorläufig - Erfolg und führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an eine andere kleine Strafkammer des Landgerichts Münster (§§ 349 Abs. 4, 354 Abs. 2 StPO).
71.
8Die von dem Angeklagten zu Protokoll der Geschäftsstelle erhobene Verfahrensrüge genügt noch den Begründungsanforderungen des § 344 Abs. 2 StPO und zeigt einen den Angeklagten belastenden Rechtsfehler auf, auf dem das angefochtene Urteil beruht.
9Trotz der Bezeichnung der Rüge als „sog. Allgemeine Verfahrensrüge“ bzw. der Rüge der Verletzung der „§§ 329, 412 StPO“ führt eine an § 300 StPO orientierte Auslegung des Rechtsmittels dazu, dass der Angeklagte jedenfalls auch die Verletzung seines Anspruchs auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) rügen will. Dies ergibt sich aus der Formulierung: „Es [das Berufungsgericht, Anm. d. Senats] hat mich laut Protokoll zwar angehört, aber ich habe nicht gewusst, dass ich hätte zum Ausbleiben an der Verhandlung ausführen müssen“. Neben dem Vortrag, der Angeklagte sei zum Gegenstand des den Einspruch verwerfenden Urteils, einem unentschuldigten Ausbleiben trotz ordnungsgemäßer Ladung, nicht gehört worden, sondern zu den „Beschuldigungen“, also zur Sache selbst, trägt er auch dazu vor, was er im Falle ordnungsgemäßer Gewährung rechtlichen Gehörs vorgebracht hätte.
102.
11Die Rüge greift auch in der Sache durch, da nach den für das Revisionsgericht maßgeblichen Erkenntnisquellen der Anspruch des Angeklagten auf Gewährung rechtlichen Gehörs in entscheidungserheblicher Weise verletzt wurde. Der Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs beinhaltet u.a. auch, dass dem Angeklagten Gelegenheit gegeben wird, sich zu den entscheidungserheblichen Umständen äußern zu können (vgl. etwa OLG Hamm, Beschl. v. 16.08.2006 – 2 Ss OWi 348/06 –juris m.w.N.; vgl. auch: BGH NStZ 1994, 46).
12Ausweislich des mit Beweiskraft nach § 274 StPO ausgestatteten Hauptverhandlungsprotokolls wurde der Angeklagte „darauf hingewiesen, dass es ihm freistehe, sich zu der Beschuldigung [Hervorhebung durch den Senat] zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen“. Daraufhin hat der Angeklagte „zur Sache“ ausgesagt. Angesichts dessen wird der Vortrag des Angeklagten, er sei nicht zu den zur Einspruchsverwerfung vor dem Amtsgericht führenden Umständen gehört worden, sondern zu den eigentlichen Tatvorwürfen, zu denen er dann auch Angaben gemacht habe, durch das Protokoll bestätigt. Die anderslautende dienstliche Äußerung des Vorsitzenden der kleinen Strafkammer vom 07.09.2020, wonach der Angeklagte darauf hingewiesen worden sei, dass Gegenstand der Berufungshauptverhandlung lediglich sei, ob er zum amtsgerichtlichen Hauptverhandlungstermin ordnungsgemäß geladen und ob sein Ausbleiben ausreichend entschuldigt gewesen sei und er Gelegenheit zur Stellungnahme hierzu gehabt habe, ist im vorliegenden Fall nicht geeignet, die Beweiskraft des Protokolls in Wegfall zu bringen. Zwar entfällt grundsätzlich die Beweiskraft des Protokolls, wenn eine Protokollperson durch eine nachträgliche Erklärung von dessen Inhalt abrückt (BGHSt 4, 364 ff.; BGH NStZ 2014, 668; OLG München, Beschl. v. 25.05.2009 5 St RR 101/09; BeckRS 2009, 20369). Dies gilt jedoch für die nur einseitige Erklärung dann nicht, wenn damit die tatsächliche Grundlage für eine Verfahrensrüge des Angeklagten entfällt (BGH NStZ-RR 2007, 245; Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 62. Aufl., § 274 Rdn. 16). Ein Verfahren zur Protokollberichtigung nach den Grundsätzen der Entscheidung des Großen Senats in Strafsachen des BGH (BGHSt 51, 298) – wie vom Senat angeregt - hat das Landgericht nicht durchgeführt, nachdem die Protokollführerin dienstlich erklärt hatte, sie habe an den Hauptverhandlungstermin keine genaue Erinnerung mehr.
13Die Beweiskraft des Protokolls entfällt auch nicht wegen offensichtlicher Unklarheiten oder Widersprüche. Die Generalstaatsanwalt trägt zwar insoweit vor, dass der Umstand, dass ansonsten als einzige Beweiserhebung in der Hauptverhandlung eine Verlesung der Postzustellungsurkunde betreffend die Ladung zur Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht stattgefunden habe, einen solchen Widerspruch begründe, weil dies zeige, dass es auf deren Inhalt ankomme. Dem ist aber nicht so. Zum einen wurde auch ein BZR-Auszug (jedenfalls ausweislich des Hauptverhandlungs-protokolls) verlesen. Zum anderen würde dies unterstellen, dass allein schon durch die Verlesung der Postzustellungsurkunde hinreichend verdeutlicht worden wäre, dass es gar nicht um die Tatvorwürfe selbst, sondern um prozessuale Fragen der §§ 412, 329 StPO geht. Zwar konnte sich der Angeklagte nach jeder Beweiserhebung – ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls – erklären. Bei dem protokollierten Verfahrensablauf kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass bei dem Angeklagten durch die Eingangsbelehrung der Eindruck erweckt wurde, es gehe um die Sache selbst, also um die Tatvorwürfe, und er sich deswegen nicht zu den prozessualen Fragen geäußert hat.
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Referenzen
- StPO § 349 Entscheidung ohne Hauptverhandlung durch Beschluss 1x
- StPO § 274 Beweiskraft des Protokolls 1x
- 5 St RR 101/09 1x (nicht zugeordnet)
- StPO § 329 Ausbleiben des Angeklagten; Vertretung in der Berufungshauptverhandlung 1x
- StPO § 344 Revisionsbegründung 1x
- StPO § 354 Eigene Entscheidung in der Sache; Zurückverweisung 1x
- StPO § 300 Falschbezeichnung eines zulässigen Rechtsmittels 1x
- StPO § 412 Ausbleiben des Angeklagten; Einspruchsverwerfung 2x
- 2 Ss OWi 348/06 1x (nicht zugeordnet)