Beschluss vom Oberlandesgericht Stuttgart - 4 Ws 10/2011; 4 Ws 10/11

Tenor

Auf die Beschwerde des Angeklagten wird der Beschluss des Landgerichts - Strafvollstreckungskammer- Tübingen vom 30. Dezember 2010

a u f g e h o b e n.

Die Sache wird zu neuer Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an die dafür zuständige … Strafkammer des Landgerichts …

z u r ü c k v e r w i e s e n.

Gründe

 
I.
Der Beschwerdeführer befindet sich seit … in Untersuchungshaft, zu deren Vollzug er … in der Außenstelle … der Justizvollzugsanstalt … untergebracht ist. Durch Urteil des Amtsgerichts … vom … wurde er u.a. wegen Wohnungseinbruchdiebstahls und Diebstahls mit Waffen zu einer Gesamtfreiheitsstrafe verurteilt. Auf die Berufung des Angeklagten und der Staatsanwaltschaft verurteilte das Landgericht … den Beschwerdeführer am 28. Januar 2011 erneut zu einer Gesamtfreiheitsstrafe. Gegen dieses Urteil hat der Angeklagte zwischenzeitlich Revision eingelegt.
Am 12. Januar 2010 beantragte der Angeklagte in einem Schreiben an das Amtsgericht … ihm Einzelseelsorge durch einen Seelsorger … zu ermöglichen, da er sich dem evangelischen oder katholischen Anstaltsseelsorger nicht anvertrauen wolle. Nach Weiterleitung des Schreibens an die … Justizvollzugsanstalt verfügte der dortige Vollzugsleiter … dies sei „aus vollzuglichen Gründen nicht möglich“.
Der Beschwerdeführer beantragte außerdem, in der Justizvollzugsanstalt einen Haarschnitt von einem qualifizierten Friseur und nicht - wie dort üblich - von einem Mitgefangenen ohne fachliche Ausbildung zu erhalten. Daraufhin erhielt er von der Anstalt am … die mündliche Mitteilung, dies sei nicht umsetzbar.
Mit Schreiben vom 20. Mai 2010 beantragte er unter Angabe des Aktenzeichens des Berufungsverfahrens beim Landgericht … eine gerichtliche Entscheidung des Inhalts,
- einen Haarschnitt nicht von einem Untersuchungsgefangenen ohne fachliche Ausbildung, sondern von einem qualifizierten Friseur zu erhalten und
- ihm Einzelseelsorge durch einen Seelsorger … ohne Anrechnung auf die sonstigen Besuchszeiten zu ermöglichen.
Mit Verfügung vom 25. Mai 2010 gab die Vorsitzende der Berufungskammer die Anträge des Angeklagten mit dem Hinweis, es handele sich um eine Strafvollzugssache, „zuständigkeitshalber“ an die Strafvollstreckungskammer beim Landgericht … ab.
In der von dieser eingeholten Stellungnahme trat die Justizvollzugsanstalt den Anträgen zunächst unter Hinweis auf die bisherige vollzugliche Praxis entgegen. Nach nochmaliger Nachfrage des Gerichts teilte die Leitung der Anstalt schließlich mit Schreiben vom 25. Oktober 2010 mit, seelsorgerische Einzelgespräche mit einem Vertreter … seien, soweit sie sich im üblichen Rahmen hielten, auch ohne Anrechnung auf die Besuchszeit möglich. Dem Gefangenen stehe es frei, auf eigene Kosten den Besuch durch einen externen Friseur zu organisieren. Eine Anrechnung auf die reguläre Besuchszeit finde nicht statt.
Der Beschwerdeführer wurde daraufhin von der Strafvollstreckungskammer zur Stellungnahme aufgefordert, ob er seine Anträge aufrecht erhalten oder für erledigt erklären wolle. Eine Reaktion darauf erfolgte nicht.
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Mit Beschluss vom 30. Dezember 2010, der dem Angeklagten am 10. Januar 2011 zugestellt wurde, wies das Landgericht - Strafvollstreckungskammer … den Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 20. Mai 2010 mangels Rechtsschutzbedürfnis als unzulässig zurück und legte dem Beschwerdeführer unter Hinweis auf § 121 Abs. 2 StVollzG die Kosten des Verfahrens auf. Die angefügte Rechtsmittelbelehrung nennt als zulässiges Rechtsmittel gegen die Sachentscheidung die Rechtsbeschwerde mit den in §§ 116 ff. StVollzG genannten Voraussetzungen. Zulässiges Rechtsmittel gegen die Kostenentscheidung sei die sofortige Beschwerde.
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Mit Schreiben vom 6. Januar 2011 an die Berufungskammer des Landgerichts … das mit „Antrag (gegebenenfalls Beschwerde)“ überschrieben ist, beantragte der Angeklagte, ihm für die am 12. Januar 2011 beginnende Berufungshauptverhandlung einen Haarschnitt durch einen Friseur zu gewähren. Mit weiterem Schreiben vom selben Tag stellte er den Antrag, durch einen Vertreter … seelsorgerisch betreut zu werden.
12 
Am 20. Januar 2011 legte die Strafvollstreckungskammer des Landgerichts … dem Oberlandesgericht die Akten zur Entscheidung über das Rechtsmittel des Antragstellers vom 6. Januar 2011 gegen den Beschluss vom 30. Dezember 2010 vor.
II.
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Das als Beschwerde gem. § 304 StPO zu qualifizierende Rechtsmittel des Angeklagten ist zulässig.
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1. Gegen den Beschluss des Landgerichts … vom 30. Dezember 2010 ist die (einfache) Beschwerde statthaft.
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Zwar hat die Strafvollstreckungskammer das Schreiben vom 30. Mai 2010 ausweislich des Rubrums, der Kostenentscheidung und der Rechtsmittelbelehrung als Antrag auf gerichtliche Entscheidung gem. §§ 109 ff. StVollzG behandelt. Wäre diese Einordnung zutreffend, hätte dies zur Folge, dass gegen den angefochtenen Beschluss die Rechtsbeschwerde gem. § 116 ff. StVollzG und gegen die Kostenentscheidung die (isolierte) sofortige Beschwerde statthafte Rechtsmittel wären. Die die Sache betreffenden Anträge des Beschwerdeführers vom 6. Januar 2011 müssten dann schon mangels Erfüllung der in § 118 StVollzG aufgestellten Form- und Begründungserfordernisse als unzulässig verworfen werden.
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Entgegen der Auffassung der Strafvollstreckungskammer handelt es sich bei den Schreiben des Beschuldigten vom 20. Mai 2010 jedoch um Anträge auf gerichtliche Entscheidung gem. § 119a Abs. 1 S. 1 StPO. Diese Regelung eröffnet ein Rechtsmittel gegen Entscheidungen der Justizvollzugsanstalten, die sich auf die Gestaltung des Untersuchungshaftvollzugs beziehen oder zur Gewährleistung von Sicherheit und Ordnung der Justizvollzugsanstalt getroffen werden. Zuständig für die Entscheidung über Anträge nach § 119a StPO ist vor Erhebung der öffentlichen Klage gem. § 126 Abs. 1 S. 1 StPO das Gericht, das den Haftbefehl erlassen hat. Nach Erhebung der öffentlichen Klage entscheidet gem. § 126 Abs. 2 StPO das Gericht, das mit der Sache befasst ist.
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Vorliegend hatte sich der Beschwerdeführer gegen die ablehnenden Entscheidungen der Justizvollzugsanstalt zu seinen Anträgen auf einen professionellen Haarschnitt und seelsorgerische Betreuung gewandt. Weil er sich in Untersuchungshaft befand, handelt es sich dabei nicht um „einzelne Angelegenheiten auf dem Gebiet des Strafvollzugs“ (§ 109 Abs. 1 StVollzG), sondern um Materien, die zur Gestaltung des Untersuchungshaftvollzugs gehören (vgl. §§ 1 Abs. 2, 22 JVollzGB II). Daher hätte nicht die Strafvollstreckungskammer, sondern die zum Zeitpunkt der Antragstellung gem. § 126 Abs. 2 StPO zuständige Berufungskammer des Landgerichts nach § 119a Abs. 1 StPO über den gerichtlichen Antrag entscheiden müssen.
18 
Das zulässige Rechtsmittel bestimmt sich nicht nach äußeren Umständen wie der Bezeichnung der angefochtenen Entscheidung, sondern nach deren sachlichem Gehalt. Maßgebend ist daher, welches Rechtsmittel das Verfahrensrecht für die Entscheidung vorsieht (BGHSt. 50, 180, 186). Dies bedeutet vorliegend, dass keine Rechtsbeschwerde nach §§ 116 ff. StVollzG, sondern eine einfache Beschwerde nach § 304 StPO das statthafte Rechtsmittel ist (s. Meyer-Goßner, a.a.O., § 119a Rn. 7), da sich - wie dargelegt - der Beschwerdeführer nicht in Strafhaft, sondern in Untersuchungshaft befindet.
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Auch darf der Betroffene hinsichtlich der Anfechtbarkeit der verfahrensrechtlich fehlerhaften Entscheidung nicht dadurch benachteiligt werden, dass seine Rechtsschutzmöglichkeiten gegen die Entscheidung des unzuständigen Gerichts auf die Einlegung der von diesem fehlerhaft für statthaft gehaltenen und an strengere Anforderungen gebundenen Rechtsmittel reduziert werden. Anders als die Rechtsbeschwerde (s. § 118 StVollzG) ist die (einfache) Beschwerde an keine Frist gebunden, verlangt keine besondere Antragstellung oder Begründung und kann schriftlich oder zu Protokoll der Geschäftsstelle eingelegt werden.
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Aus Billigkeitsgründen und zur Durchsetzung des Anspruchs auf effektiven Rechtsschutz gem. Art. 19 Abs. 4 GG steht dem Beschwerdeführer daher (auch) das Rechtsmittel zu, das zulässig wäre, wenn das zuständige Gericht entschieden hätte. Diese Lösung entspricht im Ergebnis dem im Zivilprozessrecht seit langem anerkannten Meistbegünstigungsgrundsatz, wonach ein Betroffener in allen Fällen inkorrekter Entscheidungen zur Vermeidung von Nachteilen alle in Betracht kommenden Rechtsbehelfe einlegen darf (vgl. dazu Heßler, in: Zöller, ZPO, 28. Aufl., vor § 511 Rn. 30).
21 
2. Auch wenn sich das Rechtsschutzziel bereits dadurch erledigt hat, dass die Justizvollzugsanstalt mit Schreiben vom 25. Oktober 2010 erklärt hat, den Anliegen des Beschwerdeführers vollständig Rechnung zu tragen, ist dieser dennoch beschwert. Die unmittelbare Beeinträchtigung seiner Rechte ergibt sich sowohl aus der abweisenden Entscheidung des unzuständigen Gerichts und als auch aus der ihn belastenden Kostenentscheidung.
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3. Dass der Beschwerdeführer gegen den Beschluss vom 30. Dezember 2010 Beschwerde eingelegt hat, obwohl er zu diesem Zeitpunkt mangels Zustellung noch keine Kenntnis von der Entscheidung hatte, steht der Zulässigkeit des Rechtsmittels nicht entgegen (BGHSt. 25, 49 ff.).
III.
23 
Die Beschwerde ist begründet und führt zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung an die zuständige … Strafkammer des Landgerichts …, da die Verfahrensweise des Landgerichts einen schweren Verfahrensverstoß darstellt.
24 
Zwar sieht § 309 Abs. 2 StPO vor, dass das Beschwerdegericht, das die Beschwerde für begründet erachtet, eine eigene Sachentscheidung trifft. Eine Zurückverweisung der Sache an das Erstgericht ist deshalb grundsätzlich nicht zulässig. Von diesem Grundsatz werden jedoch eng begrenzte Ausnahmen zugelassen. Insbesondere darf an das Ausgangsgericht zurückverwiesen werden, wenn ein so schwerer Verfahrensmangel vorliegt, dass nicht mehr von einer ordnungsgemäßen Justizgewährung gesprochen werden kann (Meyer-Goßner, a.a.O., § 309 Rn. 8).
25 
Dies ist hier der Fall. Die Vorsitzende der Berufungskammer hat zu Unrecht ihre Zuständigkeit verneint und die Sache ohne rechtliche Grundlage - quasi „hausintern“ - zur Entscheidung an die aus ihrer Sicht zuständige Strafvollstreckungskammer weitergegeben. Diese hat, offenbar ohne die Zuständigkeit selbst zu prüfen, das Verfahren nach den nicht einschlägigen Regelungen des §§ 109 ff. StVollzG durchgeführt und den Beschwerdeführer auf der Basis des nicht anwendbaren § 121 StVollzG mit Verfahrenskosten belastet. Zwar war, wie die Strafvollstreckungskammer zutreffend erkannt hat, während der Anhängigkeit prozessuale Überholung eingetreten. Bei ordnungsgemäßer Verfahrensführung hätte der Antrag auf gerichtliche Entscheidung aber von der zuständigen Berufungskammer durch Beschluss ohne Kostenentscheidung für erledigt erklärt werden müssen (Meyer-Goßner, a.a.O., vor § 296 Rn. 17).
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Da auch nach Einlegung der Revision die Berufungskammer des Landgerichts … für die nach § 119a Abs. 1 StPO zu treffende Entscheidung zuständig bleibt (§ 126 Abs. 2 S. 2 StPO), war die Sache zu erneuter Entscheidung über den Antrag an sie zurückzuverweisen.

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