Beschluss vom Schleswig-Holsteinisches Oberlandesgericht (2. Strafsenat) - 2 Ws 132/21

Tenor

Die Beschwerde wird auf Kosten des Verurteilten als unbegründet verworfen.

Gründe

I.

1

Die 10. Große Strafkammer des Landgerichts Kiel verurteilte den Antragsteller (im Folgenden: Verurteilter) mit am 10. März 2020 verkündetem Urteil wegen Wohnungseinbruchsdiebstahls und Computerbetruges zu einer Gesamtfreiheitstrafe von 5 Jahren. In dem Hauptverhandlungstermin vom 10. März 2020 war - wie auch an den Hauptverhandlungstagen zuvor - eine Dolmetscherin für Russisch anwesend, die ausweislich des Hauptverhandlungsprotokolls von Anfang an übersetzte. Eine schriftliche Übersetzung des Urteils erfolgte nicht.

2

Die hiergegen gerichtete Revision des Angeklagten wurde mit Beschluss des Bundesgerichtshofs vom 28. Oktober 2020 (5 StR 270/20) als offensichtlich unbegründet im Sinne des § 349 Abs. 2 StPO verworfen. Das Urteil ist seit dem 29. Oktober 2020 rechtskräftig.

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Erstmals mit Schriftsatz seines Verteidigers vom 6. September 2021 bat der Verurteilte um Veranlassung einer Übersetzung des Urteils ins Russische. Dieses an die Staatsanwaltschaft Kiel gerichtete Gesuch leitete diese an den Vorsitzenden der 10. Großen Strafkammer weiter, der mit der angefochtenen Entscheidung unter Verweis auf § 187 Abs. 2 Satz 4 und 5 GVG dem Verteidiger mitteilte, dass eine schriftliche Übersetzung des Urteils nicht veranlasst wird.

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Hiergegen richtet sich die Beschwerde des Verurteilten, der die Versagung der schriftlichen Übersetzung für rechtswidrig erachtet. Er ist der Auffassung, aus der Richtlinie 2010/64/EU ergebe sich stets ein Anspruch auf Übersetzung eines Urteils. Soweit § 187 GVG diesen Anspruch auf nicht rechtskräftige Entscheidungen verkürze, stelle dies einen Verstoß gegen Artikel 1 der Richtlinie dar, die folglich unmittelbar zur Anwendung kommen müsse. Gleiches gelte für die Voraussetzung der Erforderlichkeit zur Ausübung prozessualer Rechte in § 287 GVG, die in der Richtlinie ebenfalls keine Stütze finde. Der Verurteilte macht ein Interesse daran geltend, „dauerhaft zu wissen, aus welchen Gründen und Erwägungen er im Einzelnen verurteilt worden ist“. Sein Begehren sei kein spezielles Bedürfnis, sondern „genereller Art“.

5

Die Generalstaatsanwaltschaft Schleswig-Holstein hat beantragt, die Beschwerde als unbegründet zu verwerfen.

II.

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Die Beschwerde ist gemäß §§ 304, 306 StPO zulässig, hat in der Sache aber keinen Erfolg.

7

Die angefochtene Entscheidung des hierfür zuständigen Vorsitzenden der Großen Strafkammer hält einer rechtlichen Überprüfung auch unter Berücksichtigung des Beschwerdevorbringens und auch der Ausführungen in dem Schriftsatz der Verteidigung vom 26. Oktober 2021 stand.

8

Eine Übersetzung des seit dem 29. Oktober 2020 rechtskräftigen Urteils des Landgerichts Kiel vom 10. März 2020 war nicht zu veranlassen, denn der Verurteilte hat hierauf keinen Anspruch.

9

Der aus Artikel 6 (3) e) der EMRK resultierende und in der Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 (Richtlinie 2010/64/EU) konkretisierte und sodann mit der Neufassung des § 187 GVG durch Einfügung der Absätze 2 und 3 in nationales Recht umgesetzte Anspruch auf Dolmetscherleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren endet mit dem rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens.

10

Dies folgt schon aus dem Wortlaut des § 187 Abs. 2 GVG, der eine schriftliche Übersetzung bei Urteilen nur dann und auch nur „in der Regel“ vorsieht, wenn diese noch nicht rechtskräftig sind. Anders als Absatz 1, der für Dolmetscherleistungen von „Beschuldigten oder Verurteilten“ spricht, regelt Absatz 2 daher auch ausschließlich Rechte eines „Beschuldigten“ und beschränkt diese somit ausdrücklich auf das Erkenntnisverfahren bis zu dessen Beendigung. Auf vollstreckungsrechtliche Entscheidungen findet § 187 Abs. 2 GVG dagegen keine Anwendung (vgl. Kissel/Mayer, GVG, 10. Auflage 2021 § 187 Rn. 18 m.w.N.).

11

Insoweit verkennt der Verurteilte auch bereits, dass in seinem Fall schon vor Eintritt der Rechtskraft ein Anspruch auf eine schriftliche Übersetzung nicht notwendig bestand, denn nach § 187 Abs. 2 Satz 4 und 5 GVG ist eine mündliche Übersetzung bei verteidigten Beschuldigten - wobei unter diesen Begriff auch Angeklagte im Sinne von § 157 StPO zu fassen sind - ausreichend, um deren strafprozessualen Rechte zu wahren. Diese gesetzliche Vermutung trifft auch auf den Verurteilten zu, denn anderenfalls ist nicht erklärlich, warum er eine schriftliche Urteilsübersetzung nicht schon innerhalb des immerhin mehrere Monate umfassenden Zeitraums zwischen Urteilsverkündung und Rechtskraft begehrt hat. Wenn der Verteidiger – wie sich seinen Ausführungen entnehmen lässt - ungeprüft davon ausgegangen ist, er habe es „als selbstverständlich“ erachtet, dass sein Mandant eine schriftliche Übersetzung des Urteils erhalten hat, so beruht diese - nach Auffassung des Senats forensisch nicht begründbare - Annahme letztlich auf seiner Nachlässigkeit, ist doch davon auszugehen, dass er mit dem Verurteilten die Frage der Revisionseinlegung erörtert hat. Hieraus ist zu schließen, dass der seinerzeitige Angeklagte bereits in diesem Zusammenhang gar kein Interesse an einer schriftlichen Übersetzung hatte. Schon deshalb ist sein jetziges Begehren – jedenfalls im Sinne eines prozessuales Rechtsanspruchs - nicht (mehr) nachvollziehbar, weshalb für eine infolge prozessualer Überholung durch zwischenzeitlichen Eintritt der Rechtskraft letztlich rückwirkende Anwendung von § 187 Abs. 2 Satz 1 GVG erst Recht keine Veranlassung mehr besteht.

12

Ein über diese Betrachtungsweise hinausgehender Anspruch auf eine schriftliche Übersetzung im Sinne eines generellen Übersetzungsanspruchs ergibt sich entgegen der Auffassung der Verteidigung auch nicht aus der o.a. EU-Richtlinie bzw. einer gebotenen richtlinienkonformen Auslegung von § 187 GVG. Die Richtlinie findet insbesondere keine unmittelbare Anwendung, denn sie ist durch den nationalen Gesetzgeber umfassend umgesetzt worden.

13

Auch die Richtlinie hatte nämlich ausschließlich zum Ziel, einer Person, die sich einer Strafverfolgung ausgesetzt sieht, umfassende Dolmetscher- und Übersetzungsleistungen zukommen zu lassen, um zu gewährleisten, dass diese ihre Verfahrens- und Verteidigungsrechte ohne sprachlich bedingte Einschränkungen umfassend wahrnehmen kann und so unter den Mitgliedsstaaten wechselseitig auf die Gewährleistung eines Art. 6 EMRK entsprechenden fairen Verfahrens unter Beachtung der Unschuldsvermutung vertraut werden kann. Dementsprechend heißt es in der deutschen Fassung der Richtlinie durchgängig „verdächtige oder beschuldigte Person“, „Strafverfahren“ sowie „Verteidigungsrechte“ und „Verfahrensrechte“. Diese Terminologie findet ihre Entsprechung auch in der englischen Fassung („rights of suspected or accused persons“; „criminal proceedings“; „right of defence“; „procedural rights“). Hieraus ergibt sich – und dies eindeutig – dass sprachliche Hindernisse allein im Ermittlungs- und Erkenntnisverfahren nicht zu einer Beschränkung der Verteidigungsmöglichkeiten führen dürfen. Der in Artikel 1 definierte Anwendungsbereich gewährleistet daher Dolmetscherleistungen (Artikel 2) und schriftliche Übersetzungen (Artikel 3) bis zur verfahrensbeendenden Entscheidung, weil bis zu diesem Zeitpunkt strafprozessuale Rechte bestehen. Eine noch weitere Gewährleistung von Übersetzungsleistungen für Personen, deren Schuld in einem diesen Erfordernissen entsprechenden Verfahren unanfechtbar festgestellt worden ist, hat die Richtlinie daher gerade nicht zum Gegenstand. Mit dieser Auffassung folgt der Senat der gefestigten Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, nach der ein genereller Übersetzungsanspruch nicht besteht (BGH, Beschluss vom 7. Dezember 2020, 3StR 519/18, NStZ-RR 2021, 55), dies auch nicht notwendigerweise bei noch nicht rechtskräftigen Entscheidungen, soweit der Angeklagte verteidigt ist (BGH, Beschluss vom 22. Januar 2018, 4 StR 506/17; BGH, Beschluss vom 18. Februar 2020, 3 StR 430/19 – bei juris) und jedenfalls nicht im Hinblick auf die Übersetzung rechtskräftiger Urteile (BGH, Beschluss vom 13. September 2018, 1 StR 320/17 – bei juris).

14

Unbeschadet dieser grundsätzlichen Rechtslage, hätte etwas Anderes bei pflichtgemäßer Ermessensausübung allenfalls dann gelten können, wenn sich aufgrund denkbarer besonderer Umstände des Einzelfalls ergeben hätte, dass der Verurteilte weiterhin seine strafprozessuale Rechte nur dann wahrnehmen kann, wenn ihm eine schriftliche Urteilsübersetzung zur Verfügung steht, wenngleich kaum ersichtlich sein dürfte, welcher Art diese gegenüber der Kammer als dem erkennenden Gericht noch sein könnten. Mag dies ausnahmsweise dennoch denkbar sein, so hat der Verurteilte – auch nachdem ihm hierzu ausdrücklich Gelegenheit gegeben wurde – hierzu nichts vorgetragen.

15

Bei Darlegung eines nachvollziehbaren, erst jetzt aufgekommenen berechtigten Interesses hätte der Senat – worauf er ausdrücklich hinweist – unabhängig vom Vorliegen der Voraussetzungen des § 187 GVG unter dem Gesichtspunkt der bestmöglichen Verwirklichung des Anspruchs auf ein faires Verfahren (Artikel 6 EMRK) die Veranlassung einer Übersetzung erwogen, wobei er davon ausgeht, dass auch bereits die Kammer dies bei entsprechendem Vortrag getan hätte. Der lapidare Hinweis auf ein Begehren „genereller Art“, welches sich vermeintlich mit einem „rechtsstaatlichen Verständnis“ begründen ließe, wolle man den Verurteilten nicht nur als „Objekt der Strafverfolgung“ ansehen, gibt hierzu allerdings keine Veranlassung. Mag man zwar einen umfassenden Übersetzungsanspruch als wünschenswerten Idealzustand ansehen (vgl. hierzu Münchner Kommentar zur StPO, 1. Auflage 2018, § 187 GVG, Rn.30), so findet dieser allerdings in der gegenwärtigen und menschenrechtskonformen Rechtslage keine Grundlage. Für eine Vorlage an dem Europäischen Gerichtshof besteht daher offensichtlich keine Veranlassung.

16

Die Kostenentscheidung beruht auf § 473 Abs. 1 StPO.


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