Urteil vom Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht (7. Zivilsenat) - 7 U 93/19
Tenor
Auf die Berufung der Beklagten wird das am 25. April 2019 verkündete Urteil des Einzelrichters der 13. Zivilkammer des Landgerichts Kiel teilweise geändert und die Klage insgesamt abgewiesen.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger.
Dieses Urteil ist vorläufig vollstreckbar.
Dem Kläger wird nachgelassen, die Zwangsvollstreckung durch die Beklagte wegen der Kosten gegen Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe von 110 % des aufgrund dieses Urteils vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.
Gründe
I.
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Die Parteien streiten um Ansprüche aus einem Verkehrsunfall, der sich am 17. Juli 2014 in Kiel ereignete.
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Bei diesem kollidierte der Kläger mit dem Motorrad mit einem bei der Beklagten versicherten Pkw. Die volle Haftung der Beklagten für alle Schäden aus dem Verkehrsunfall ist nicht im Streit. In diesem Rechtsstreit geht es ausschließlich um Verdienstausfallansprüche des Klägers, die im Zusammenhang mit seiner Versetzung in den Ruhestand zum 31. Dezember 2016 in Höhe des Differenzbetrages zwischen den aktiven Dienstbezügen und dem Ruhegehalt ab dem 1. Januar 2017 bereits entstanden sind oder entstehen werden. Geltend gemacht werden mtl. 1.293,27 €.
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Der Kläger wurde am …1967 geboren und arbeitete als Beamter bei der Bundesagentur für Arbeit.
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Sein Tätigkeitsfeld bestand im Forderungseinzug im Bereich regionales Forderungsmanagement. Seit dem 15.11.2011 war er durchgängig wegen einer Überlastung und Verspannung im Hals-, Nacken- und Schulterbereich und eines depressiven Erschöpfungszustandes dienstunfähig. Für die Einzelheiten zur gesundheitlichen Entwicklung des Klägers ab August 2011 bis zum Unfall wird auf die Darstellung im Sachverständigengutachten Prof. Dr. L. vom 12. Februar 2018 (Bl. 59 ff. d. A.) Bezug genommen.
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Am 25. März 2013 erstellte der Städt. Medizinaldirektor Dr. Dr. P. für das Amt für Gesundheit der Landeshauptstadt Kiel folgende Stellungnahme (vgl. Anlage K14, Bl. 126 f. d. A.):
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„Herr V. kann eine Tätigkeit als Fachkraft … bei der … auch weiterhin ausüben. Herr Voß ist - testpsychologisch nachgewiesen - in erhöhtem Maße störanfällig und ablenkbar, was sich mit den von ihm beschriebenen Schwierigkeiten hinsichtlich Aufmerksamkeit und Konzentration in einem Großraumbüro in Verbindung bringen lässt. Hirnorganisch bedingte, kognitive Minderungen der Leistungsfähigkeit konnten hingegen testpsychologisch nicht objektiviert werden. Daraus ist zu folgern, dass Herr V. nicht mehr in einem Großraumbüro eingesetzt werden kann. Die Bürogröße darf 4-5 Arbeitsplätze nicht übersteigen. Herr V. ist ab dem …2013 mit gestaffelt zunehmender Belastbarkeit (Hamburger Modell) wieder einsetzbar. Dabei sollte er zunächst für die Dauer von 2 Wochen mit 4 Stunden täglich eingesetzt werden, für die weitere Dauer von 4 Wochen 6 Stunden täglich, danach voll.“
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Ab dem 2. September 2013 erfolgte die stufenweise Wiedereingliederung des Klägers in den Beruf. Der Kläger erhielt ein eigenes Büro und arbeitete in der Rechtsbehelfsstelle. Ab dem 1. Februar 2014 arbeitete er an 4 Tagen in der Woche je 6 Stunden. Planmäßig sollte der Dienst am 1. September 2014 wieder aufgenommen werden.
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Dem kam allerdings der streitgegenständliche Verkehrsunfall (17.07.2014) zuvor. Der Kläger erlitt hierbei eine offene distale Tibiafraktur links, eine Decollementverletzung an der Ferse links, eine Skapularfraktur rechts, eine Rippenfraktur an der 3.-5. Rippe rechts und eine Schnittverletzung an der rechten Hand. Er befand sich bis zum 29. Juli 2014 aufgrund des Unfalls stationär in der Klinik für Unfallchirurgie des UKSH in Kiel. Er wurde dann in gutem Allgemeinzustand bei Bestehen von Restbeschwerden des linken Beines in die weitere ambulante Behandlung entlassen. Wegen der weiteren Einzelheiten – auch zum Therapieverlauf - wird auf den Entlassungsbericht des UKSH in Kiel vom 29. Juli 2014 (vgl. Anlage K2, Bl. 8 f. d. A.) Bezug genommen.
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Der Kläger begab sich sodann in die ambulante Behandlung bei Prof. Dr. S., die bis zum 8. Juli 2017 fortdauerte. Am 28.02.2015 erfolgte eine weitere Begutachtung durch den Amtsarzt Dr. Dr. P. (Gutachten vom 02.06.2015, Bl. 314 – 317 GA). Dem Kläger wurde eine fortdauernde Dienstunfähigkeit bescheinigt, wobei allerdings „voraussichtlich im März 2016“ mit einer Wiederherstellung wahrscheinlich wieder gerechnet werden könne. Im Rahmen der ambulanten Therapie bei Prof. Dr. S. erfolgte eine Vorstellung am 12. Juli 2016 über die im Arztbericht u. a. festgehalten ist:
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“Herr V. stellte sich heute nochmals zur Verlaufskontrolle vor und berichtet, dass (er) weiterhin subjektiv noch belastungsabhängige Schmerzen habe, auch weiterhin noch einen Kompressionsstrumpf tragen müsse, ohne den es zu einer unmittelbaren Schwellneigung unter Belastung kommen würde.
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Bei der körperlichen Untersuchung zeigte sich der Unterschenkel weitestgehend reizfrei. Die Weichteile sind zum jetzigen Zeitpunkt gut abgeschwollen, die Wunden sind völlig unauffällig. Die Beweglichkeit im Kniegelenk ist seitengleich. Im Bereich des linken Sprunggelenks ist die Beweglichkeit endgradig jedoch noch deutlich eingeschränkt.
(...)
- 12
Obwohl die Fraktur weiterhin noch nicht komplett durchbaut ist, scheint es sich jetzt um eine stabile Situation zu handeln, so dass der Patient sicherlich auch weiterhin unter voller Belastung gehen kann ohne Verwendung von Gehhilfen.
(...)
- 13
Prozedere
- 14
In Anbetracht des jetzigen Befundes rücken wir sicherlich weiterhin von operativen Maßnahmen weg, die wir seinerzeit auch in Erwägung gezogen hatten, als sich verzögerte Frakturheilung andeutete. Die Konsolidierung der Fraktur selbst scheint jetzt aber weiterhin Fortschritte zu machen, so dass ich den weiteren Abheilungsprozess auch ohne spezifische Maßnahmen abwarten würde. Ob Arbeitsfähigkeit besteht und ab wann diese möglicherweise eintreten kann, lässt sich meiner Ansicht nach im Moment noch nicht sagen. Ggf. ist auch über eine Wiedereingliederung über mehrere Monate nachzudenken. Diese Fragen sind aber letzten Endes mit dem Amtsarzt zu erörtern. Dort hat Herr V. im August d. J. einen Untersuchungstermin. Ansonsten gehe ich zunächst von einer weiteren Arbeitsfähigkeit aus, wir haben eine erneute Wiedervorstellung für Ende Oktober / Anfang November vereinbart. (...)”.
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Am 8. September 2016 erstellte die Amtsärztin Dr. B. (Leiterin des Sozialpsychiatrischen Dienstes im Gesundheitsamt der Stadt K.) eine Stellungnahme, in der sie die fortdauernde Dienstunfähigkeit des Klägers konstatierte (vgl. Anlage K8, Bl. 19 ff.). Nach dem Unfall im Jahre 2014 bestünden weiterhin deutliche Funktionseinschränkungen und Schmerzen, insbesondere im linken Bein. Herr V. müsse immer wieder das Bein hochlagern, außerdem sei die Geh- und Stehfähigkeit deutlich reduziert. Die Wiederherstellung zu einem späteren Zeitpunkt sei nicht zu erwarten, da die Heilung nur sehr zögerlich verlaufe und noch ausgeprägte schmerzhafte Funktionsstörungen bestünden.
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Im ärztlichen Bericht über die nächste ambulante Vorstellung des Klägers am 10. November 2016 bei Prof. Dr. S. ist festgehalten:
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„Der Patient stellte sich heute nochmals zur Verlaufskontrolle vor und berichtet, dass er subjektiv weitgehend unter voller Belastung des linken Beines beschwerdefrei sei. Er beklagt noch, dass das Bewegungsausmaß im Bereich des linken Sprunggelenks noch nicht ganz wieder dem entspricht, wie auf der gesunden rechten Seite. Des Weiteren hat er auch noch im Bereich der ehemaligen Weichteilverletzung über dem Fersenbein noch eine deutliche Bewegungsempfindlichkeit. (...) Wir haben mit dem Patienten besprochen, dass weitere Maßnahmen zur Unterstützung der Knochenheilung nicht indiziert sind. Der Patient soll weiter voll belasten und entsprechende Übungsbehandlungen im Fitnessstudio wahrnehmen.“
- 18
Mit Bescheid vom 22. Dezember 2016 wurde der Kläger zum 31. Dezember 2016 in den Ruhestand versetzt (Anlage K3, Bl. 12 d. A.). In dem Bescheid wird auf das Ankündigungsschreiben vom 12. Oktober 2016 Bezug genommen (Anlage K11, Bl. 94 ff. d. A.). In dem vorgenannten Schreiben wird wiederum auf ein Attest vom 20. September 2016 und die amtsärztliche Stellungnahme vom 8. September 2016 Bezug genommen.
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Bei der letzten ambulanten Vorstellung des Klägers bei Prof. Dr. S. vom 08.07.2017 wurde u. a. festgehalten:
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„Der Patient (stellte) sich heute nochmals zur Verlaufskontrolle vor. Herr V. berichtet, dass er nunmehr bei normalem Gehen weitestgehend beschwerdefrei sei. Unter Belastung komme es zwar hin und wieder noch zu einem Anschwellen des linken Unterschenkels, da er allerdings kontinuierlich die Kompressionsstrümpfe weiterhin trage, sei dies deutlich zurückgegangen. Bei der körperlichen Untersuchung zeigten sich die Weichteil- und Wundverhältnisse am linken Unterschenkel völlig reizlos. Die OP-Narben als solche sind aber noch zu erkennen, insbesondere auch im Bereich der ehemaligen Weichteilverletzung. Des Weiteren besteht noch eine deutliche Bewegungseinschränkung des linken Sprunggelenks im Vergleich zur rechten Seite, dies gilt insbesondere für die Extension. Herr Voss berichtet, dass dieses auch störend ist, z. B. beim Laufen oder beim Treppenabsteigen. Beides gelinge ihm weiterhin nur leicht hinkend. (...)
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Procedere:
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Wir haben mit Herrn V. besprochen, dass wir die Behandlung nunmehr in Anbetracht des heutigen Befundes abschließen können. Es besteht eine volle Belastungsfähigkeit, Herr V. könnte auch wieder beginnen, sich sportlich zu betätigen. Hierbei müsste allerdings das Bewegungsausmaß des Sprunggelenks noch etwas verbessert werden, insofern empfehlen wir weiterhin noch eine krankengymnastische Übungsbehandlung. Eine erneute Wiedervorstellung bei uns ist nicht vereinbart. Herr V. berichtet, dass er innerhalb der nächsten Wochen zur gutachterlichen Untersuchung eingeladen ist. Dementsprechend wurden ihm heute noch die vorangegangenen Röntgenbilder unserer Klinik mitgegeben.”
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Wegen der weiteren Einzelheiten des ambulanten Behandlungsverlaufs wird auf die Arztberichte Bezug genommen, die im Gutachten L. vom 12. Februar 2018 ab Bl. 73 ff. d. A. wiedergegeben sind.
- 24
Am 11. Dezember 2018 fand eine weitere amtsärztliche Begutachtung bei der Zeugin Dr. B. statt (vgl. Anlage K 17, Bl. 293 ff. d. A.). Dort ist die fortbestehende Dienstunfähigkeit des Klägers festgehalten. Die bestehenden Funktionseinschränkungen seit dem Unfall dauerten an. Geh- und Stehfähigkeit seien eingeschränkt, das linke Schienbein sei druckschmerzhaft und der Unterschenkel ödematös.
- 25
Wenn der Kläger nicht zum 31. Dezember 2016 in den Ruhestand versetzt worden wäre, hätte er für den Zeitraum vom 1. Januar 2017 bis zum 30. Juni 2017 insgesamt den Betrag von 7.736,14 € mehr an Besoldung erhalten. Ab Juli 2017 hätte der Kläger monatlich 1.293,27 € bis zur Vollendung des 67. Lebensjahres ohne die Versetzung in den Ruhestand mehr erhalten.
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Der Kläger hat behauptet, er wäre am 1. September 2014 wieder voll dienstfähig gewesen, wenn der Unfall nicht geschehen wäre. Lediglich aufgrund des Verkehrsunfalls läge seine Dienstunfähigkeit seit dem 01.01.2017 vor. Er verfüge auch nicht über eine verbleibende Arbeitskraft zur Aufnahme einer anderweitig zumutbaren Tätigkeit.
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Der Kläger hat beantragt,
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1. die Beklagte zu verurteilen, an ihn 7.736,14 € nebst Zinsen in Höhe von fünf Prozentpunkten über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen;
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2. festzustellen, dass die Beklagte verpflichtet ist, an den Kläger einen monatlichen Verdienstausfallschaden ab Juli 2017 in Höhe von 1.293,27 € fortlaufend bis zur Vollendung des 60. Lebensjahres des Klägers zu zahlen;
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3. dem Kläger zu Händen seiner Prozessbevollmächtigten die vorgerichtlichen Anwaltskosten in Höhe von 1.954,46 € nebst fünf Prozentpunkten [Zinsen] über dem jeweiligen Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.
- 31
Die Beklagte hat beantragt,
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die Klage abzuweisen.
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Sie hat behauptet, die Wiedereingliederungsversuche hätten nicht zu einer Dienstunfähigkeit zum 01.09.2014 geführt. Die Versetzung in den Ruhestand zum 31.12.2016 sei nicht aus unfallbedingten Gründen erfolgt. Da für den Kläger keine Behinderung von mehr als 40 % zu verzeichnen sei, treffe ihn eine Schadensminderungspflicht, andere zumutbare Tätigkeiten auszuüben.
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Wegen der tatsächlichen Feststellungen im Übrigen wird auf das angefochtene Urteil nebst darin enthaltener Verweisungen Bezug genommen.
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Das Landgericht hat nach Beweiserhebung (Einholung einer schriftlichen medizinischen Sachverständigenbegutachtung nebst mündlicher Anhörung) der Klage überwiegend stattgegeben. Der Sachverständige Prof. Dr. L. komme zu dem Ergebnis, dass zum September 2014 eine volle Dienstfähigkeit bestanden habe. Insoweit sei der Unfall kausal für die Arbeitsunfähigkeit gewesen. Allerdings sei nur eine vorübergehende Versetzung in den Ruhestand gerechtfertigt gewesen, da es eine fortschreitende Heilung beim Kläger gegeben habe. Ab dem 02.11.2018 sei mit überwiegender Wahrscheinlichkeit eine Arbeitsfähigkeit von 6 Stunden pro Tag gegeben, die volle Arbeitsfähigkeit bestehe innerhalb von 2 Jahren seit dem 02.09.2018 wieder. Gemäß den Ausführungen des Sachverständigen sei der Kläger zwar in gewissem Maße arbeitsfähig gewesen und hätte ggf. einer anderen sitzenden Tätigkeit nachgehen können, gleichwohl sei eine zeitweise Versetzung in den Ruhestand aufgrund der Untersuchung vom 10.11.2016 für einen Zeitraum von 12 Monaten angezeigt. Das Landgericht hat sodann Abstufungen bei der Arbeitsunfähigkeit nach Zeitabschnitten wie folgt vorgenommen: Ab dem 10.11.2017 eine Arbeits- und Dienstfähigkeit von 24,39 %, vom 10.05.2018 an eine Arbeits- und Dienstfähigkeit von 48,78 % und vom 02.11.2018 bis zum 01.11.2019 eine Arbeits- und Dienstfähigkeit von 73,17 %. Im Anschluss hieran – so das Landgericht - sei keine unfallbedingte Arbeits- und Dienstunfähigkeit mehr vorhanden.
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Gegen dieses Urteil wendet sich die Beklagte mit der Berufung. Zur Begründung trägt sie im Wesentlichen vor, das Landgericht habe die allein entscheidende Frage verkannt, ob die Pensionierung des Klägers durch unfallbedingte Gründe gerechtfertigt gewesen sei. Diese streitige Kausalitätsfrage sei durch das Gutachten Prof. L. im Sinne der Einwendungen der Beklagten beantwortet worden. Die Frühpensionierung des Klägers beruhe nach den Feststellungen des Sachverständigen nicht auf unfallbedingten Gründen. Der Sachverständige habe bezogen auf den Stichtag 10.11.2016 ausgeführt, dass die Versetzung in den Ruhestand möglicherweise auf andere Beschwerden und Beeinträchtigungen zurückzuführen sei, jedenfalls könne die unfallbedingte Verletzung eine Versetzung in den Ruhestand nicht rechtfertigen. Selbst die Amtsärzte hätten aufgrund des Unfallereignisses nur eine Minderung der Erwerbstätigkeit von 40 % anerkannt. Es sei überhaupt nicht zu erkennen, dass die unfallbedingten Verletzungen des Klägers diesen an einer sitzenden Tätigkeit im Dienst bei der Bundesanstalt für Arbeit hätten hindern können.
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Die Beklagte beantragt,
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unter Abänderung des angefochtenen Urteils die Klage abzuweisen.
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Der Kläger beantragt,
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die Berufung zurückzuweisen.
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Er verteidigt das angefochtene Urteil.
- 42
Der Senat hat im Termin am 04.02.2020 ergänzend den Kläger gemäß § 141 ZPO angehört und sein verletztes Bein in Augenschein genommen. Ferner ist Beweis erhoben worden durch ergänzendes Gutachten des Sachverständigen Prof. Dr. L. sowie Vernehmung der Zeugin Dr. B.. Wegen des Inhalts wird auf die Sitzungsniederschrift vom 4. Februar 2020 (Bl. 305 ff. d. A.) Bezug genommen.
II.
- 43
Die Berufung der Beklagten hat Erfolg und führt zur vollständigen Abweisung der Klage.
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Dem Kläger stehen die geltend gemachten Ansprüche unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt zu, so dass seine Klage insgesamt abzuweisen ist. Die angefochtene Entscheidung leidet zum einen unter Rechtsfehlern, zum anderen gebieten die zugrunde zu legenden Tatsachen eine andere Entscheidung (§ 513 Abs. 1 ZPO).
- 45
Ein Anspruch des Klägers auf Ersatz der durch die Versetzung in den Ruhestand verursachten Einbußen besteht trotz unstreitiger voller Haftung der Beklagten für die Unfallfolgen aus §§ 7, 17 StVG, 115 VVG nicht. Denn der beanspruchte Verdienstausfallschaden ist nicht auf den Unfall zurückzuführen.
- 46
Die Versetzung in den Ruhestand erfolgte im vorliegenden Fall nicht aus unfallbedingten Gründen. Dabei ist Ausgangspunkt, dass die Nachprüfung von Verwaltungsakten den ordentlichen Gerichten grundsätzlich auch dann nicht zukommt, wenn sie für die Beteiligten oder Dritte unmittelbar oder mittelbar vermögensrechtliche Wirkungen nach sich ziehen. Dies gilt nur dann nicht, wenn es sich „um einen gesetzlich überhaupt nicht zu rechtfertigenden Akt reiner Willkür“ handelt (vgl. BGH VI ZR 227/57, Urteil vom 11. November 1958, VersR 1959, S. 132 ff. [S. 134]). Diese ältere Rechtsprechung hat die Zustimmung anderer Obergerichte und des Schrifttums in jüngerer Zeit gefunden (vgl. Senat, Urteil vom 23.05.2019 - 7 U 82/18, BeckRS 2019, 35979; OLG Koblenz, Urteil vom 14.11.1996 - 5 U 1751/95, NJW-RR 1997, 1455; BeckOGK/Eichelberger, 01.11.2019, BGB § 842 Rn. 192; OLG München, Urteil vom 29.04.2011 - 10 U 4208/10, BeckRS 2011, 11164 m. w. N.). Dabei kommt es letztlich für die Bewertung der adäquaten Ursächlichkeit des Unfalls für die Pensionierung nicht darauf an, ob die Zur-Ruhe-Setzung objektiv richtig und sachlich geboten war, denn dies betrifft die der Beurteilung durch die Zivilgerichte entzogene Richtigkeit des Pensionierungsbescheides. Es ist in diesem Zusammenhang lediglich zu prüfen, ob der verletzte Beamte tatsächlich wegen unfallbedingter körperlicher Beeinträchtigung zur Ruhe gesetzt worden ist und die Zur-Ruhe-Setzung nicht auf anderen Gründen - etwa der Absicht des Dienstherrn, sich eines unliebsamen Beamten zu entledigen - beruhte oder nur wegen anderweitiger, z. B. anlagebedingter Leiden erfolgt ist (OLG Celle, Urteil vom 3. Mai 2007, 14 U 277/01, Juris-Rn. 61 m. w. N. m. H. a. BGH, VersR 1969, 538, 539).
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Hier ist der Senat nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme überzeugt, dass die Pensionierung ohne sachliche Rechtfertigung, jedenfalls nicht aus unfallbedingten Gründen und damit „willkürlich“ i. S. der o. g. Rechtsprechung erfolgte. Im Verwaltungsakt vom 22. Dezember 2016, der die Versetzung in den Ruhestand anordnete, wird auf das Schreiben vom 12. Oktober 2016 Bezug genommen. Dieses wiederum nimmt Bezug auf die amtsärztliche Stellungnahme Dr. B. vom 8. September 2016. Hiernach wurde zwar die Dienstunfähigkeit ausschließlich mit unfallbedingten Beschwerden begründet. Diese Einstufung erfolgte jedoch „willkürlich“. Gemäß § 44 BBG ist die Beamtin auf Lebenszeit oder der Beamte auf Lebenszeit in den Ruhestand zu versetzen, „wenn sie oder er wegen des körperlichen Zustandes oder aus gesundheitlichen Gründen zur Erfüllung der Dienstpflichten dauernd unfähig (dienstunfähig) ist. Als dienstunfähig kann auch angesehen werden, wer infolge Erkrankung innerhalb von sechs Monaten mehr als drei Monate keinen Dienst getan hat, wenn keine Aussicht besteht, dass innerhalb weiterer sechs Monate die Dienstfähigkeit wieder voll hergestellt ist. In den Ruhestand wird nicht versetzt, wer anderweitig verwendbar ist“. Diesen Rahmen verlässt die Entscheidung zur Versetzung in den Ruhestand auf der Grundlage der amtsärztlichen Begutachtung, denn sie erfolgte ohne greifbare Anhaltspunkte für eine unfallbedingte Dienstunfähigkeit und ohne ausreichende Befassung mit dem gesundheitlichen Zustand des Klägers und der zum damaligen Zeitpunkt vorhandenen ärztlichen Dokumentation.
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Aus den jeweiligen Befunderhebungen von Prof. Dr. S. unmittelbar vor (12.07.2016) und nach (10.11.2016) der Begutachtung durch die Amtsärztin (am 08.09.2016) ergibt sich kein Bild, das eine unfallbedingte Dienstunfähigkeit rechtfertigen kann. Am deutlichsten wird dies aus dem wiedergegebenen Befund nur wenige Wochen nach der amtsärztlichen Untersuchung. Dort gab der Kläger selbst an, er sei mittlerweile „subjektiv weitestgehend unter voller Belastung des linken Beines beschwerdefrei“ (Bl. 75 d. A.). Dies passt mit dem Befund der Amtsärztin, der Kläger leide noch immer unter „deutlichen Funktionsbeeinträchtigungen und Schmerzen“ (Bl. 20 d. A.) nicht zusammen. Dies lässt für den Senat den Schluss zu, dass die Amtsärztin sich bei ihrer Einschätzung ohne gründliche Befassung mit dem Kläger vorschnell und ohne ausreichende Befunderhebung zur Annahme einer unfallbedingten Dienstunfähigkeit entschloss.
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Diese Überzeugung stützt der Senat auch auf die Vernehmung der Zeugin Dr. B.. Der Zeugin lag nach ihren Bekundungen zum Zeitpunkt der amtsärztlichen Untersuchung durch sie am 16. August 2016 nur der ärztliche Bericht des Prof. Dr. S. vom 12. Juli 2016 vor. Ohne dies sachlich zu begründen oder durch eine eigene Untersuchung abzusichern, hat sich die Amtsärztin aber über die Feststellungen im Bericht des Prof. Dr. S. in zentralen Punkten hinweggesetzt. Denn dieser hat angegeben, dass er von einer weiteren Arbeitsfähigkeit ausgehe und eine endgültige Entscheidung hierüber noch nicht getroffen werden könne. Auch der zuvor zu beobachtende verzögerliche Heilungsprozess der Fraktur stand bei dieser Befunderhebung nicht mehr im Vordergrund, sondern es waren deutliche Fortschritte zu verzeichnen, die Prof. Dr. S. durch aktuelle Röntgenaufnahmen abgesichert hatte. Hierüber setzte sich die Amtsärztin Dr. B. hinweg, indem sie zum einen eine Entscheidung über die Arbeitsfähigkeit vornahm und zum anderen diese gerade auch auf den verzögerlichen Heilungsverlauf stützte, der jedenfalls zu diesem Zeitpunkt nicht mehr im Vordergrund stand.
- 50
Die Einschätzung der unfallbedingten Dienstunfähigkeit durch die Zeugin Dr. B. hing ohne weitere Befunderhebungen erkennbar in der Luft und war damit „willkürlich“. Die Zeugin gab an, zum Zeitpunkt der Untersuchung habe kein Anamnesebogen vorgelegen. Zudem konnte sie nicht sicher angeben, ob sie überhaupt eine körperliche Untersuchung vorgenommen habe. Das ist vor dem Hintergrund der gut dokumentierten und durch bildgebende Verfahren abgesicherten Befundberichte von Prof. Dr. S. grob unzureichend.
- 51
Das bedeutet, dass sie bei der amtsärztlichen Begutachtung entweder den ihr vorliegenden Befundbericht gar nicht gelesen hat, oder annahm, sie könne sich ohne eigene Befunderhebung darüber hinwegsetzen. Beide Varianten sieht der Senat angesichts der erheblichen Auswirkungen, die eine Versetzung in den Ruhestand zeitigt, als unsachgemäßes und willkürliches Vorgehen an.
- 52
Auffällig ist, dass auch der Kläger selbst nach eigenen Angaben nicht einmal drei Monate nach der amtsärztlichen Untersuchung bei der Zeugin Dr. B. im Folgetermin bei Prof. Dr. S. subjektiv weitgehend unter voller Belastung des linken Beines beschwerdefrei war. Der Senat ist davon überzeugt, dass dieser Fortschritt im Behandlungsverlauf auch bereits bei der amtsärztlichen Untersuchung durch die Zeugin Dr. B. festzustellen gewesen wäre, wenn die Zeugin den Kläger tatsächlich auch körperlich untersucht hätte und sich mit der ärztlichen Dokumentation, die der Kläger hätte beibringen müssen, ausreichend befasst hätte.
- 53
Die Zeugin Dr. B. durfte auch nicht, wie sie angegeben hat, unter Hinweis auf das ihr vorliegende amtsärztliche Gutachten Dr. Dr. P. vom 2. Juni 2015 auf eine eigene Untersuchung verzichten (vgl. Anlage zum Protokoll vom 4. Februar 2020, Bl. 331 ff. d. A.). Denn dort hatte der damalige Amtsarzt Dr. Dr. P. den Kläger zwar als dienstunfähig eingestuft, aber zugleich eine wahrscheinliche Wiederherstellung der Dienstfähigkeit voraussichtlich im März 2016 angenommen. Diese Einstufung ist auch plausibel, weil der Kläger u. a. unter einer Fraktur im Schienbein litt und normalerweise Frakturen im Zeitablauf verheilen. Deshalb verbot es sich für die Zeugin Dr. B., eine u. a. hiermit begründete Dienstunfähigkeit durch Dr. Dr. P. über ein Jahr später quasi fortzuschreiben, obwohl Dr. Dr. P. in seinem Gutachten offensichtlich von einer Wiederherstellung der Dienstfähigkeit in angemessener Zeit ausging.
- 54
Dass die Zeugin Dr. B. bei ihrer amtsärztlichen Begutachtung im Fall des Klägers keine gründliche Tatsachenerhebung vorgenommen hat, wird indiziell auch aus der von ihr vorgenommenen Folgeuntersuchung am 11. Dezember 2018 deutlich. Dort hat sie zwar - nach ihren Bekundungen - eine körperliche Untersuchung vorgenommen und den Kläger einen Anamnesebogen ausfüllen lassen. Allerdings lagen ihr zu diesem Zeitpunkt im Anschluss an die Stellungnahme von Prof. Dr. S. vom 12. Juli 2016 keine weiteren ärztlichen Unterlagen vor. Jene waren zu diesem Zeitpunkt aber bereits über zwei Jahre alt. Weder die im gerichtlichen Verfahren eingeholten Sachverständigengutachten von Prof. Dr. L., noch die zwischenzeitlich verfassten weiteren Arztberichte von Prof. Dr. S. haben ihr bei der Begutachtung vorgelegen. Auch wenn die Zeugin angab, von diesem Rechtsstreit - und damit der Begutachtung durch Prof. Dr. L. - bei ihrer Untersuchung keine Kenntnis gehabt zu haben, wusste sie aufgrund des ihr vorliegenden Berichts vom 12. Juli 2016 doch wenigstens, dass die Behandlung bei Prof. Dr. S. noch nicht beendet war. In dem Bericht war sogar ausdrücklich die Vereinbarung eines Termins zur Wiedervorstellung Ende Oktober / Anfang November (2016) angesprochen. Dass die Zeugin Dr. B. den Kläger nicht wenigstens gefragt hat, ob weitere ärztliche Berichte zu seinem Gesundheitszustand vorliegen, zeigt erneut, dass ihre amtsärztlichen Stellungnahmen - jedenfalls in Bezug auf den Kläger - keine ausreichende Tatsachengrundlage aufweisen und damit die Annahme einer willkürlichen Entscheidung im Hinblick auf eine vermeintlich unfallbedingte Dienstunfähigkeit untermauern.
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Nach alledem ist der Senat gem. § 242 ZPO wegen Verstoßes gegen das Willkürgebot nicht an die Entscheidung des Dienstherrn, den Kläger unfallbedingt in den Ruhestand zu versetzen, gebunden.
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Eine Versetzung in den Ruhestand vom 1. Januar 2017 war im Übrigen auch nicht aus unfallbedingten Gründen geboten. Der Sachverständige Dr. L. hat angegeben, dass die unfallbedingten Beschwerden des Klägers eine Versetzung in den Ruhestand nicht rechtfertigen können. So führt er unmissverständlich aus, dass für den Kläger für den gesamten hier relevanten Zeitraum, nämlich ab dem 1. Januar 2017, zumindest eine sitzende Tätigkeit möglich gewesen wäre (Bl. 113 d. A.). Eine Versetzung in den Ruhestand könne nur auf andere Beschwerden zurückgeführt werden (Bl. 112 f. d. A.), er könne jedenfalls „keinen unfallbedingten Grund für die Versetzung in den Ruhestand erkennen” (Bl. 153 f. d. A.), die Verletzung allein sei „kein Grund für eine Versetzung in den Ruhestand“ (Bl. 192 d. A.).
- 57
Diese Angaben, denen sich der Senat anschließt, hat der Sachverständige auch im Rahmen seiner mündlichen Gutachtenerläuterung vor dem Senat nochmals bestätigt. Hiernach sei für den Kläger ab dem 1. Januar 2017 jedenfalls eine sitzende Tätigkeit möglich gewesen. Auch bezogen auf den Zeitpunkt der Begutachtung durch die Amtsärztin am 8. September 2016 ergäbe sich kein anderes Bild, weil der unmittelbar davor erstellte Bericht von Prof. Dr. S. positiv klinge und dort sogar die Möglichkeit einer Wiedereingliederung angesprochen werde.
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Der Senat folgt den Angaben des Sachverständigen auch deshalb, weil gegenüber dem Kläger als Bundesbeamten jedenfalls aus der beamtenrechtlichen Fürsorgepflicht (§ 78 BBG) auch eine Verpflichtung seines Arbeitgebers folgt, im Rahmen der Möglichkeiten, die Gesundheit der Mitarbeiter zu fördern. Dies ist hier bei einem Beamten mit Bürotätigkeit auch durchaus möglich und üblich. Etwaige noch bestehende Beschwerden des Klägers bei einer sitzenden Tätigkeit kann durch Gegenmaßnahmen, wie etwa der Einräumung einer Möglichkeit zum vorübergehenden Hochlegen des Beines, der Bewilligung von Pausen oder das Zurverfügungstellen höhenverstellbarer Schreibtische begegnet werden. Gerade ein größerer öffentlicher Arbeitgeber wie die Bundesanstalt für Arbeit dürfte hierzu auch in der Lage sein. Eine Grundlage dafür, den Kläger für die Zeit ab dem 1. Januar 2017 - und sei es auch befristet oder teilweise - als dienstunfähig in den Ruhestand zu versetzen, bestand hiernach zur Überzeugung des Senats nicht.
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Die mit der Klagabweisung verbundenen Nebenentscheidungen beruhen auf den §§ 91, 708 Nr. 10 und 711 ZPO. Gründe für eine Zulassung der Revision liegen nicht vor.
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Referenzen
- StVG § 7 Haftung des Halters, Schwarzfahrt 1x
- StVG § 17 Schadensverursachung durch mehrere Kraftfahrzeuge 1x
- §§ 7, 17 StVG, 115 VVG 1x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 91 Grundsatz und Umfang der Kostenpflicht 1x
- ZPO § 708 Vorläufige Vollstreckbarkeit ohne Sicherheitsleistung 1x
- ZPO § 711 Abwendungsbefugnis 1x
- ZPO § 141 Anordnung des persönlichen Erscheinens 1x
- § 44 BBG 1x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 242 Unterbrechung durch Nacherbfolge 1x
- § 78 BBG 1x (nicht zugeordnet)
- ZPO § 513 Berufungsgründe 1x
- VI ZR 227/57 1x (nicht zugeordnet)
- 7 U 82/18 1x (nicht zugeordnet)
- 5 U 1751/95 1x (nicht zugeordnet)
- 10 U 4208/10 1x (nicht zugeordnet)
- 14 U 277/01 1x (nicht zugeordnet)