Beschluss vom Oberlandesgericht Rostock (1. Strafsenat) - 20 Ws 8/17

Tenor

1. Die sofortige Beschwerde des Verurteilten gegen den Beschluss des Landgerichts Stralsund - 23. Kleine Strafvollstreckungskammer - vom 21.12.2016 wird als unbegründet verworfen.

2. Der Beschwerdeführer trägt die Kosten seines Rechtsmittels.

Gründe

I.

1.

1

Durch rechtskräftigen Beschluss vom 24.11.2016 hat die Strafvollstreckungskammer den Rest der Gesamtfreiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten, die gegen den Beschwerdeführer mit Urteil des Landgerichts Stralsund vom 16.06.2015 wegen schweren sexuellen Missbrauchs von Kindern in 12 Fällen unter Einbeziehung weiterer Einzelstrafen aus der aufgelösten Gesamtfreiheitsstrafe des Amtsgerichts Bergen vom 30.09.2014 verhängt worden war, mit der Maßgabe zur Bewährung ausgesetzt, dass der Verurteilte nach Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe am 08.01.2017 aus der Haft zu entlassen sei. Dem Verurteilten wurde u.a. verboten, jeden Kontakt zu der am 01.11.2000 geborenen und durch die Sexualdelikte geschädigten M.-L. K. aufzunehmen.

2.

2

Mit Anwaltsschreiben vom 13.12.2016 zeigte die Geschädigte an, der Verurteilte habe ihr am 08.12.2016 vor der Förderschule in B. stehend „aufgelauert“, als sie nach Beendigung der Schulzeit das Gelände verlassen habe.

3

In ihrer polizeilichen Vernehmung vom 22.12.2016 hat die Geschädigte diese Angaben dahin präzisiert, sie habe das Gelände der Förderschule ... am 08.12.2016 nach dem Schulschluss um 12:55 Uhr in Begleitung ihres Schulfreundes N. H. verlassen. Zu ihrer Überraschung habe sie dort den Verurteilten gesehen, der ihr auf dem Bürgersteig der an dieser Stelle nur schmalen Zufahrtsstraße zum Schulgelände entgegengekommen sei. Sie habe sofort ihren Freund mit den Worten „Da ist er!“ auf den Verurteilten hingewiesen und auf Nachfrage des N. H. erklärt, dass sei „der, der mir damals Drogen gegeben hat“. Der Verurteilte habe sie im Vorbeigehen „von oben nach unten angestarrt“ und dabei einen „fiesen Blick“ gehabt. Er habe sie jedoch nicht angesprochen. Sie habe Angst gehabt, weil ihr der Verurteilte aus der Haft heraus zwei Briefe geschrieben habe. In dem einen habe er ihr die Gründe für sein abgeurteiltes strafbares Verhalten erklärt. In dem zweiten Brief, der zwei bis drei Wochen später eintraf, habe er ihr sinngemäß damit gedroht, er werde sie aufsuchen, denn er wüsste ja, wo er sie finden könne. Dann werde sie sehen, was sie davon habe. Er habe ihr dabei die Schuld daran gegeben, dass „es soweit gekommen sei“ und er nun „im Knast sitze“. Von diesen Briefen habe sie bislang niemandem erzählt und beide verbrannt. Sie habe von ihrem Anwalt erfahren, dass der Verurteilte erst im Jahr 2017 aus der Haft entlassen werde und sich deshalb Ende 2016 sicher gefühlt und sich „frei bewegen“ können. Sie sei daher sehr erstaunt gewesen, den Verurteilten am besagten Tag vor der Schule anzutreffen.

4

Aus der Mitteilung der Haftanstalt ist ersichtlich, dass der Verurteilte am 08.12.2016 im Zuge entlassungsvorbereitender Maßnahmen Ausgang hatte. Er selbst räumt ein, sich zur fraglichen Zeit in B. aufgehalten zu haben, wo er sich um eine Wohnung bemüht sowie Bankgeschäfte erledigt habe. Er bestreitet allerdings, vor der Schule auf die Geschädigte gewartet und diese dort getroffen zu haben. Insoweit beruft er sich auf das Alibi eines benannten Zeugen, der ihn zum fraglichen Zeitpunkt ständig begleitet habe.

3.

5

Nachdem die Strafvollstreckungskammer von diesem Vorfall Kenntnis erlangt hatte, hat sie, nachdem der Verurteilte durch Vermittlung der Haftanstalt rechtliches Gehör hatte, mit Beschluss vom 21.12.2016 den Aufschub der bedingten Haftentlassung angeordnet, da nunmehr geprüft werden müsse, ob eine Aufhebung der Strafaussetzung nach § 454a Abs. 2 StPO in Betracht komme. Die Anordnung geschehe zunächst zur Sicherung dieses Verfahrens, denn der neue Vorfall bedürfe noch weiterer Aufklärung. Dagegen wendet sich der Verurteilte mit seiner rechtzeitig eingelegten sofortigen Beschwerde vom 21.12.2016, die am selben Tag beim Landgericht eingegangen ist.

II.

6

Das nach den §§ 454a Abs. 2 Satz 1 2. Halbsatz, 454 Abs. 3 Satz 1 StPO statthafte Rechtsmittel ist unbegründet.

1.

7

Allerdings hat die Strafvollstreckungskammer, wie sich aus dem angefochtenen Beschluss ergibt, hier nicht abschließend nach § 454a Abs. 2 StPO entschieden. Sie hat bisher weder die Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung aufgehoben noch, was vorrangig zu prüfen sein wird (dazu Graalmann-Scheerer in LR-StPO, 26. Aufl. § 454a Rdn. 10, Meyer-Goßner/Schmitt, StPO 59. Aufl. § 454a Rdn. 4; OLG Saarbrücken NStE Nr. 4 zu § 454a StPO), darüber befunden, ob wegen des Weisungsverstoßes vom 08.12.2016 der Widerruf der Strafaussetzung in Betracht kommt.

8

Dennoch konnte das Landgericht seine lediglich zur Sicherung des weiteren Prüfungsverfahrens ergangene vorläufige Anordnung auf § 454a Abs. 2 StPO stützen. Zweck dieser Vorschrift ist es letztlich, den Strafvollstreckungskammern die Möglichkeit zu eröffnen, frühzeitige Entlassungsentscheidungen zu treffen. Solche sind nur dann zu verantworten, wenn das Gesetz die Korrektur aufgrund neu eingetretener oder bekanntgewordener Tatsachen bis kurz vor einer angeordneten Haftentlassung ermöglicht (dazu Graalmann-Scheerer aaO Rdn. 16). § 454a Abs. 2 StPO soll deshalb einen Ausgleich dafür schaffen, dass die zu einer frühen Aussetzungsentscheidung herangezogene - schmalere - Prognosebasis oft mit dem Risiko behaftet ist, dass sich die Prognose durch später bekanntwerdende Umstände verschlechtern kann (dazu BVerfG NStE Nr. 5 zu § 454a StPO). Die Vorschrift bezweckt, dass die Entscheidung über die Strafaussetzung der Reststrafe zur Bewährung und die Haftentlassung auch bei einer frühzeitig erlassenen Bewährungsentscheidung und nachträglichem Bekanntwerden neuer Umstände im Ergebnis nicht anders ausfällt, als wenn das Gericht in Kenntnis der neuen Umstände erstmals über die Strafaussetzung entschieden hätte.

9

Mit diesem Gesetzeszweck wäre es unvereinbar, den § 454a Abs. 2 StPO dahin zu verstehen, dass nach dieser Vorschrift vor der Haftentlassung stets nur eine endgültige Entscheidung über den Widerruf der Strafaussetzung oder deren Aufhebung ausgesprochen werden könne. Vielmehr zeigt der vorliegende Fall, dass Umstände so kurz vor einer Haftentlassung zutage treten können, dass deren ausreichende Klärung - auch für die Frage, ob letztlich das Widerrufs- oder das Aufhebungsverfahren in Betracht kommt - bis zum Entlassungstag nicht mehr möglich ist. Jedenfalls in diesen Fällen kann deshalb nach § 454a Abs. 2 StPO auch ein zunächst nur vorläufiger Aufschub der Entlassung zur Einleitung und Sicherung der weiteren Überprüfung der Aussetzungsentscheidung angeordnet werden, wenn dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit erforderlich ist. Anderenfalls müsste die Aufhebung der Strafaussetzung, die nach der Entlassung dem insoweit eindeutigen Wortlauf der Vorschrift zufolge nicht mehr ausgesprochen werden kann, in solchen Fällen endgültig unterbleiben. Käme demgegenüber aufgrund der neu zutage getretenen Umstände auch ein Widerruf in Betracht, so müsste der Verurteilte unter Umständen zunächst entlassen, später aber wieder inhaftiert werden. All das wäre im Einzelfall mit erhöhten Sicherheitsrisiken für die Öffentlichkeit, besonderen Belastungen für den Verurteilten und Schwierigkeiten bei seiner Wiederergreifung verbunden. Letzteren könnte das Gericht - bei hoher Wahrscheinlichkeit des Widerrufs der Strafaussetzung - zwar mittels eines Sicherungshaftbefehls (§ 453c StPO) begegnen - doch wären damit für den Verurteilten, der dann wie ein Untersuchungsgefangener zu behandeln wäre (KK-Appl, StPO, § 453c Rdn. 6), größere Belastungen verbunden als mit einem bloßen Aufschub der Entlassung, dem deshalb auch aus Gründen der Verhältnismäßigkeit der Vorzug zu geben ist (vgl. zu alledem Hanseatisches Oberlandesgericht Hamburg, Beschluss vom 28. August 1998 - 2 Ws 222/98 -, juris).

10

Aus ähnlichen Erwägungen nimmt die h.M. umgekehrt an, die Strafvollstreckung sei gemäß § 307 Abs. 1 StPO fortzusetzen, wenn ein Aufhebungsbeschluss nach § 454a Abs. 2 StPO infolge einer dagegen eingelegten Beschwerde noch nicht in Rechtskraft erwachsen ist (vgl. dazu Appl aaO § 454a Rdz. 9; Graalmann-Scheerer aaO Rdn. 18; Meyer-Goßner/Schmitt aaO Rdn. 6).

2.

11

Die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer ist auch im Übrigen nicht zu beanstanden. Das vom Verurteilten bislang bestrittene (vgl. Bl. 63 ff., 67 f. BewH) und deshalb zunächst weiter aufzuklärende Fehlverhalten könnte im Falle seines Nachweises die gewährte Strafaussetzung deutlich in Frage stellen, weil es sich dann um einen ganz erheblichen Weisungsverstoß im Sinne von § 56f Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StGB handeln würde, der sogar noch vor der Haftentlassung begangen wurde, was der Sache eine besondere Qualität verleihen würde. Das gilt insbesondere, wenn sich erweisen sollte, dass der Verurteilte schon früher aus der Strafhaft heraus den o.g. Drohbrief an die Geschädigte geschrieben und abgesandt hat, in dem er ihr bereits ankündigte, er werde sie wieder aufsuchen und ihr dann verdeutlichen, dass sie die Schuld an seiner Verurteilung und Inhaftierung trage.

12

Anders als der Bewährungswiderruf oder die endgültige Rücknahme der Aussetzungsentscheidung erfordert die Entscheidung über den vorläufigen Aufschub der bedingten Haftentlassung noch keinen „dringenden“ Verdachtsgrad, denn es geht bei dieser rein verfahrenssichernden vorläufigen Maßnahme gerade darum, dies weiter aufzuklären. Bis dahin erfordert das Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit angesichts der bislang vorliegenden Verdachtsmomente, die durch die bisherigen Einlassungen des Verurteilten nicht zweifelsfrei ausgeräumt werden, auch in Abwägung mit seinen Freiheitsrechten den Aufschub der Haftentlassung, weil nur so weitere Gefahren für die Geschädigte ausreichend sicher abgewendet werden können. Das weitere Verfahren wird indes mit größtmöglicher Beschleunigung zum Abschluss gebracht werden müssen.

3.

13

Die Kostenentscheidung ergeht nach § 473 Abs. 1 StPO.

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