Beschluss vom Hanseatisches Oberlandesgericht - 2 Rev 96/17

Tenor

Auf die Revision der Angeklagten wird das Urteil des Landgerichts Hamburg, Kleine Strafkammer 11, vom 24. März 2017 aufgehoben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung - auch über die Kosten der Revision - an eine andere Kleine Strafkammer des Landgerichts Hamburg zurückverwiesen.

Gründe

I.

1

Das Amtsgericht Hamburg-Harburg hat die Angeklagte am 30. Oktober 2015 wegen „räuberischer Erpressung in Tateinheit mit Sachbeschädigung in Tateinheit mit Körperverletzung sowie Sachbeschädigung in zwei Fällen“ zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr und einem Monat verurteilt und deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt. Hiergegen hat die Angeklagte mit am 6. November 2015 beim Amtsgericht eingegangenem Verteidigerschriftsatz Berufung eingelegt.

2

Zu den Berufungshauptverhandlungen am 12. Dezember 2016 und nach Aussetzung am 6. März 2017 ist die Angeklagte nicht erscheinen, jedoch jeweils ihr Verteidiger unter Verweis auf eine zur Akte gereichte, von der Angeklagten unterschriebene Vollmacht, die Angeklagte „in der Berufungshauptverhandlung vor dem Landgericht Hamburg zum Aktenzeichen 711 Ns 15/16 gegen das Urteil des Amtsgerichts Hamburg-Harburg vom 30. Oktober 2015 zum Aktenzeichen 618 Ls 349/14 im Sinne von § 329 Abs. 1 Satz 1 StPO zu vertreten“.

3

Zum auf den 24. März 2017 anberaumten Fortsetzungstermin, zu dem die Angeklagte unter Hinweis auf § 329 StPO geladen worden war, sind die Angeklagte und ihr Verteidiger erschienen. Jedoch hat sich die Angeklagte trotz Hinweises, dass ihre Anwesenheit weiterhin erforderlich sei, nach ihrer Vernehmung zur Sache während der Beweisaufnahme aus der Verhandlung entfernt. Daraufhin hat die Kammer auf Antrag der Staatsanwaltschaft durch am selben Tag in Anwesenheit des weiterhin vertretungsbereiten Verteidigers verkündetes Urteil die Berufung der Angeklagten ohne Entscheidung in der Sache verworfen.

4

Gegen das Berufungsurteil hat der Verteidiger mit am 27. März 2017 beim Landgericht eingegangenem Schriftsatz Revision eingelegt, diese nach Zustellung des Urteils am 10. April 2017 mit am 9. Mai 2017 eingegangenem Schriftsatz mit der Sachrüge und der Verfahrensrüge der Verletzung des § 329 StPO begründet sowie Urteilsaufhebung und Zurückverweisung der Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung beantragt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat auf die Verwerfung der Revision gemäß § 349 Abs. 2 StPO angetragen.

II.

5

Die zulässige Revision hat mit der den Anforderungen des § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO genügenden Verfahrensrüge jedenfalls vorläufigen Erfolg. Das Landgericht hätte die Berufung der Angeklagten nicht ohne weitere Sachbehandlung verwerfen dürfen.

6

1. Die Berufung war nicht nach § 329 Abs. 1 StPO zu verwerfen, insbesondere nicht aufgrund der Entfernung der Angeklagten aus der Verhandlung ohne genügende Entschuldigung i.S.d. § 329 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 StPO, weil ein Verteidiger mit schriftlicher bzw. - nach der seit dem 1. Januar 2018 gültigen Gesetzesfassung - nachgewiesener Vollmacht anwesend war. Eine Verwerfung nach § 329 Abs. 1 StPO ist nicht möglich, wenn statt des Angeklagten ein entsprechend bevollmächtigter und vertretungsbereiter Verteidiger anwesend ist (BT-Drs. 18/3562 S. 2 und 61; Meyer-Goßner/Schmitt § 329 Rn. 15).

7

2. Die Berufung konnte auch nicht gemäß § 329 Abs. 4 Satz 2 StPO verworfen werden, weil es - ungeachtet der weiteren Voraussetzungen des § 329 Abs. 4 StPO - jedenfalls an einem Nichterscheinen der Angeklagten zum Fortsetzungstermin fehlte.

8

a) Nach § 329 Abs. 4 StPO hat das Gericht die Berufung des Angeklagten zu verwerfen, wenn der Angeklagte, dessen Anwesenheit trotz Vertretung durch einen Verteidiger erforderlich ist, zur Fortsetzung der Hauptverhandlung unter Anordnung seines persönlichen Erscheinens und Belehrung über die Möglichkeit der Verwerfung geladen wurde, aber auch zum Fortsetzungstermin ohne genügende Entschuldigung nicht erscheint und seine Anwesenheit weiterhin erforderlich bleibt.

9

b) Daran gemessen liegen die Voraussetzungen für eine Verwerfung ohne Sachentscheidung nicht vor, weil die Angeklagte zum Fortsetzungstermin erschienen ist und sich erst im Laufe der Verhandlung entfernt hat.

10

aa) Bereits nach Wortlaut und Wortsinn ist bzw. war ein bei Aufruf der Sache anwesender Angeklagter erschienen, auch wenn er sich nach seinem Erscheinen zu einem späteren Zeitpunkt entfernt.

11

bb) Eine analoge Anwendung des § 329 Abs. 4 Satz 2 StPO auf den zum Termin erschienenen, aber sich zu einem späteren Zeitpunkt entfernenden Angeklagten ist nicht angezeigt.

12

(1) Schon zu § 329 StPO a.F. war anerkannt, dass die Vorschriften über die Verwerfung der Berufung als Ausnahme von dem Grundsatz des § 230 Abs. 1 StPO, demzufolge gegen einen ausgebliebenen Angeklagten eine Hauptverhandlung nicht stattfindet, einer extensiven Auslegung und Anwendung über ihren Wortlaut hinaus nicht zugänglich sind. So war schon bisher nach einhelliger Auffassung eine Verwerfung wegen Nichterscheinens nicht statthaft, wenn der Angeklagte zu Beginn der Hauptverhandlung erscheint und sich erst später entfernt (BGHSt 23, 331, 332 f.; RGSt 63, 53, 57; KK-StPO/Paul § 329 Rn. 4; LR-Gössel § 329 Rn. 11).

13

(2) Dieses Verständnis des § 329 StPO hat der Reformgesetzgeber bestätigt. Nach der Intention des Gesetzgebers ist ein Angeklagter erschienen, wenn er zum Beginn des Hauptverhandlungstermins bei Feststellung des Erscheinens anwesend ist. Alle Umstände, die nach Beginn des Hauptverhandlungstermins und Feststellung des Erscheinens eintreten, etwa dass sich der Angeklagte später aus dem Hauptverhandlungstermin entfernt, stellen auch nach der Neuregelung des § 329 StPO kein „Nichterscheinen“ dar (so ausdrücklich BT-Drs. 18/3562 S. 69 f.). In Abgrenzung zum „Nichterscheinen“ wählt der Gesetzgeber vielmehr den Begriff der „Abwesenheit“ in § 329 Abs. 2 Satz 1 StPO, wenn alle Fälle mangelnder Anwesenheit des Angeklagten während der Hauptverhandlung erfasst werden sollen, etwa auch wenn der Angeklagte zeitweilig anwesend war (BT-Drs. aaO. S. 74).

14

(3) Gegen eine über den Wortsinn hinausreichende Auslegung oder die Annahme einer planwidrigen Regelungslücke spricht schließlich auch der Ausnahmecharakter des § 329 Abs. 4 StPO innerhalb der Systematik der Verwerfungsvorschriften des § 329 StPO. Eine Berufungsverwerfung trotz Anwesenheit eines bevollmächtigten Verteidigers erfolgt nur unter zusätzlichen Voraussetzungen und innerhalb wesentlich engerer Grenzen als nach § 329 Abs. 1 Satz 1 und 2 StPO. Denn mit dem der Neuregelung zugrunde liegenden „Gesetz zur Stärkung der Rechte des Angeklagten auf Vertretung in der Berufungsverhandlung...“ vom 17. Juli 2015 (BGBl. I S. 1933) soll in Umsetzung des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 8. November 2012 in der Rechtssache Neziraj ./. Bundesrepublik Deutschland das durch Artikel 6 Abs. 3 lit. c) EMRK garantierte Recht des Angeklagten, sich durch einen Verteidiger seiner Wahl verteidigen zu lassen, gestärkt werden.

15

(a) Nach dem Gesetzentwurf der Bundesregierung sollte § 329 StPO nach Maßgabe des vorgenannten Urteils des EGMR dahingehend geändert werden, dass die Berufung eines Angeklagten überhaupt nicht ohne Sachentscheidung verworfen werden kann, solange statt des Angeklagten ein entsprechend bevollmächtigter und vertretungsbereiter Verteidiger anwesend ist (BT-Drs. aaO. S. 2 und 7 f.). Soweit besondere Gründe die Anwesenheit des Angeklagten in der mündlichen Verhandlung erfordern, sollte die Anwesenheit durch andere Mittel als durch die Einschränkung oder den Verlust des Rechts, sich in Abwesenheit durch einen Verteidiger verteidigen zu lassen, sichergestellt werden, nämlich durch die Zwangsmittel der Vorführung oder Hauptverhandlungshaft (BT-Drs. aaO. S. 51 [unter Verweis auf EGMR aaO. Rn. 51] und S. 61). Entsprechend sollte nach § 329 Abs. 3 StPO-E die Vorführung oder Verhaftung des Angeklagten anzuordnen sein, wenn wegen Erforderlichkeit seiner Anwesenheit eine Verhandlung gegen den nicht anwesenden Angeklagten nicht zulässig ist (BT-Drs. aaO S. 7 f.).

16

(b) Erst infolge einer Beschlussempfehlung und des Berichts des Ausschusses für Recht und Verbraucherschutz (BT-Drs. 18/5254) ist im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens mit § 329 Abs. 4 StPO überhaupt die Möglichkeit einer Verwerfung der Berufung des abwesenden Angeklagten ohne Sachentscheidung trotz Vertretung durch einen anwesenden Verteidiger geschaffen worden. Dabei legt der Gesetzgeber die vorgenannte Entscheidung des EGMR, wonach Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 6 Abs. 3 lit. c) EMRK verletzt sei, wenn trotz Anwesenheit eines verteidigungsbereiten Verteidigers die Berufung des Angeklagten ohne Verhandlung zur Sache verworfen wird, dahingehend aus, dass es sich konventionsrechtlich noch „in den zulässigen Grenzen“ halte, wenn die Berufung des Angeklagten ohne Verhandlung zur Sache erst verworfen wird, nachdem die Hauptverhandlung unterbrochen und der Angeklagte mit der Anordnung des persönlichen Erscheinens und Belehrung über die Möglichkeit der Verwerfung neu geladen wird, sich aber der Verhandlung weiterhin vollständig durch Abwesenheit entzieht, obwohl seine Anwesenheit erforderlich bleibt (zustimmend: SK-StPO/Frisch § 329 Rn. 51e; Spitzer StV 2016, 48, 54; kritisch: BeckOK-StPO/Eschelbach § 329 Rn. 45; Sommer StV 2016, 55, 58).

17

(c) Da der Gesetzgeber im Rahmen der Neuregelung des § 329 Abs. 1 StPO im Blick hatte, dass ein „Nichterscheinen“ nicht alle Fälle der Abwesenheit erfasst, und deshalb einerseits die Verwerfungsmöglichkeiten bei Abwesenheit eines bevollmächtigten Verteidigers in § 329 Abs. 1 Satz 2 StPO gegenüber der früheren Rechtslage entsprechend ausgeweitet hat, andererseits aber im Lichte der Grenzen des Art. 6Abs. 3 lit. c) EMRK bei Anwesenheit eines bevollmächtigten Verteidigers die Verwerfung in § 329 Abs. 4 StPO bewusst an sehr viel engere Voraussetzungen als in § 329 Abs. 1 StPO geknüpft hat, ist eine planwidrigen Regelungslücke nicht ersichtlich.

18

(4) Dieses Ergebnis wird schließlich nicht dadurch in Frage gestellt, dass § 329 Abs. 3 StPO n.F. keine Zwangsmittel gegen einen Angeklagten benennt, der sich trotz Erforderlichkeit seiner Anwesenheit aus der Verhandlung entfernt. Denn neben der Ladung zu einem weiteren Fortsetzungstermin und ggf. Verwerfung nach Maßgabe des § 329 Abs. 4 Satz 2 StPO kann der Vorsitzende, solange die Anwesenheit des Angeklagten für eine Sachentscheidung erforderlich bleibt, auch gemäß §§ 332, 231 Abs. 1 Satz 2 StPO geeignete Maßnahmen treffen, um die Entfernung des Angeklagten zu verhindern, und den Angeklagten während einer Unterbrechung der Verhandlung in Gewahrsam halten lassen.

19

(a) Nach dem der Reform des § 329 StPO zugrunde liegenden Regelungskonzept soll „in allen Fällen, in denen die Aufklärungspflicht des Gerichts die persönliche Anwesenheit des Angeklagten gebietet“, die Anwesenheit des Angeklagten auch weiterhin durch Zwangsmittel sichergestellt werden können (BT-Drs. 18/3562 S. 61). Dagegen sind in allen anderen Fällen, in denen die Voraussetzungen für eine Verwerfung der Berufung oder für eine Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten vorliegen, Zwangsmittel gegen den nicht erschienen Angeklagten ausgeschlossen und insoweit auch nicht in das Ermessen des Gerichts gestellt (BT-Drs. aaO. S. 74; Meyer-Goßner/Schmitt § 329 Rn. 45; vgl. zur insoweit auch schon nach früherem Recht geltenden Rechtslage: BVerfG NJW 2001, 1341; KK-StPO/Paul § 329 Rn. 20; SK-StPO/Frisch § 329 Rn. 54 mit ausführlichen weiteren Nachw. in Fn. 467 und 468). Entsprechend ist es im Rahmen der Verhandlung über die Berufung eines Angeklagten ohne bevollmächtigten Verteidiger innerhalb des Anwendungsbereichs des § 329 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 StPO nicht mehr gerechtfertigt, den Angeklagten gemäß §§ 332, 231 Abs. 1 Satz 2 StPO am Entfernen zu hindern (BT-Drs. aaO. S. 71). Vielmehr ist beim Vorliegen der Voraussetzungen des § 329 Abs. 1 StPO die Anwendung der §§ 231, 231a StPO ausgeschlossen (BT-Drs. aaO. S. 74).

20

(b) Während dagegen nach § 329 Abs. 3 StPO-E des Gesetzesentwurfs der Bundesregierung (BT-Drs. aaO. S. 8) Zwangsmaßnahmen gegen den durch einen bevollmächtigten Anwalt vertretenen, aber anwesenheitspflichtigen Angeklagten zulässig bleiben sollten, wurde im Laufe des Gesetzgebungsverfahrens „vorgeschlagen, in Absatz 4 anstelle der Vorführung oder Verhaftung eine Unterbrechung der Hauptverhandlung vorzusehen und den Angeklagten zum Fortsetzungstermin unter ausdrücklicher Anordnung seines persönlichen Erscheinens zu laden“ (BT-Drs. 18/5254 S. 6) mit der Folge einer zwingenden Berufungsverwerfung im Falle des Nichterscheinens. Als Korrelat zur neuen, zusätzlichen Verwerfungsmöglichkeit nach § 329 Abs. 4 StPO wurde die Vorschrift des § 329 Abs. 3 StPO entsprechend enger gefasst und die Anordnung der Vorführung und Verhaftung auf Fälle einer Berufung der Staatsanwaltschaft oder des § 329 Abs. 1 Satz 4 StPO beschränkt (vgl. zur Gesetzgebungsgeschichte auch: SK-StPO/Frisch § 329 Rn. 54a). Freiheitsbeschränkende Zwangsmaßnahmen der Verhaftung und Vorführung sind demnach nicht mehr zulässig, wenn die Berufung nach § 329 Abs. 4 Satz 2 StPO verworfen werden kann (BT-Drs. aaO. S. 6).

21

Anders als für den Anwendungsbereich des vorangestellten § 329 Abs. 1 StPO, für den der Gesetzgeber mit der lex specialis des § 329 Abs. 3 StPO auch Zwangsmittel nach § 231 Abs. 1 Satz 2 StPO ausschließen wollte, schweigt der Gesetzgeber aber zur Frage der Anwendbarkeit des § 231 Abs. 1 StPO auf Fälle, welche den Anwendungsbereich des im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens nachträglich angefügten § 329 Abs. 4 StPO betreffen.

22

Insoweit muss daher das allgemeine, unter Ziff. II. 2. lit. b) bb) (4) (a) dargestellte Regelungskonzept gelten, wonach Zwangsmaßnahmen nur insoweit ausgeschlossen sind, soweit das Verfahren in Abwesenheit des Angeklagten auf andere Weise, nämlich durch Verwerfung ohne Sachverhandlung oder durch Sachentscheidung ohne Anwesenheit des Angeklagten abgeschlossen werden kann. Da anders als in Fällen des § 329 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 StPO eine Verwerfung unter den Voraussetzungen des § 329 Abs. 4 nicht möglich ist, wenn sich der durch einen bevollmächtigten Verteidiger vertretene und zum Fortsetzungstermin erschienene Angeklagte entfernt, obwohl seine Anwesenheit weiterhin erforderlich ist, bleiben in diesen Fällen Zwangsmaßnahmen nach §§ 332, 231 Abs. 1 Satz 2 StPO möglich.

23

3. Die fehlerhafte Anwendung des § 329 StPO führt zur Aufhebung des Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an eine andere Kleine Strafkammer des Landgerichts zu erneuter Entscheidung (§§ 353, 354 Abs. 2 S. 1 StPO), auch über die Kosten des derzeit nur vorläufig erfolgreichen Rechtsmittels.

Verwandte Urteile

Keine verwandten Inhalte vorhanden.

Referenzen