Urteil vom Oberlandesgericht Hamm - 9 U 127/20
Tenor
Auf die Berufung der Klägerin wird das Urteil des Einzelrichters der 2. Zivilkammer des Landgerichts Bochum vom 26.06.2020 einschließlich des ihm zugrundeliegenden Verfahrens aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung – auch über die Kosten des Berufungsverfahrens – an das Gericht des ersten Rechtszuges zurückverwiesen.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
1
Gründe
2I.
3Die Klägerin, selbständige Ärztin, war seit dem 01.08.2017 Schülerin in der vom Beklagten zu 1) betriebenen F-Schule, wo sie die Selbstverteidigungssportart Wing Tsun erlernte. Dort kam es am 15.05.2015 zu einem Unfall im Rahmen einer Übung, bei der die Schüler einen Angriff auf den Lehrer, den Beklagten zu 2), und dieser eine Abwehrmaßnahme simulieren sollten. Bei der Klägerin wendete der Beklagte zu 2) zur Abwehr ihres Angriffs einen sogenannten Fußfeger an, durch den dem Angreifer das Standbein weggetreten wird und er so zu Fall kommt. Die Klägerin erlitt unter anderem ein Anpralltrauma links mit Innenmeniskusläsion und eine Partialruptur des vorderen linken Kreuzbandes. Sie wurde operiert und war bis zum 10.09.2019 krankgeschrieben.
4Die Klägerin hat behauptet, der Beklagte zu 2) habe völlig unnötig einen dem Wing Tsun fremden, riskanten Tritt angewendet, der nie Gegenstand des Unterrichts und auf den sie, noch Anfängerin, nicht gefasst gewesen sei. Sie habe sich, auf das linke Bein gestützt, mit ausgestrecktem rechten Bein in der Hocke mit dem Rücken zum Beklagten zu 2) und somit in wehrloser Position befunden. Sie könne unfallbedingt keinen Sport mehr ausüben und habe auch eine Stelle zur Fortbildung zum zweiten Facharzt nicht antreten können. Ihre Behandlung sei bis heute nicht abgeschlossen, Spätschäden, insbesondere Arthrose, seien zu befürchten. Sie ist der Auffassung, der Beklagte zu 2) hafte als Schulleiter und wegen Verletzung seiner gegenüber den Schülern bestehenden Fürsorgepflicht.
5Die Klägerin hat beantragt,
6die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an die Klägerin
71.11.031,40 Euro sowie
82.ein angemessenes Schmerzensgeld, dessen Höhe in das Ermessen des angerufenen Gerichts gestellt wird, jeweils nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen,
93.festzustellen, dass die Beklagten als Gesamtschuldner verpflichtet sind, der Klägerin alle weiteren zukünftigen materiellen und immateriellen Schäden aus dem Vorfall vom 15.05.2019 im Bereich der F-Schule des Beklagten zu 1), T-Straße ## in C, zu tragen, soweit der Anspruch nicht auf einen Sozialversicherungsträger oder auf Dritte übergegangen ist.
10Die Beklagten haben beantragt,
11die Klage abzuweisen.
12Sie haben behauptet, die Klägerin habe den Beklagten zu 2) abredewidrig mehrmals mit der Faust und sodann, nach einer Drehung, mit einem Ellenbogenstoß attackiert, sodass dieser zur Deeskalation den im Wing Tsun gebräuchlichen Fußfeger angewendet habe, wobei er die Klägerin am Arm festgehalten habe und zu Boden habe gleiten lassen. Die Klägerin sei kampfsporterfahren und habe den Fußfeger gekannt. Außerdem hafteten die Beklagten bei Ausübung einer Kampfsportart nur für Vorsatz oder grobe Regelwidrigkeit.
13Das Landgericht hat die Parteien angehört, mehrere Zeugen vernommen und die Klage sodann mit der Begründung abgewiesen, die Verletzung der Klägerin sei jedenfalls nicht rechtswidrig erfolgt, weil diese auf eigene Gefahr gehandelt und wegen der mit der Ausübung von Kampfsport verbundenen Risiken in etwaige Verletzungen eingewilligt habe. Der Kläger hafte bei Kampfsport nur für grobe oder gar vorsätzliche Regelverstöße, welche die Beweisaufnahme nicht ergeben habe. Dass der vom Beklagten zu 2) angewendete Fußfeger zu den regelkonformen Kampftechniken im Wing Tsun gehöre, sei für die Kammer offenkundig, sodass die Einholung eines Sachverständigengutachtens zu dieser Frage sich erübrige.
14Gegen diese Entscheidung richtet sich die Berufung der Klägerin, mit der sie ihre - was den Feststellungsantrag betrifft - präzisierten Anträge sowie einen Hilfsantrag auf Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das Landgericht verfolgt.
15Zur Begründung führt sie aus, die vom Landgericht aufgeführten Grundsätze der Haftungsbeschränkung seien auf das Schüler-Lehrer-Verhältnis in einer Übungssituation nicht anwendbar. Auch habe das Landgericht versäumt, schuldrechtliche Ansprüche der Klägerin zu prüfen, so dass es auch zu einer falschen Beweislastverteilung gekommen sei. Die Klägerin habe weder ausdrücklich noch konkludent in eine mögliche Verletzung eingewilligt, zumal sie sich in einer Übungs- und Erlernphase befunden habe und sie dem Beklagten zu 2) in kampfsporttechnischer Hinsicht nicht auf Augenhöhe begegnet sei. Der hier angewendete Fußfeger sei nie Gegenstand einer Trainingseinheit bei dem Beklagten zu 2) gewesen und habe wegen seiner Verletzungsträchtigkeit weder dem Ausbildungsstand entsprochen, noch sei es vor dem Hintergrund der höchst unterschiedlichen Ausbildungsstände der Klägerin und des Beklagten zu 2) regelkonform gewesen, den Fußfeger anzuwenden. Dieser entspreche auch nicht den Wing Tsun-Grundsätzen. Es sei auch fehlerhaft, dass das Landgericht Wissen, das es sich auf der Homepage einer renommierten Wing Tsun-Akademie in Berlin angeeignet habe, als offenkundig bezeichnet habe. Damit habe sich das Gericht über die Notwendigkeit der Einholung eines Sachverständigengutachtens hinweggesetzt.
16Wegen des Weiteren Inhalts der Berufungsbegründung wird auf diese Bezug genommen.
17Die Beklagten verteidigen die angefochtene Entscheidung mit näheren Ausführungen.
18II.
19Die Berufung der Klägerin hat insoweit Erfolg, als auf ihren Hilfsantrag hin die angefochtene Entscheidung nebst dem ihr zugrundeliegenden Verfahren aufzuheben und die Sache gem. § 538 Abs. 2 S.1 Nr. 1 ZPO an das Landgericht zurückzuverweisen war. Die angefochtene Entscheidung leidet an einem wesentlichen Mangel, aufgrund dessen eine umfangreiche und aufwändige Beweisaufnahme notwendig ist. Denn das Landgericht hat zu Unrecht eine beweisbedürftige Tatsache als offenkundig angesehen und es aufgrund dessen unterlassen, den gebotenen Sachverstän-digenbeweis zu erheben mit der Folge, dass eine weitere Beweisaufnahme erforderlich wird.
20Der Anspruch der Klägerin stützt sich, soweit es den Beklagten zu 1) betrifft, auf die §§ 280, 278, 249 ff. BGB und, hinsichtlich dem Beklagten zu 2), auf § 823 Abs. 1 BGB. Danach steht der Klägerin Schadensersatz wegen der ihr unstreitig durch den Beklagten zu 2) zugefügten Verletzungen zu, wenn und soweit diese auf einer schuldhaften Pflichtverletzung einer dem Beklagten zu 1) gegenüber der Klägerin aus dem geschlossenen Trainingsvertrag obliegenden Pflicht durch den Beklagten zu 2) beruht, den der Beklagte zu 1) sich gem. § 278 BGB zurechnen lassen muss.
21Dabei ist eine Haftung der Beklagten für das Unfallereignis keineswegs, wie das Landgericht angenommen hat, auf Vorsatz und grobe Regelverletzungen beschränkt. Denn eine solche Haftungsbeschränkung, wie auch immer sie dogmatisch begründet werden mag, ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes nur in sportlichen Wettkampfsituationen mit hohem Verletzungsrisiko gerechtfertigt (vgl. etwa BGH, Urteil vom 07.02.2006, VI ZR 20/05), sodass sich die Anwendung dieser Grundsätze auf das hier bestehende Schüler-Lehrer-Verhältnis in einer Trainingssituation im Rahmen eines bestehenden Schulungsvertrages von vornherein verbietet. Darüber hinaus gelten diese Grundsätze nicht, soweit für etwaige, bei Ausübung des Sports mögliche Verletzungen Versicherungsschutz besteht (BGH, Urteil vom 29. Januar 2008, VI ZR 98/07), wie es hier der Fall ist.
22Gleichwohl wird man auch in der vorliegenden Trainingssituation zwischen Schülerin und Trainer im Hinblick auf die bei Kampfsport- oder Kampfkunstarten nie völlig auszuschließende Verletzungsgefahr eine rechtswidrige Pflichtverletzung nur dann annehmen können, wenn die schadensstiftende Handlung in der konkreten Situation als regelwidrig oder aber fehlerhaft ausgeführt anzusehen ist.
23Insoweit kommen hier mehrere, dem Beklagten zu 2) möglicherweise anzulastende Pflichtverstöße in Betracht, die der Beklagte zu 1) sich nach § 278 BGB zurechnen lassen müsste. Zunächst könnte es pflichtwidrig sein, eine im Wing Tsun ungebräuchliche Abwehrtechnik, nämlich den hier in Rede stehenden Fußfeger, an einem Schüler anzuwenden. Des Weiteren könnte die Anwendung dieses, gegebenenfalls im Wing Tsun zulässigen Fußfegers, hier in der konkreten Situation fehlerhaft gewesen sein, wenn dieser etwa nicht dem Ausbildungsstand der Gruppe und/oder dem individuellen Ausbildungsstand der Klägerin entsprochen hätte und/oder ohne vorherige Übung oder vorherigen Hinweis nicht hätte angewendet werden dürfen, insbesondere in der hier vorliegenden Situation eines nur simulierten Angriffs. Schließlich kommt noch in Betracht, dass der Beklagte zu 2) zwar den Fußfeger grundsätzlich und auch in der konkreten Situation gegenüber der Klägerin hätte einsetzen dürfen, ihn jedoch fehlerhaft ausgeführt hat, etwa, weil sich die Klägerin in einer für die Anwendung dieser Technik ungünstigen Position befand oder der Beklagte zu 2) den Fußfeger versehentlich zu hoch, etwa gegen das Knie statt gegen den Fuß, angesetzt hat.
24Diese Fragen lassen sich ohne sachverständige Hilfe nicht klären. Insoweit hat das Landgericht einen gravierenden Verfahrensfehler begangen, als es die Tatsache der Anwendung eines Fußfegers nach Lektüre einer einschlägigen Homepage im Internet als regelkonform angesehen und mit Rücksicht auf § 291 ZPO die Einholung eines Sachverständigengutachtens unterlassen hat. Offenkundig i. S. d. § 291 ZPO sind nur solche Tatsachen, über die das Gericht zuverlässige offenkundige Kenntnis hat, so etwa allgemeinkundige Tatsachen, Erfahrungssätze oder dem Richter aus seiner amtlichen Tätigkeit bekannte Tatsachen. Dabei sind allgemeinkundig nur solche Tatsachen, die der Richter aufgrund eigener, mit der Allgemeinheit geteilter Wahrnehmungen weiß, sowie allgemein verbreitetes Wissen (Greger in Zöller, ZPO, 33. Aufl., 2021, § 291, Rz. 1 b). In diesem Sinne offenkundig ist es selbstverständlich nicht, ob der Fußfeger im Wing Tsun-Sport gestattet ist oder nicht, erst recht nicht, ob er in der konkreten Situation zulässig war und korrekt ausgeführt wurde. Das Landgericht durfte daher keinesfalls die Einholung des von der Klägerin in 1. Instanz bereits beantragten Sachverständigengutachtens durch die Einsichtnahme einer Homepage im Internet ersetzen.
25Aufgrund dieses Verfahrensfehlers ist eine aufwändige Beweisaufnahme erforderlich, da die oben aufgeführten Fragen durch ein Sportsachverständigengutachten zu klären sind. Soweit es darauf ankommt, wäre auch noch dem von der Klägerin angebotenen Beweisantritt durch Zeugenvernehmung zu der Frage nachzugehen, ob der Fußfeger bereits im Unterricht mit der Klägerin behandelt beziehungsweise praktiziert wurde. Schließlich wird in Bezug auf die korrekte Ausführung des Fußfegers möglicherweise auch noch die Einholung eines medizinischen Sachverständigen-gutachtens erforderlich, welches darüber Aufschluss gibt, wie genau und an welcher Stelle die Klägerin verletzt worden ist und ob dies der korrekten Ausführung des Fußfegers entspricht, was wiederum durch den Sportsachverständigen zu prüfen sein wird.
26Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 10 ZPO.
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Referenzen
- BGB § 280 Schadensersatz wegen Pflichtverletzung 1x
- BGB § 278 Verantwortlichkeit des Schuldners für Dritte 3x
- §§ 280, 278, 249 ff. BGB 1x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 291 Offenkundige Tatsachen 2x
- ZPO § 538 Zurückverweisung 1x
- BGB § 823 Schadensersatzpflicht 1x
- ZPO § 708 Vorläufige Vollstreckbarkeit ohne Sicherheitsleistung 1x
- VI ZR 20/05 1x (nicht zugeordnet)
- VI ZR 98/07 1x (nicht zugeordnet)