Beschluss vom Oberlandesgericht Naumburg (1. Strafsenat) - 1 Ws 606/13

Tenor

1. Auf die sofortige Beschwerde des Betroffenen wird der Beschluss der großen Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Stendal vom 20. August 2013 aufgehoben.

2. Die Unterbringung des Betroffenen in einem psychiatrischen Krankenhaus aufgrund des Urteils des Landgerichts Dessau vom 24. April 1996 (2 KLs 6/95) wird mit sofortiger Wirkung für erledigt erklärt.

Der Betroffene ist unverzüglich aus dem Vollzug der Unterbringung zu entlassen.

3. Die Vollstreckung der durch Urteil des Landgerichts Dessau vom 24. April 1996 (2 KLs 6/95) parallel verhängten Gesamtstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe wird, soweit sie nicht durch Anrechnung erledigt ist, für erledigt erklärt.

4. Mit der Entlassung aus dem Vollzug der Maßregel tritt Führungsaufsicht ein.

5. Die Dauer der Führungsaufsicht wird auf fünf Jahre festgesetzt.

6. Der Betroffenen wird für die Dauer der Führungsaufsicht der Aufsicht und Leitung eines Bewährungshelfers unterstellt.

7. Die weitere Ausgestaltung der Führungsaufsicht wird der Strafvollstreckungskammer übertragen.

8. Die Staatskasse hat die Kosten des Verfahrens über die Beschwerde und die insoweit entstandenen notwendigen Auslagen des Betroffenen zu tragen.

Gründe

I.

1

Das Landgericht Dessau hat den bis dahin strafrechtlich nicht in Erscheinung getretenen Betroffenen mit dem seit dem 23. Oktober 1996 rechtskräftigen Urteil vom 24. April 1996 (2 KLs 6/95) unter Freisprechung im Übrigen wegen zweifachen sexuellen Missbrauchs von Kindern in zwei Fällen, in einem Fall in Tateinheit mit sexueller Nötigung, begangen im Zustand verminderter Schuldfähigkeit im Sinne des § 21 StGB, zu einer Gesamtstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe verurteilt und darüber hinaus die Unterbringung des Betroffenen in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.

2

Der Betroffene befindet sich seit dem 06. Januar 1997 im Maßregelvollzug.

3

Die große Strafvollstreckungskammer des Landgerichts Stendal hat mit Beschluss vom 20. August 2013 (504 StVK 97/13) zum wiederholten Male die Fortdauer der Unterbringung des Betroffenen in einem psychiatrischen Krankenhaus angeordnet.

4

Gegen den seinem Verteidiger am 02. September 2013 zugestellten Beschluss hat der Verurteilte mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 03. September 2013, eingegangen bei dem Landgericht Stendal am selben Tag, sofortige Beschwerde eingelegt.

5

Die Generalstaatsanwaltschaft hat in ihrer Zuschrift an den Senat vom 27. September 2013 (105 Ws 482/13) beantragt, den Beschluss des Landgerichts Stendal auf die sofortige Beschwerde aufzuheben und die Sache zur erneuten Entscheidung an die große Strafvollstreckungskammer zurückzuverweisen.

II.

6

Das gemäß §§ 463 Abs. 3 Satz 1, 454 Abs. 3 Satz 1, 311 StPO zulässige Rechtsmittel hat in der Sache Erfolg und führt zur Aufhebung der Entscheidung der Strafvollstreckungskammer vom 20. August 2013.

7

Die weitere Vollstreckung der Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus ist gemäß § 67d Abs. 6 Satz 1 StGB für erledigt zu erklären, wenn die Voraussetzungen der Maßregelanordnung nicht mehr bestehen oder die weitere Vollstreckung der Maßregel unverhältnismäßig wäre.

8

Die Voraussetzungen für die Maßregelanordnung liegen nicht mehr vor, wenn der Zustand, auf Grund dessen Feststellung die Unterbringung erfolgt ist, nicht oder nicht mehr besteht (Fischer, StGB, 60. Aufl., § 67d Rn 23 m.w.N.).

9

Die Feststellungen des zur Einweisung führenden Zustandes beruhen auf dem Gutachten des Dr. med. B. vom 16. August 1995, wonach der Verurteilte bei einem sehr niedrigen Intelligenzniveau sowohl an einer Alkoholkrankheit als auch an einer pädophilen Persönlichkeitsstörung litt.

10

Nach dem von der große Strafvollstreckungskammer eingeholten aktuellen schriftlichen Gutachten des Sachverständigen Dr. med. H. vom 13. Mai 2013 liegen bei dem Verurteilten gegenwärtig eine leichte Intelligenzminderung (ICD10: F 70), ein Alkoholabhängigkeitssyndrom, derzeit abstinent in beschützter Umgebung (ICD 10: F 10.21) sowie eine - fragliche - Pädophilie (ICD 10: F 65.4) vor. Das Vorliegen einer Persönlichkeitsstörung schloss der Gutachter nunmehr aus.

11

Im Rahmen der mündlichen Anhörung des Verurteilten am 12. August 2013 gab der Gutachten an, dass „bei dem Betroffenen zum gegenwärtigen Zeitpunkt pädophile Neigungen festzustellen seien, die für sich genommen aber keinen Zustand im Sinne des § 63 StGB begründeten. Auch die Intelligenzminderung für sich genommen könne nicht ohne weiteres als Zustand im Sinne des § 63 StGB qualifiziert werden.“

12

In ihrer aktuellen Stellungnahme vom 06. Juni 2013 geht die Maßregelvollzugseinrichtung ebenfalls vom Vorliegen der vom Gutachter Dr. med. H. genannten Diagnosen aus.

13

Zur Begründung ihrer Entscheidung nimmt die Strafvollstreckungskammer auf diese Einschätzungen Bezug und führt aus, dass die Unterbringung nicht für erledigt zu erklären sei, weil der Zustand, der zur Unterbringung des Betroffenen geführt habe, nicht entfallen sei. Bei dem Betroffenen lägen eine leichte Intelligenzminderung (ICD-10: F 70), ein Alkoholabhängigkeitssyndrom, derzeit abstinent in beschützender Umgebung (ICD-10: F 10.21) und eine Pädophilie (ICD-10: F 65.4) vor.

14

Zwar ist den Ausführungen der - sachverständig beratenen - Strafvollstreckungskammer insoweit zuzustimmen, dass von dem Betroffenen weitere sexuelle Übergriffe zu erwarten sind, wenn dieser in einer krisenhafte Entwicklung unter Stress geraten und wieder Alkohol konsumieren sollte.

15

Allerdings lassen die Ausführungen der Strafvollstreckungskammer die Feststellung vermissen, dass bei dem Betroffenen überhaupt - noch - ein überdauernder, die Fortdauer der Unterbringung im Maßregelvollzug rechtfertigender Zustand erheblich beeinträchtigter Steuerungsfähigkeit vorliegt. Die Kammer zitiert insoweit lediglich die gutachterliche Stellungnahme des Dr. med. H. , wonach das Zusammenwirken pädophiler Neigungen, der Intelligenzminderung und auch der latenten Alkoholsuchtproblematik in entsprechenden Situationen die Urteils- und Kritikfähigkeit einschränke.

16

Diesen Feststellungen ist die Annahme einer erheblichen Beeinträchtigung der Steuerungsfähigkeit sowohl aufgrund der einzelnen - jeweils für sich nicht mehr als schwer diagnostizierten - Störungen als auch im Hinblick auf das Zusammenwirken der Störungen nicht zu entnehmen.

17

Allein das Vorliegen der diagnostizierten Störungen rechtfertigt die weitere Unterbringung nach § 63 StGB nicht. Die für ihre Fortdauer erforderliche Schwere ist nach den Ausführungen der Kammer in dem angefochtenen Beschluss offensichtlich nicht mehr feststellbar.

18

Darüber hinaus wäre auch unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit der Fortdauer der Maßregel die Aufhebung der Unterbringung in Betracht zu ziehen.

19

Das Verfassungsgebot der Verhältnismäßigkeit staatlich erzwungener Freiheitsbeschränkungen zwingt dazu, die Unterbringung eines Täters nur so lange zu vollstrecken, wie der Zweck der Maßregel es unabweisbar erfordert und weniger belastende Maßnahmen nicht genügen (vgl. BVerfG Beschluss vom 04. Oktober 2012 - 2 BvR 442/12 = NStZ-RR 2013, 72; Beschluss vom 27. März 2012 - 2 BvR 2258/09 = NJW 2012, 1784; BVerfG 70, 297 = NJW 1986, 767).

20

Die Beurteilung hat sich darauf zu erstrecken, ob und von welcher Art rechtswidrige Taten von dem Untergebrachten drohen, wie ausgeprägt das Maß der Gefährdung ist und welches Gewicht den bedrohten Rechtsgütern zukommt. Zu erwägen sind dabei das frühere Verhalten des Untergebrachten und von ihm bisher begangene Taten. Je länger die Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus andauert, umso strenger sind die Voraussetzungen für die Verhältnismäßigkeit des Freiheitsentzuges (vgl. BVerfG a.a.O.). Dabei ist die mögliche Gefährdung der Allgemeinheit zur Dauer des Freiheitsentzugs in Beziehung zu setzen. Die Dauer der Freiheitsentziehung ist mit den Anlasstaten und mit möglicherweise anderen im Falle einer Freilassung zu erwartenden Taten abzuwägen (BVerfG a.a.O.; vgl. auch OLG Oldenburg, StV 2008, 593; KG, StV 2007, 432).

21

Eine nach diesen Grundsätzen durchgeführte Abwägung könnte zur Unverhältnismäßigkeit einer weiteren Vollziehung der Unterbringung führen.

22

Vom Verurteilten drohen nach den Feststellungen des Sachverständigen mit einer Wahrscheinlichkeit von 20 - 30 % über der Basisrate Straftaten der bisher begangenen Art und damit mittelschwere Sexualdelikte.

23

Der so zu umschreibenden vom Verurteilten ausgehenden Gefahr für die Allgemeinheit steht die extrem lange Dauer der bisher annähernd 17 Jahre vollzogenen Unterbringung gegenüber, welche das Höchstmaß zeitiger Freiheitsstrafe von 15 Jahren bereits übersteigt und schon nahezu das siebenfache der verhängten Gesamtstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe beträgt.

24

Fehlen die Voraussetzungen für eine Fortdauer der Unterbringung, so ist die unverzügliche Entlassung des Betroffenen anzuordnen. Eine - auch zeitlich befristete - Fortdauer  der Unterbringung zwecks Durchführung von Entlassungsvorbereitungen kommt insofern nicht in Betracht (vgl. BVerfG Beschluss vom 15.09.2011 - 2 BvR 1516/11; zitiert nach juris). Allerdings ist es im Hinblick auf den Resozialisierungsanspruch des Betroffenen geboten, notwendigen aber fehlenden Entlassungsvorbereitungen durch Begleitung und geeignete Weisungen im Rahmen der Führungsaufsicht Rechnung zu tragen (BVerfG aaO.).

25

Der Vollzug der Maßregel über annähernd 17 Jahre und damit des annähernd siebenfachen der verhängten Begleitstrafe gebietet es überdies, auch die Vollstreckung des Restes der durch Urteil des Landgerichts Dessau vom 24. April 1996 verhängten Gesamtstrafe von zwei Jahren und sechs Monaten Freiheitsstrafe, soweit sie nicht durch Anrechnung erledigt ist, trotz ungünstiger Prognose gemäß § 57 Abs. 1 StGB für erledigt zu erklären.

26

Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ist auch im Rahmen der Prüfung der Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung zu berücksichtigen (BVerfG, Beschluss vom 22.06.2012 - 2 BvR 22/12 = StV 2013, 217f.). Je länger der Freiheitsentzug insgesamt dauert, umso strenger sind die Voraussetzungen für dessen Verhältnismäßigkeit (BVerfG a.a.O.; BVerfGE 70, 297).

27

Nach diesen Maßstäben ist vorliegend der Strafrest aus der Begleitstrafe für erledigt zu erklären.

28

Mit der Erledigung der Unterbringung tritt Führungsaufsicht kraft Gesetzes ein, § 67d Abs. 6 Satz 2 StGB. Da nicht zu erwarten ist, dass der Betroffene auch ohne engmaschige Betreuung keine Straftaten begehen wird, kann der Nichteintritt der Führungsaufsicht nicht angeordnet werden, § 67d Abs. 6 Satz 3 StGB.

29

Der Senat hat die Dauer der Führungsaufsichtszeit gemäß § 68a Abs. 1 StGB auf fünf Jahre festgesetzt und den Betroffenen gemäß § 68c Abs. 1 StGB einem Bewährungshelfer unterstellt.

30

Da die nähere Ausgestaltung der Führungsaufsicht durch Weisungen zur Behandlung, Lebensführung und Überwachung des Verurteilten zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht möglich ist, hat sie der Senat der zuständigen Strafvollstreckungskammer übertragen (OLG Karlsruhe, NStZ-RR 2005, 338 ff.).

III.

31

Die Kostenfolge beruht auf § 467 Abs. 1 StPO in entsprechender Anwendung.


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